Offener Brief der atomkritischen Verbände an die führenden Repräsentanten Deutschlands

Berlin, 9. Oktober. 2001


Vorrang für Gesundheits- und Eigentumsschutz der Bevölkerung

Ein Widerruf der Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke ist atom- und verfassungsrechtlich geboten

An
Herrn Dr. h.c. Johannes Rau

Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Schloß Bellevue
Spreeweg 1
10557 Berlin

Herrn Gerhard Schröder
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Bundeskanzleramt
Willy-Brandt Str. 1
10557 Berlin

Herrn Wolfgang Thierse
Präsident des Deutschen Bundestages Platz der Republik
11011 Berlin

Herrn Kurt Beck
Präsident des Bundesrates Bundesrat
11055 Berlin

Frau Prof. Dr. Dr. h.c. Jutta Limbach
Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Schloßbezirk 3
76131 Karlsruhe


Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
Sehr geehrte Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts,

die Terroranschläge in New York und Washington haben in dramatischer Weise deutlich gemacht, dass bisher als äußerst unwahrscheinlich eingestufte Risiken brutale Wirklichkeit werden können. Daher muss nach dem 11. September neu über die Gefährdung von Atomanlagen und Zwischenlagern nachgedacht werden. Bei einem Super-GAU im dichtbesiedelten Deutschland rechnet das Bundesumweltministerium damit, dass zwischen mehreren hunderttausend und 4,8 Millionen Menschen ihr Leben verlieren würden.

Die Betriebsgenehmigungen der deutschen Atomkraftwerke müssen angesichts des Risikos von Flugzeugabstürzen und Terroranschlägen aus verfassungsrechtlichen Gründen widerrufen werden. Denn das Bundesverfassungsgericht verlangt im „Kalkar-Urteil" von 1978 eine „bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge". Die Betriebsgenehmigungen stehen zur Disposition, wenn ein konkret denkbares Unfallszenario „durch das technisch gegenwärtig Machbare" nicht auszuschließen ist. Als Restrisiko akzeptiert das Bundesverfassungsgericht lediglich rein hypothetische, konkret nicht vorstellbare Unfallabläufe.

Das Atomgesetz sieht in § 17 Absatz 5 einen Widerruf von Genehmigungen vor, "wenn dies wegen einer erheblichen Gefährdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit erforderlich ist und nicht durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann."

Weiterhin verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die Atomkraftwerke dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen müssen. In einem internen Rechtsgutachten aus dem Jahre 1999 kommt das Bundesumweltministerium aber zu dem Ergebnis, dass selbst die neuesten deutschen Atomkraftwerke nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen. Begründet wird dies mit der Atomgesetz-Novelle von 1994, in der die laufenden Atomkraftwerke von verschärften Sicherheitsanforderungen für Neuanlagen explizit ausgenommen werden.

Im Kalkar-Urteil heißt es weiterhin, dass bei der Art und Schwere der Folgen eines Atomunfalls „bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit" seines Eintritts genügen muss, um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers „konkret auszulösen". Nach offiziellen Studien kommt es aber mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 bis 2 Prozent zum Super-GAU in Deutschland. Dies ist alles andere als eine „entfernte Wahrscheinlichkeit".

Auch das ungelöste Atommüllproblem zwingt rechtlich zum Widerruf der Betriebsgeneh-migun-gen der Atomkraftwerke. Nach dem Atomgesetz müssen die Atomkraftwerksbetreiber ihren Atommüll entweder „schadlos verwerten" oder „geordnet beseitigen". Da aber selbst nach der Beurteilung durch das Bundesumweltministerium die Wiederaufarbeitung keine schadlose Verwertung ist und die rechtlich geforderten „Fortschritte bei der Endlagerung" nicht erzielt worden sind, zwingt das Atomgesetz wie auch die Verfassung zum Widerruf der Betriebsgenehmigungen.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützt in Artikel 14 nicht nur das Eigentum der Atomkraftwerksbetreiber, sondern auch das der Bevölkerung und das anderer Unternehmen. Nach einem Super-GAU könnten aber weder Bevölkerung noch Unternehmen entschädigt werden, weil die im Atomgesetz festgelegte Deckungssumme weniger als 0,1 Prozent der von der Bundesregierung erwarteten Schäden von bis zu 10 700 Milliarden DM entspricht. Die Verfassung verlangt eine risikoadäquate Haftpflichtversicherung, welche von den Atomkraftwerksbetreibern aber nicht nachgewiesen werden könnte. Auch aus diesem Grunde sind die Betriebsgenehmigungen zu entziehen.

