PRUSSIA
Gesellschaft für Heimatkunde Ost- und
Westpreußen e.V.
Dr. Waltraud Loos
Kants Grabstätte
In seinem „Vorwort" zu dem Sonderheft der Sitzungsberichte, das zum 200.
Geburtstag Immanuel Kants am 22. April 1924 erschien, rühmt der
Prussia-Vorsitzende Professor Max Ebert den Königsberger Philosophen als einen
der „Überwinder des geschichtsfremden Rationalismus", ohne den „die Romantik und
die Wiedererweckung des deutschen Altertums nicht denkbar" gewesen wären. Somit
könne Kant auch als einer der (entfernteren) Ahnherrn der Prussia gelten: „Kant
steht am Anfang jener Epoche, der wie manche andere das Altertum erforschende
Gesellschaft auch die unsere ihr Entstehen verdankt. 1)
Nun waren zwar die „Ziele der Prussia", wie Ebert betont, keine
„philosophischen". Aber da sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „alles, was
irgend auf Land und Leute der Provinz Bezug hat, zu erforschen und zu bewahren",
lag es durchaus im Sinne ihrer Satzung, wenn sie an lokalhistorischen und
biographischen Untersuchungen Anteil nahm, die dem Verständnis von Kants
Persönlichkeit und Werk dienten oder die zu allgemeinen kulturgeschichtlichen
Erkenntnissen führen konnten. Dementsprechend findet man schon in den frühen
Jahrgängen der Prussia-Sitzungsberichte einige Beiträge zu diesen Themenkreisen,
die auch heute noch Interesse zu wecken vermögen.
Ein Beispiel bietet bereits der erste Band 1879/80, in dem unter dem Titel „Die
Grabstätte Kants" ein Vortrag des Professors Johann Wilhelm Heydeck, (eines
Lehrers an der Kunstakademie), abgedruckt ist, den dieser am 22.10.1880 vor den
Mitgliedern der Gesellschaft gehalten hatte. 2) Es ging darin um ein besonders
bewegtes „Kapitel" aus der wechselvollen Geschichte dieses Grabes, die einen
nicht unbedeutenden Teil der kulturellen Stadtgeschichte Königsbergs im 19. und
20. Jahrhundert ausmacht.
„Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf
einmal", hatte der 25jährige Dichter Jean Paul am 13. Juli 1788 an einen
befreundeten Pfarrer geschrieben und ihm dringend empfohlen, sich unverzüglich
Kants neu erschienene Bücher zu kaufen. 3) Daß in ihrer Stadt ein Weltweiser von
unvergleichlichem Rang lebte, war auch der Königsberger Bürgerschaft bewußt. Als
Kant am 12. Februar 1804 starb und in seinem Haus aufgebahrt wurde, trauerte die
ganze Stadt um ihn. „Es begann nun eine Reihe von Tagen hindurch eine förmliche
Wallfahrt von Vornehm und Gering, vom frühen Morgen bis zum Abenddunkel: jeder
wollte den berühmten Philosophen noch einmal sehen, manche kamen sogar mehrmals
wieder." „Ein so großartiges Leichenbegängnis", wie es dann am 28. Februar
stattfand, „hatte Königsberg noch nicht gesehen." „Der Trauerzug nahm, unter dem
Geläute sämtlicher Glocken der Stadt, seinen Anfang vom Sterbehause . . ." Es
schlossen sich .,die höheren Beamten, darunter der Gouverneur von Preußen,
General von Brünneck, die Geistlichen, viele Offizieren, Deputierte der
Kaufmannschaft und zahlreiche andere angesehene Männer an: jedoch alle, dem
demokratischen Sinne des Verstorbenen entsprechend, ohne alle Rangordnung." 4)
Zwölf Studenten trugen den Sarg zu der traditionellen Begräbnisstätte der
Professoren, einem etwa -10 m langen gotischen Gewölbe, das im 16. Jahrhundert
(1587) an der Nordseite des Domchors errichtet worden war.5) Dort wurde der Sarg
„dem Sinne des Verstorbenen gemäß - ohne weitere kirchliche Zeremonien im
Beisein der Professorenschaft in die ihm bestimmte Gruft gesenkt 6)
Bereits wenige Jahre nach Kants Begräbnis beschlossen die städtischen Behörden
jedoch, weitere Bestattungen in dem Dom-Anbau, wie überhaupt im Stadtgebiet,
nicht mehr zuzulassen. Dadurch schien die fortdauernde Erhaltung des Gewölbes
und der dort befindlichen Gräber gefährdet. Einige Freunde Kants, unter ihnen
der Kriegsrat Johann George Scheffner und der Buchhändler Matthias Friedrich
Nicolovius, taten sich daher zusammen, um Kant auf Dauer eine würdige Ruhestätte
zu verschaffen: Scheffner entwarf einen Plan, nach welchem das Gewölbe zu einer
Wandelhalle umgestaltet \\ erden sollte, an deren östlichem Ende ein kleiner
abgeschlossener Raum, eine Art Kapelle, dem Andenken Kants gewidmet war.
Der Umbau wurde nach diesem Plan, finanziert von Spendern, in den Jahren 1809/10
ausgeführt und Kants Sarg am östlichen Ende des Bauwerks erneut beigesetzt. Der
schlichte Gedenkraum war im Stil der frühen Neugotik mit geometrischen
Formelementen sparsam ausgestattet, in einer Nische hinter der Grabstätte stand
auf einem Sockel die Büste Immanuel Kants, die Carl Friedrich Hagemann, ein
hochbegabter Schüler Johann Gottfried Schadows, 1801 angefertigt hatte. Die
Wandelhalle erhielt den Namen „Stoa Kantiana"; sie sollte zu einem zwanglosen
Beisammensein von Professoren und Studenten einladen.
Immanuel Kant, Stich von Meno Haas, 1796
Kants Grabkapelle an der „Stoa Kantiana", 1810
An Kants Geburtstag, dem 22.4.1810, fand die Feier zur Einweihung des Bauwerks
statt. Die Gedenkrede des Kant-Nachfolgers Prof. J. Fr. Herbart wurde von
Nicolovius in einer kleinen Broschüre veröffentlicht, zusammen mit einer
Abbildung der Grabkammer und einem Porträt Kants. 7)
Diese Ruhestätte blieb bis 1880 bestehen. Allerdings waren Wandelhalle und
Grabkammer in den 70 Jahren seit dem Umbau durch Vernachlässigung arg verfallen;
die Büste hatte man schon 1820 entfernt und durch ein Kopie ersetzt. Mit der
Verlegung der Universität zum Königsgarten/Paradeplatz ging schließlich auch die
über Jahrhunderte andauernde, räumliche Verbindung zwischen Dom und Universität
zu Ende.
Kants Freunde waren inzwischen längst nicht mehr am Leben, und die aus ihrem
Kreis hervorgegangene „Gesellschaft der Freunde Kants" widmete sich zwar
pietätvoll dem Andenken Kants, sah sich aber offenbar lange Zeit nicht in der
Lage, dem Verfall der Grabstätte entgegenzuwirken. Erst im Jahre 1871 wurde
aufgrund einer Initiative der Kant-Freunde ein Komitee zur Wiederherstellung der
Begräbnisstätte Kants gegründet. Baurat Paarmann, ein Mitglied dieses Komitees,
erarbeitete einen Plan, der nicht nur eine Restaurierung, sondern eine völlige
Neugestaltung der Grab-Kapelle vorsah. Im Laufe des Jahres 1880 wurde dieser
Plan ausgeführt, und am östlichen Ende des „Gewölbes" entstand nun eine neue
Kapelle dem Zeitgeschmack entsprechend - im fortentwickelten neugotischen Stil
errichtet. 8) Nachdem das neue Bauwerk im wesentlichen fertiggestellt war, galt
es, entsprechend der Planung des Komitees, die Überreste Kants zu suchen, zu
exhumieren, in einem doppelten Metallsarg zu bergen und alsdann in einer
ausgemauerten Gruft beizusetzen.
An diesen Vorhaben war Professor Johann Wilhelm Heydeck, der dem Vorstand der
Prussia-Gesellschaft angehörte, in leitender Funktion beteiligt. Auf der
regulären Versammlung der Prussia am 22.10.1880 nahm er die Gelegenheit wahr,
die Mitglieder der Gesellschaft aus erster Hand über die Geschehnisse zu
informieren; und dieser Vortrag wurde, wie oben erwähnt, im ersten Band der
Prussia-Sitzungsberichte (1879/80) abgedruckt. 9)
Heydeck berichtete, wie am 22. Juni 1880 eine Kommission von 11 Honoratioren
unter seiner Leitung zusammengetreten war, um die Exhumierung vorzunehmen;
darunter befanden sich Professor Kupffer, der Leiter der Königlichen Anatomie,
und zwei weitere Ärzte. Daß die Leitung einem Kunstprofessor oblag, mag heute
verwundern. Immerhin hatte Heydeck aber bei vorgeschichtlichen
Prussia-Ausgrabungen schon Erfahrungen mit der Bergung von Überresten
Verstorbener erwerben können.