Die Betriebsgenehmigungen standen von Anfang an unter Gesetzesvorbehalt. Die Unterneh-men investierten im Bewusstsein, dass ein Entzug der Genehmigungen jederzeit möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Eigentumsrechte der Atomkraftwerksbetreiber vor diesem Hintergrund ausdrücklich eingeschränkt und dem Schutzzweck des Atomgesetzes untergeordnet.

Wie skizziert, missachtet die Atomaufsicht in Bund und Ländern die Bestimmungen des Atomgesetzes und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in erheblichem Maße. Mit der geplanten Atomgesetz-Novelle möchten Bundesregierung und Bundestag auf Druck der Atomindustrie einen unrechtmäßigen Zustand auf Jahrzehnte fortschreiben. Bitte entnehmen Sie den Anlagen unsere ausführliche Darlegung des Sachverhalts.

Nach dem Kalkar-Urteil ist es die „objektiv-rechtliche Verpflichtung aller staatlicher Gewalt", mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen, verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen.

Wir erwarten von Ihnen als führende Repräsentanten der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, den verfassungsgemäßen Vollzug des Atomgesetzes zu gewährleisten. Das bedeutet: Die Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke müssen entzogen werden.

Wir erbitten Ihre persönliche Stellungnahme bis zum 31. Oktober 2001. Bitte teilen Sie uns mit, welche Maßnahmen Sie ergreifen werden, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten und um drohende Gefahren abzuwenden.

 

Mit freundlichen Grüßen

Rosi Schoppe, Wolfgang Ehmke
Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg

Irm Pontenagel
Geschäftsführerin EUROSOLAR,
Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien

Dr. Angelika Zahrnt
Vorsitzende Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Brigitte Behrens
Geschäftsführerin Greenpeace

Dr. Aribert Peters
Vorsitzender des Bund der Energieverbraucher

Katrin Kusche
Geschäftsführerin Grüne Liga

Henry Mathews
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre Elmar Schäfer
Bundesvorsitzender Katholische Landjugendbewegung Deutschlands (KLJB)

Hubert Weinzierl
Präsident Deutscher Naturschutzring (DNR) Christoph Freiherr von Feilitzsch
Neue Richtervereinigung (NRV)

Dr. Angelika Claußen
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW)

Jürgen Sattari
Vorsitzender von ROBIN WOOD

Marion Lewandowski
Vorsitzende Eltern für unbelastete Nahrung

Anlagen:
- Anlage A) Ausführliche Darlegung des beschriebenen Sachverhalts
- Anlage B) Studie: Verfassung und Atomgesetz zwingen zur Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke
- Anlage C) Stellungnahme zur Atomgesetz-Novelle


...
Anlage A:


Ein Widerruf der Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke ist atom- und verfassungsrechtlich geboten


1. Widerruf wegen mangelnder Sicherheit

Das Bundesverfassungsgericht erwartet vor dem Hintergrund des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2,2 GG) im sogenannten „Kalkar-Urteil" für den Betrieb von Atomkraftwerken eine sehr weitreichende Risikovorsorge 1). Abgeleitet aus den §§ 7, 17 Atomgesetz verlangt das Verfassungsgericht einen „dynamischen Grundrechtsschutz", die Atomkraftwerke müssen jederzeit dem aktuellen „Stand von Wissenschaft und Technik" entsprechen. Jegliche denkbare Unfallszenarien müssen definitiv ausgeschlossen sein.

Die Regierung Kohl hat mit der Atomgesetz-Novelle im Jahre 1994 in juristisch unumstößlicher Weise dokumentiert, dass alle derzeit betriebenen, deutschen Atomkraftwerke nicht wie gefordert dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen) 2). Vor dem Hintergrund der erschreckenden Ergebnisse der „Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke - Phase B" 3) wurden mit der Novelle für Neuanlagen deutlich verschärfte Sicherheitsanforderungen gesetzlich fixiert, die laufenden Atomkraftwerke jedoch explizit von diesen Anforderungen ausgenommen.

Ein derartiger Sicherheitsrabatt für die laufenden Atomkraftwerke widerspricht aber den im Kalkar-Urteil formulierten Anforderungen. Er macht zugleich deutlich, dass diese Anlagen nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Auf diesen Umstand verweist ein internes Rechtsgutachten des Bundesumweltministeriums vom 12. August 1999 4). Darin wird selbst den neueren „Konvoi-Anlagen" explizit bescheinigt, dass sie nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen.