Dramatischer Höhepunkt der Exhumierung Kants: Pro£ J.W. Heydeck, in der Gruft
stehend, hebt den Schädel empor
(Nach der von Heydeck selbst angefertigten Kreidezeichnung )
Zunächst mußten jedoch die Gebeine ausfindig gemacht werden, und obwohl über die
Beisetzung von 1804 bzw. 1810 keine exakten Berichte vorlagen, gelang es
Heydeck, den richtigen Platz nach Überwindung einiger Schwierigkeiten
herauszufinden. An der aufgegrabenen Stelle gab es zwar keine Särge mehr - die
waren längst zerfallen; man fand aber zwei Skelette von älteren Männern, die
etwa von gleicher Größe gewesen sein mußten. Eine metallene Tafel mit einer
Inschrift bestätigte die Fundstelle, und nach genauerer Untersuchung und
Vergleich mit Porträts und der Totenmaske konnte Heydeck das tiefer gelegene,
als zweites gefundene Skelett als das gesuchte identifizieren. Es war noch gut
erhalten, besonders der Schädel. Heydeck ließ davon einen Abguß fertigen und gab
ihn zu anthropologischen Untersuchungen nach Berlin weiter.
Heydeck schloß seinen Vortrag mit der Beschreibung einiger Eigentümlichkeiten
von Skelett und Schädel und versuchte zu klären, welche Bedeutung diese
Besonderheiten für die äußere Erscheinung des Philosophen gehabt haben könnten.
„Obgleich der Kopf durch seine Breite etwas groß erscheint, wird dennoch das
Gesicht ... sicher einen zum Körper proportionierten und feinen Eindruck gemacht
haben. Denkt man sich nun noch dazu die großen blauen ausdrucksvollen Augen, wie
sie auf einem guten, nach dem Leben gemalten Portrait, welches hier der
Todtenkopfloge gehört 11), zu sehn sind, so ist es sehr zu bedauern, wie wenig
vortheilhaft andere ältere Portraits und neuere Darstellungen den großen
Philosophen erscheinen lassen."
Am Totensonntag 1881, dem 21. November, wurden Kants Gebeine in der neuen
Kapelle wieder beigesetzt; sie stand seit dem 9.6.1881 in der Obhut der
städtischen Behörden.
Über die Untersuchungen des Schädels konnte sich die wissenschaftliche
Öffentlichkeit durch Abhandlungen im Archiv für Anthropologie und in der
Altpreußischen Monatsschrift unterrichten Den Höhepunkt der Exhumierung - die
Bergung des Schädels hielt Heydeck in einer Kreidezeichnung fest. 12)
Immanuel Kant, Stich von J .L Raab, nach dem Gemälde von
Gottfried Döbler (1791) im Besitz der Totenkopfloge.
Nun hatte Kant zwar
seine endgültige Ruhestätte gefunden, doch dem neuen Bauwerk war es ebenfalls
nicht beschieden, die bleibende Gedenkstätte Kants zu sein. Das daran
angrenzende alte Wandelhallen-Gewölbe erwies sich als baufällig und mußte 1898
abgebrochen werden. Die Grabkammer blieb vorerst bestehen, war aber zunehmend
umstritten. In einem Bericht über einen Grabbesuch am 22. April 1897 wird zwar
der „geweihte kapellenartige Raum" noch stimmungsvoll beschrieben: „Es ist kein
düsterer großartiger Ort, welcher uns dort umfängt; hell flutet das Licht
hinein... Der ganze Raum misst nur wenige Quadratmeter im Umfange und macht in
seiner Einfachheit einen die Seele zur Andacht stimmenden Eindruck. Man wandelt
dort über den Gebeinen des Weltweisen, der nie unsere Vaterstadt verlassen und
doch der Menschheit des ganze Erdkreises die Gesetze des sittlichen Daseins mit
ehernem Griffel vorgeschrieben hat..."13) Adolf Boetticher hingegen, der im
Auftrage des Ostpreußischen Provinzial-Landtages die „Bau- und Kunstdenkmäler in
Königsberg" bearbeitete, äußerte sich im gleichen Jahr abfällig über die
„gotisch sein sollende" Grabkapelle Kants. 14) Wenige Jahre später fiel sogar
das Wort vom „Kampf um Kants Grab in Königsberg". Der Magistrat wies in einem
Antrag vom 3. Dezember 1907 an die Stadtverordneten-Versammlung auf die
„baulichen Mängel sowie die wenig befriedigenden Bauformen der Gruftkapelle und
ihren ungünstigen Anschluss an den Dom" hin und schlug vor, das Bauwerk
abzureißen und für Kant eine Grabstätte im Chor des Doms zu schaffen. Dieser
Antrag wurde jedoch nach turbulenter Debatte abgelehnt. 15)
In den folgenden Jahren geschah nichts, und die Grabkapelle verfiel weiter. Das
war für die (wissenschaftliche) Kant-Gesellschaft ein Anlaß, sich ihrerseits mit
dem Problem auseinander zu setzen. In den „KantStudien" von 1914 behandelte der
Schriftleiter Ludwig Goldstein ausführlich die Geschichte und Beschaffenheit der
Grabstätte Kants. Nach dem Zeugnis des Provinzialkonservators Baurat Dethlefsen
sei die „Kapelle" nicht nur baufällig, sondern wegen der unzureichenden
Fundamente auch eine Gefahr für den Dom Geradezu vernichtend fiel Goldsteins
Urteil über die künstlerische Qualität des „Häuschens" aus: man habe es mit
Wellblech gedeckt, was als eine unnatürliche Deckung eines Ziegelbaus anzusehen
sei; für die „Theatergotik" des Bauwerks sei es „bezeichnend, dass man diese
letzte Zuflucht eines Philosophen, der für den ewigen Frieden geschrieben hat,
mit wehrhaften Burgzinnen ausstatten zu müssen glaubte". Das Interieur erschien
dem Verfasser ideenlos und dürftig: es zeuge mehr von Unkultur als von
Schlichtheit; die künstlerische Ausstattung beschränke sich auf ein paar Kopien:
eine Nachbildung der Hagemannschen Kant-Büste und eine ,Grisaille` nach Raffaels
,Schule von Athen' an der Rückwand, während an der gegenüberliegenden Wand „in
der Goldschrift eines wackeren Malermeisters das bekannte Wort aus dem Schluss
der praktischen Vernunft" zu lesen sei.
Ludwig Goldstein war ebenso wie die „Gesellschaft der Freunde Kants" der
Meinung, daß es nicht angebracht sei, Kant eine Grabstätte im Dom zu verschaffen
„Er gehört nicht in der Kirchen ehrwürdige Nacht, er gehört unter die freie
Sonne, die allen leuchtet, er gehört unter den Himmel selbst. Denn sein Ideal
war nicht eine bestimmte Kirche; sein Ideal war die eine große, allgemeine,
unsichtbare Kirche." hatte schon früher der Königsberger Professor O.
Schöndörffer, mit poetischen Anklängen an Goethe und Fontane, verkündet. „Wir
begraben heute nicht den Kant von 1804, den weithin berühmten Königsberger
Professor, sondern wir begraben eine Weltgrösse, einen Mann, der nicht nur eine
neue Epoche in der Philosophie eröffnet hat, sondern welcher der Begründer einer
neuen Kultur, einer wahren Kultur ist, die nicht auf neuen Erfindungen und
vervollkommneter Technik ruht, sondern auf der dem Menschen innewohnenden
Vernunft 17)
Aber erst als das große Kant-Jubiläum 1924 herannahte, konnten sich die
zuständigen Königsberger Gremien entschließen, die Kapelle abzubrechen und für
Kant ein neues Monument zu errichten, das an der bisherigen Stelle, das heißt an
der Nordseite des Domchors, seinen Platz finden sollte. Aus einem Wettbewerb, an
dem sich mehrere ostpreußische Architekten und Bildhauer beteiligten, ging
Friedrich Lahrs, Professor an der Königsberger Kunstakademie, als Sieger hervor.
18)
Sein Entwurf sah eine offene Halle mit schlanken Pfeilern vor, im Farbton dem
gotischen Kirchenbau angepaßt, dazu einen steinernen Sarkophag längs der
Dom-Mauer, darüber die Inschrift „Immanuel Kant` und die Lebensdaten „1724 -
1804". Der Sarg war ein „Kenotaph", die Gebeine Kants ließ man in der Gruft
liegen, wo sie 1881 beigesetzt worden waren.