Ebenso heißt es im Entwurf der Bundesregierung vom 5. Juli 2001 für die derzeit geplante Novellierung des Atomgesetzes 5), dass sich bei den deutschen Atomkraftwerken Unfälle mit großen Freisetzungen nicht ausschließen lassen. Grundlage dieser Einschätzung ist die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, der konkrete Unfallszenarien zugrunde liegen, gegen die es bei den laufenden Atomkraftwerken keine Vorkehrungen gibt. Das ist ein weiterer „regierungsamtlicher" Beleg dafür, dass die Anlagen nicht dem geforderten Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen und insofern die Bevölkerung Risiken ausgesetzt wird, die vom Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärt wurden.

Neben dem Stand von Wissenschaft und Technik etablierte das Bundesverfassungsgericht eine weitere Maßgabe, der die Bestandskraft der Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke unterliegt. So heißt es im Kalkar-Urteil, dass bei der Art und Schwere der Folgen eines Atomunfalls „bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit" des Eintritts genügen muss, um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers „konkret auszulösen".

Nach den Zahlen der „Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke" ist aber bei 19 Atomkraftwerken und durchschnittlich 30 Betriebsjahren allein aufgrund technischen Versagens mit einer Wahrscheinlichkeit von 2% mit einem Super-GAU zu rechnen. Das Bundesumweltministerium rechnet in seinem Rechtsgutachten vom 12. August 1999 „mit einer Sicherheit von ca. 1%" mit einem Super-GAU 4).

Das ist alles andere als eine „entfernte Wahrscheinlichkeit". Das heißt, dass es mit einer „Chance" von 1: 50 bzw. 1:100 zum Super-GAU in Deutschland kommt. Derart große Eintrittswahrscheinlichkeiten sind aber laut Kalkar-Urteil nicht verfassungskonform.

Denn das Bundesverfassungsgericht akzeptiert als sogenanntes „Restrisiko" lediglich rein hypothetische, nach „Abschätzungen anhand praktischer Vernunft" nicht konkret vorstellbare Unfallszenarien.

2. Widerruf wegen fehlender Entsorgungsvorsorge

Auch das ungelöste Atommüllproblem zwingt rechtlich zum Widerruf der Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke. Nach § 9a Atomgesetz müssen die Atomkraftwerksbetreiber ihren Atommüll entweder „schadlos verwerten" (angeblich durch Wiederaufarbeitung) oder „geordnet beseitigen" (angeblich durch Endlagerung).

Das Bundesumweltministerium hält in seinem Rechtsgutachten vom 12. August 1999 nüchtern fest: „Der Ausstieg aus der Atomenergie ist auch wegen nicht gesicherter Entsorgung geboten. Das bisherige Entsorgungskonzept für radioaktive Abfälle ist inhaltlich gescheitert und hat keine sachliche Grundlage mehr."

Eine schadlose Verwertung kann das Bundesumweltministerium nicht erkennen: „Tatsächlich wird die Gesamtmenge des Plutoniums nur geringfügig oder auch gar nicht reduziert ... Die Mengen radioaktiver Abfälle sind mit Wiederaufarbeitung größer als bei direkter Endlagerung ... Die Wiederaufarbeitung als Entsorgungsstrategie verfehlt somit ihre gesetzlichen Zwecke." 4)

Da die „schadlose Verwertung" auch regierungsamtlich Fiktion bleibt, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der „geordneten Beseitigung", sprich: der direkten Endlagerung. Ein atomares Endlager ist weder vorhanden noch in Sicht. Das Rechtsgutachten des Bundesumweltministeriums führt dazu aus: „... wurde das Entsorgungskonzept mehrfach grundlegend geändert, ohne dass bis heute eine Lösung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle realisiert worden ist."

Es gibt noch nicht einmal die in den Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge verlangten „Fortschritte bei der Endlagerung", wie das Bundesumweltministerium auf dem 10. Deutschen Atomrechtssymposium ausführte: „Diese Fortschritte sind nicht erzielt worden. Eine Genehmigung kann deshalb versagt werden ... Die Bestandskraft der erteilten Genehmigungen ist in Frage gestellt." 6) Tatsächlich aber wurden die Genehmigungen von der Bundesregierung, entgegen dem gesetzlichen Auftrag, nicht versagt.

Auch wenn das Bundesumweltministerium unter Bezugnahme zum Kalkar-Urteil weiterhin feststellte, der Gesetzgeber könne „deshalb gehalten sein, die weitere Nutzung der Atomenergie zu untersagen, um keine weiteren Abfälle mehr entstehen zu lassen" 6), wurde seitens der Bundesregierung nichts unternommen, um ihrer verfassungsgemäßen Pflicht nachzukommen. Die im Atomgesetz vorgesehenen Sanktionen bei einem massiven Verstoß gegen das Gesetz werden von der Bundesregierung nicht vollzogen.

Stattdessen soll den Atomkraftwerksbetreibern mit der derzeit geplanten Novellierung des Atomgesetzes eine dauerhafte Zwischenlagerung in Hinblick auf ein möglicherweise einmal vorhandenes Endlager erlaubt werden.

Das geschieht vor dem Hintergrund, dass ein sicheres Endlager vermutlich nicht realisierbar ist. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen kommt in seinem „Umweltgutachten 2000" 7) zu dem Schluss, dass eine dauerhafte Abschirmung des Atommülls vor der Biosphäre aus heutiger wissenschaftlicher Sicht nicht möglich erscheint: „Untersuchungen, die eine Basis für geeignete Endlager bilden sollen, sind letztlich nie zu einem naturwissenschaftlich einwandfreien Nachweis eines absolut sicheren Endlagers gelangt ... Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken bestrahlter Brennelemente und der darin begründeten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar."

Es ist nüchtern festzuhalten, dass die vom Atomgesetz geforderte „geordnete Beseitigung" des Atommülls nicht möglich ist. Aus diesem Grunde sind die Betriebsgenehmigungen zu widerrufen. Eine weitere Atommüllproduktion würde auch wegen des gebotenen Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit nach Artikel 2 Grundgesetz und wegen des in Artikel 20a fixierten Nachweltschutzes gegen das Grundgesetz verstoßen.

3. Widerruf wegen unzureichender Deckungsvorsorge

Mit der Verfassung kollidiert auch die extreme Unterversicherung der Atomkraftwerke. In § 13 des Atomgesetzes ist eine Deckungssumme von heute 500 Millionen DM bzw. künftig 2,5 Milliarden Euro vorgesehen. Diese Beträge entsprechen weniger als 0,1 Prozent der von der Bundesregierung nach einem Super-GAU offiziell erwarteten Schäden in Höhe von bis zu 10 700 Milliarden DM (Prognos-Gutachten) 8).

Eine Entschädigung der Bevölkerung und anderer Unternehmen ist nach einem schweren Atomunfall also nicht möglich.

Artikel 14 Grundgesetz schützt aber nicht nur das Eigentum der Atomkraftwerksbetreiber, sondern auch das Eigentum der Bevölkerung und das anderer Unternehmen. Der verfassungsmäßig gebotene Schutz des Eigentums Dritter kann nur dann gewährleistet werden, wenn im Atomgesetz eine tatsächlich risikoadäquate Deckungssumme verankert wird.

Die Bundesregierung weist in ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes vom 5. Juli 2001 zu Recht darauf hin, dass im deutschen Schadensersatzrecht „angemessen hohe Deckungssummen" üblich sind 5). Es widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 Grundgesetz, die Atomindustrie gegenüber anderen risikobehafteten Unternehmungen durch die eklatante Unterversicherung zu privilegieren.

Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich gefordert, im Atomgesetz eine risikoadäquate Deckungssumme festzuschreiben. Da die Atomkraftwerksbetreiber diese nicht werden nachweisen können, sind die Betriebsgenehmigungen der Atomkraftwerke in der Folge zu widerrufen (§ 17 Abs 4 AtG).

4. Widerruf wegen des Risikos äußerer Einwirkungen

Das Risiko von Terroranschlägen und Flugzeugabstürzen auf Atomkraftwerke ist uns mit den Ereignissen in den USA in Erinnerung gerufen worden. Die deutschen Atomkraftwerke sind nach Angaben des Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission, Lothar Hahn, gegen Flugzeugabstürze mit Linienmaschinen nicht ausgelegt. Auch ein Schutz gegen gezielte Terroranschläge ist nicht möglich. Die Atomkraftwerke können auch nicht nachgerüstet werden, um derartige äußere Einwirkungen mit katastrophalen Unfallfolgen zu vermeiden.