Das neue Denkmal, gestiftet wiederum von privater Seite, vornehmlich von dem
Industriellen Hugo Stinnes, fand allgemeine Anerkennung. Es überdauerte die
Zerstörung des Doms durch die Luftangriffe im August 1944 und die
Nachkriegszeit. Die sowjetischen Behörden ließen es bestehen, und die Existenz
dieses Grabmals bewahrte sogar die Dom-Ruine vor der schon geplanten Sprengung.
Als ein verpflichtendes Mahnmal, das an die unlösbare Zusammengehörigkeit von
Kant und Königsberg erinnert, wurde das Monument im Lauf der Jahre zur Stätte
eines neuen Kant-Gedenkens von Bürgern und Gästen der Stadt oft besucht und
regelmäßig mit Blumen geschmückt.
Kant-Grabmal an der Nordseite des Dornchors 1924
Mit dem Gedenkjahr
1974 setzte an der Universität eine Kant-Rezeption ein, die zur Gründung einer
Kaliningrader Schule der Kant-Forschung (mit fachspezifischen Kongressen und der
Edition jährlicher Kant-Sammelbände) führte; ein Kant-Museum wurde im gleichen
Jahre eröffnet. 19) Heute stellt das Grabmal wieder ein Wahrzeichen der Stadt
Königsberg/Kaliningrad, dar, wo die nachgewachsene Generation zunehmend eine
Orientierung an dem großen deutschen Philosophen und seiner Ethik sucht, nachdem
die von der kommunistischen Partei aufgezwungene, angeblich „wissenschaftliche"
Ideologie des „dialektischen Materialismus" (= Marxismus-Leninismus) endgültig
zusammengebrochen ist.
Was die Kenntnis von Kants sterblichen Überresten betrifft, so hat Prof. Karl
Heinrich Clasen im Gedenkjahr 1924 den Abguß des Schädels ebenso wie die
Totenmaske als „wertvolle Reliquien" in seine Sammlung der authentischen
Kant-Porträts aufgenommen. 20) Während die Totenmaske die durch Alter und
Krankheit hervorgerufene Entstellung schonungslos wiedergibt, läßt der Schädel
die schon zu Kants Lebzeiten bemerkbare, weit ausladende Gestalt - nunmehr von
rasch vergänglicher Materie befreit - eindrucksvoll sichtbar werden. Clasen, der
sonst die Bildnisse minutiös beschreibt, geht hier nicht näher auf die
Besonderheiten der Form ein, sondern verweist nur auf die wissenschaftlichen
Untersuchungen aus dem Jahre 1880/81. 21)
So aufschlußreich die Ergebnisse solcher anthropologischen Untersuchungen auch
sein mögen - eine Sinndeutung kann der Betrachter dieses letzten „Porträts" wohl
eher durch die Erinnerung an Goethes berühmtes Gedicht finden, das 1826, in
einer ähnlichen Situation, entstanden ist: Ein Jahr später als Kant war Schiller
gestorben (1805) und im „Kassengewölbe" des Weimarer Jacobi-Friedhofs beigesetzt
worden. Da diese Anlage sich nach zwanzig Jahren als unzulänglich erwies, wollte
man 1826/27 dem Dichter - ähnlich wie später in Königsberg dem Philosophen -
eine würdige Grabstätte auf Dauer bereiten. Nach der Exhumierung der Gebeine
bewahrte Goethe für einige Zeit den Schädel Schillers in seinem Hause auf. 22)
Goethe hatte sich seit längerem mit osteologischen Studien befaßt und seine
Erkenntnisse einmal in dem Satz zusammengefaßt: „Höchst merkwürdig ist, daß von
dem menschlichen Wesen das Entgegengesetzte übrigbleibt: Gehäus und Gerüst,
worin und womit sich der Geist hienieden genügte, sodann aber die idealen
Wirkungen, die in Wort und Tat von ihm ausgingen". 23) Diese Erkenntnis wird zum
Leitgedanken des Gedichts „Im ernsten Beinhaus war's ...". Hier kommt nicht nur
die Ehrfurcht zum Ausdruck, die der Dichter beim Anblick der „Reliquien" des
Freundes empfand, sondern auch die Bewunderung, die Goethe der von der Natur
bewirkten, geheimnisvollen Korrespondenz von Form und Geist entgegenbrachte.
Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten,
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
Und in die freie
Luft zu freien Sinnen,
Zum Sonnenlicht
andächtig hin mich wendend.
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich
Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste
läßt zu Geist verrinnen
Wie sie das
Geisterzeugte frei bewahre.
Man darf sich wohl vorstellen, daß diese Verse auch dem großen Philosophen und
Zeitgenossen Schillers hätten zugedacht sein können.
Anmerkungen:
1. Sitzungsberichte der Altertumsgesellschaft Prussia, 25. Heft, Königsberg
1924, S. 5. - Das Heft war dem Andenken Adalbert Bezzenbergers, des langjährigen
Vorsitzenden der Prussia (1891 -1916) gewidmet, der am 11.10.1922 verstorben war
2. Sitzungsberichte der Alterthumsgesellschaft Prussia zu Königsberg in Pr. im
36. Vereinsjahre. November 1879 - 1880. S.119 122.
3. Trunz, Erich: Weltbild und Dichtung im Zeitalter Goethes.
Weimar 1993, S. 110
4. Vorländer, K., 1977, S. 334 ff.
5. Zu Kants Totenehrung und Begräbnis vgl. Gause, Fritz/ Lebuhn,
Jürgen, S. 184 f£; Krockow, Christian Graf von, S. 175 - 204
6. Vorländer, K., 1977, S. 337
7. Immanuel Kants Gedächtnisfeyer zu Königsberg am 22sten April 1810. Königsberg
bey Friedrich Nicolovius, 1811. - In seiner autobiographischer Schrift „Mein
Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben.", Leipzig
1816/1823. schildert Scheffner, wie die Umbettung Kants geplant und durchgeführt
wurde. Vgl. Vorländer/Malter, 1974, „Quellentexte" S. 230 - 233
8. Abbildung des Interieurs dieser Kapelle: Gause 1974, 5.176 und Gause/Lebuhn,
S. 226
9. Anm. 2 - Vgl. auch: Paul Stettiner in: Sitzungsberichte 1896
-1900, S. 196 ff.
10. Heydeck nennt in seinem Vortrag 11- Mitglieder des Komitees,. Diese Angabe
findet man auch in den Abhandlungen von Bessel Hagen in der „Altpreußischen
Monatsschrift", 1880 und von Kupffer/Bessel Hagen im „Archiv für Anthropologie"
1881 (s. Anm. 21). Nach dem Ausgrabungs-Protokoll waren aber 14 Personen
beteiligt: an erster Stelle ist der Oberlehrer Carl Witt genannt, der dem
Komitee zur Wiederherstellung der Grabstätte Kants vorstand; die Arbeiten
dauerten vom 22.- 24.6.1880 (vgl. Mühlpfordt, Das Ostpreußenblatt, 13.2.1999)
11. Im Besitz der „Totenkopfloge" befand sich das 1791 entstandene Gemälde von
G.Döbler, das Kant sitzend neben seinem Schreibtisch zeigt und als eines der
besten Kant-Portäts gilt.
12. Auf dieser Zeichnung ist Professor Heydeck selbst als die Person
dargestellt, die den Schädel aus der Gruft emporhebt. Auf Beschluß des
Ausgrabungskomitees wurde nach der Zeichnung ein Kupferstich angefertigt, von
dem sich ein Exemplar im Kantzimmer des Stadtgeschichtlichen Museums in
Königberg befand. (s. Mühlpfordt, Das Ostpreußenblatt, 13.2.1999) - Eine
Reproduktion der Zeichnung (Radierung) ist heute im Kant-Museum im Dom zu
Königsberg/Kaliningrad vorhanden.; (Königsberger Express, 2/2001: „Kant: Nach
dem Tod", S. 20; der Artikel stützt sich auf Materialien aus dem Archiv des
Kant-Museums im Königsberger Dom)
13. Aus: „Mitteilungen" in Kant-Studien 2, 1898, S. 375 f. Die Darstellung ist
aus der „Königsberger Allgemeinen Zeitung" übernommen.
14. Adolf Boetticher, S. 344
15. „Mitteilungen" in Kant-Studien 13, 1908, S. 167 ff. (H. Vaihinger).
16. Ludwig Goldstein: „Kants Grabstätte". Kant-Studien 19, 1914, S. 285 - 291. -
„Grisaille" = Ausführung eines Gemäldes in Grau-Tönen. - Das „bekannte Wort" aus
dem „Beschluß" von Kants „Kritik der praktischen Vernunft" lautet: „Zwei Dinge
erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je
öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte
Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir". Nur der letzte Teil dieses
Satzes („Der bestirnte Himmel ..." ) war an der Wand angebracht.