Das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet die Exekutive zu einer „bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge". Die Betriebsgenehmigungen stehen nach dem Urteil zur Disposition, wenn ein konkret denkbares Unfallszenario „durch das technisch gegenwärtig Machbare" nicht auszuschließen ist.

Explizit verlangt das Gericht, dass die Exekutive bei der Risikobewertung „willkürfrei zu verfahren hat". Das aber kann nur heißen, dass die Betriebsgenehmigungen angesichts des Risikos terroristischer Anschläge zu entziehen sind.

5. Geplante Atomgesetz-Novelle ist verfassungswidrig

Der Gesetzgeber ist jetzt auch nicht befugt, mit der geplanten Atomgesetz-Novelle den jahrzentelangen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zu erlauben. Zwar liegt laut Kalkar-Urteil die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die Atomenergie beim Gesetzgeber. Dieser ist bei dieser Entscheidung allerdings keineswegs völlig frei. Er hat vielmehr die vom Bundesverfassungs-gericht aus dem Atomgesetz und der Verfassung abgeleiteten Restriktionen für die Nutzung der Atomenergie zu beachten.

Wie oben dargelegt, werden die derzeit betriebenen Atomkraftwerke diesen Anforderungen aber nicht gerecht. Der Gesetzgeber handelt daher verfassungswidrig, wenn er jetzt mit der Änderung des Atomgesetzes einen jahrzehntelangen Weiterbetrieb per Gesetz ermöglicht.

6. Eigentumsrechte der Atomkraftwerksbetreiber sind eingeschränkt

Das Pochen der Atomkraftwerksbetreiber auf Bestands- und Vertrauensschutz sowie auf den Schutz ihres Eigentums entbehrt jeglicher Grundlage. Denn ein Vertrauensschutz in den dauerhaften Betrieb einer Anlage hat seit jeher nicht bestanden, da atomrechtliche Genehmigungen stets unter gesetzlichem Widerrufsvorbehalt nach § 17 Atomgesetz standen. Die Widerrufsmöglichkeiten nach § 17 formten mit Beginn der kommerziellen Atomenergienutzung die Rechtsposition eines jeden Betreibers einer kerntechnischen Anlage und konnte auch nur in dieser Form Gegenstand ihrer Eigentums- und Betätigungsfreiheit werden.

Das Bundesverfassungsgericht betont mit Bezug auf die Eigentumsfrage in seinem Kalkar-Urteil die generelle „Sonderstellung des Atomrechts". Wegen der „weithin noch ungeklärten Gefahren und Risiken" und weil diese nach „Art und Ausmaß gegenüber allen bisherigen Gefahren aus der Nutzung von Privateigentum neuartig" seien, eröffnet sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein grundsätzlich weitreichenderes „Eingriffsfeld und Beschränkungsfeld für die hoheitliche Gewalt" als dies gegenüber Privateigentum sonst zulässig ist. Diese Sonderstellung des Atomrechts und ihre Gründe ließen es gerechtfertigt erscheinen, von Grund-sätzen abzuweichen, die auf anderen Rechtsgebieten anerkannt seien.

Es ist festzustellen, dass die Betriebsgenehmigungen für die Atomkraftwerke unter Gesetzesvorbehalt stehen. Da nun zahlreiche, rechtlich unzweifelhafte Voraussetzungen vorliegen, wonach die Betriebsgenehmigungen aus atom- und verfassungsrechtlichen Gründen zu widerrufen sind, muss dies auch geschehen.

Quellen:
(1) BVerfGE 49,89 - Kalkar I
(2) Gesetz zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes, 1994
(3) Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B, Köln Juni 1989
(4) BMU, 12. Aug. 1999, Untersuchung der Rahmenbedingungen des nationalen und internationalen Rechts für die Energiekonsensgespräche, Aktenzeichen RS I 1 - 40105/1.3
(5) Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität, Stand: 5. Juli 2001, Berlin
(6) Wolfgang Renneberg, Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit des BMU, in: 10. Deutsches Atomrechtssymposium, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S. 273-285
(7) Umweltgutachten 2000 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, Schritte ins nächste Jahrtausend, Bundestags-Drucksache 14/3363 vom 14.03.2000
(8) Ewers/Rennings in Prognos-Schriftenreihe „Externe Kosten", Band 2, 1992, Prognos-Gutachten im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums

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