17. S.Anm. 16, a.a.0. S. 289; Anklänge an Goethe, Faust I, Vers 927 („Denn sie
sind selber auferstanden .... aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht...") , sowie an
Theodor Fontane: „Wo Bismarck liegen soll." („Nicht in Dom oder Fürstengruft, Er
ruh` in Gottes freier Luft...")
18. A.Liebert: „Kants Grab", in: Kant-Studien 28, 1923 („Mitteilungen")
19. Das Kant-Museum im Universitätsgebäude bestand - von Olga Krupina betreut -
bis 1996. Am 22.4.1998 wurde im Nordturm des Doms ein neues Kant-Museum
eröffnet, das sich über mehrere Stockwerke erstreckt. Inzwischen gibt es in der
Universität eine weitere Kant-Ausstellung und -Gedenkstätte.
20. Karl Heinrich Clasen, S. 27 und 29 - Ein Abguß der seinerzeit von Prof.
Andreas Knorre abgenommenen Totenmaske ist im Anatomischen Institut der Berliner
Charité erhalten geblieben, wie Heinrich Lange herausfand („Ostpreußenblatt"
6/1999 S. 13; vgl. auch H.Lange in „Berliner LeseZeichen" 12/00 und Lothar
Müller in FAZ, 24.2.1999 S. N 5) - Über das Exemplar in Dorpat/Tartu berichtet
Rudolf Malter in „KantStudien", Bd. 74, 1983 S. 484 ff.
21. Die Ergebnisse der Untersuchung von Kants Schädel veröffentlichten Prof. C.
Kupffer und sein Schüler F.Bessel Hagen im „Archiv für Anthropologie", Bd. XIII,
4, August 1881, S. 359 410. Sie stellten u.a. fest:, daß die Schädelkapsel
allseitig abgerundet und nach Umfang und Kapazität (mit 1740 ccm) besonders groß
war. Vgl. Vorländer K., 1977, S. 335
22. Hamburger Goethe-Ausgabe, Bd. 1, S. 726 ff. - Vgl. auch Albrecht Schöne:
„Ein herrlich edler Kern in dürrer Schale". Rede zum 250jährigen Bestehen der
Göttinger Akademie der Wissenschaften. FAZ 7.12.2001, S. 46 - Albrecht Schöne:
Schillers Schädel, München 2002
23. Aus: Maximen und Reflexionen", ebd., Bd. 12, S. 514
24. Ebd., Bd. 1, S. 366 £
Zu den Abbildungen:
S.163: Der Stich des Berliner Künstlers Meno Haas - wohl um 1796
entstanden - findet sich als Titelkupfer im Zweiten Band der „Jahrbücher der
Preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms 111." 1799.
Bildgröße 7 : 8,5 cm. - Nach K. H. Clasen (S. 21 f£) liegt dem Stich eine
Zeichnung der Elisabeth von Stägemann zugrunde, welche sie aber nicht nach dem
Leben, sondern nach einer Miniatur von C. Verriet anfertigte. Elisabeth von
Stägemann (1761- 1835), die Gattin des (in Königsberg, später in Berlin tätigen)
preußischen Staatsmanns und Dichters Friedrich August von Stägemann, war eine
geistvolle, künstlerisch hoch begabte Frau, in deren Salon auf dem
Hinterroßgarten Kant ein gern gesehener Gast war. E. Stägemann nahm an der
Vernetschen Vorlage einige kleine Veränderungen vor, wobei es ihr darauf ankam,
ein „geistiges Porträt" zu gestalten. „Der Kopf .... wird dem Beschauer mit den
oft gerühmten, gütig strahlenden Augen voll zugewendet. Es bleibt erstaunlich,
wie menschlich vertieft die Züge um Mund und Auge hier wirken, obwohl sie in
ihrem Verlauf kaum von der Vernetschen Vorlage abweichen". (Clasen, S. 22) Kant
hatte zu den Bildnissen der E. Stägemann einmal geäußert: „Der Geist des
Dargestellten spricht uns daraus an". (ebd. S. 23)
Die Abbildung wurde übernommen aus der „Kant-Ikonographie" der
Kant-Forschungsstelle der Universität Mainz.
S. 164: Die Abbildung ist entnommen aus „Immanuel Kants Gedächtnisfeyer
zu Königsberg am 22sten April 1810"; sie stellt nach einer Kant-Miniatur von C.
Verriet - den zweiten Titelkupfer des Hefts dar (gestochen von F.A.Brückner).
Zu der abgebildeten Grabkapelle heißt es: Längs der Domkirche „läuft ein hohes
Gothisches Gewölbe ... jetzt, da Niemand mehr innerhalb der Stadt begraben wird,
ist es ... zu einer offenen Halle eingerichtet worden ... Am rechten Ende der
Gothischen Halle, gegen Morgen, ruhn die Gebeine des Unsterblichen. Dieser Theil
ward abgeschlagen, als Kapelle, in welcher die dankbare Verehrung ihr Opfer
hinstellen wollte." (S. IV f.)
S.166: Holzschnitt nach der Kreidezeichnung von Professor Johann Wilhelm
Heydeck. (vgl. Anm. 12) - Foto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin
S.168: Das Gemälde im Besitz der Totenkopfloge zu Königsberg, auf das
sich Heydeck hier bezieht, ist von dem Maler Gottfried Döbler - wahrscheinlich
während einer Reise durch Königsberg - angefertigt worden. Es zeigt Kant sitzend
am Schreibtisch, in etwas unter halber Lebensgröße, und gilt als eines der
besten KantPorträts. Über den Maler ist nichts Näheres bekannt. Vgl. Clasen S.
18 f. - Die Abbildung des Stichs von J. L. Raab wurde aus der KantIkonographie
in Mainz übernommen (vgl. Anm. zu Abb. S. 163)
S. 171: Abbildung des Grabmals: Postkarte, um 1930
Literatur:
Albinus, Robert: Lexikon der Stadt Königsberg Pr. und Umgebung. z. Aufl. Leer
1988
Anderson, Eduard: Das Kantzimmer im Stadtgeschichtlichen Museum. Königsberg 1936
Bessel Hagen, F.: Die Grabstätte Immanuel Kants mit besonderer Rücksicht auf die
Ausgrabung und Wiederbestattung seiner Gebeine im Jahr 1880. Altpreußische
Monatsschrift, Bd. 17, 1880, S. 641-670
Boetticher, Adolf: Die Bau- und Kunstdenkmäler in Königsberg. Königsberg 1897
(Unveränderter Nachruck: Frankfurt a. M. 1983)
Clasen, Karl Heinrich: Kant-Bildnisse. Mit Unterstützung der Stadt Königsberg
herausgegeben von der Königsberger Ortsgruppe der KantGesellschaft. Königsberg
1924
Gause, Fritz: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. Bd. 1 - 3. Köln (u.a.)
1965 - 1971
Gause, Fritz: Kant und Königsberg. Ein Buch der Erinnerung an Kants 250.
Geburtstag am 22. April 1974. Leer 1974
Gause, Fritz/Lebuhn, Jürgen: Kant und Königsberg bis heute. Leer 1989
Gause, Fritz: Königsberg in Preußen. Die Geschichte einer europäischen Stadt.
Leer 1987
Gulyga, Arsenij: Immanuel Kant. Frankfurt a. M. 1981
Immanuel Kants Gedächtnisfeyer zu Königsberg am 22sten April 1810. Mit einem
Kupfer und dem Bildnisse Kants. Königsberg bey Friedrich Nicolovius, 1811
(Nachdruck: Amsterdam 1969)
Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft. 1896 ff.
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Kupffer C. und Bessel Hagen F.: Der Schädel Immanuel Kant's. Archiv für
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Mühlpfordt, Herbert M.: Ewige Ruhe am Dom. Zum 195. Todestag von Immanuel Kant.
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Sitzungsberichte der Alterthumsgesellschaft Prussia zu Königsberg in Pr.
Königsberg 1879/80 ff. im 36. Vereinsjahr. November 1879 - 1880.
Vorländer, Karl: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. z. Aufl. Hamburg 1977 (1.
Aufl. 1924)
Vorländer, Karl: Immanuel Kants Leben. 1. Aufl. 1911. Neu herausgegeben von
Rudolf Malter. Hamburg 1974
Weis, Norbert: Königsberg. Immanuel Kant und seine Stadt. Braunschweig 1993
Dieser Beitrag ist
Teil der Veröffentlichungen der Gesellschaft für
Heimatkunde Ost- und Westpreußens
www.prussia-koenigsberg.de
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