UNBEQUEM Juni 1997
Gefahren der Castortransporte für das Begleitpersonal
von Dr. med. Rainer Stephan*
Seit einer im August 95 erschienenen Studie von Prof. Dr. Horst Kuni (Klinische
Nuklearmedizin der Universität Marburg) zur Gefährdung der Gesundheit
durch Strahlung des CASTOR (Anmerkung der Castor-Nix-Da Redaktion: s.auch
"Neutronenstrahlung - die unterschätzten Gefahren) (**) hat eine intensive
Diskussion eingesetzt über die vermutete Unterschätzung der Castor-Strahlung.
Prof. Kunis Berechnungen weisen darauf hin, daß die Neutronenstrahlung
in der Nähe der Transportbehälter 30mal schädlicher ist als offiziell
angegeben. Nach neueren Erkenntnissen dürfte die Neutronenstrahlung sogar
60mal gefährlicher sein als die deutsche Strahlenschutzverordnung annimmt.
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) bleibt bei seiner Auffassung, daß
von den Castor-Transporten weder für das Transportpersonal, noch für
die begleitenden Polizisten eine Strahlengefahr ausgehe (siehe Info Blatt 3/95).
Ein unbeschädigter Castor-Behälter (mit einem Radioaktivitätsinventar
zahlreicher Hiroshima-Bomben) stellt eine ausgedehnte Strahlenquelle dar, die
sich noch erheblich vergrößert, wenn zukünftig die Transporte
im 3er- bis 6er-Pack rollen. Das Strahlenfeld eines Castors besteht im Wesentlichen
aus Gammastrahlen und Neutronen. Der Anteil dieser beiden Strahlenarten ist
sehr unterschiedlich und hängt u.a. ab vom Plutoniumgehalt der Brennelemente
(z.B. MOX - BE), vom Grad des Abbrandes und von der zurückliegenden Abklingzeit.
Schwierig ist bereits die physikalische Messung der Neutronen. Das BfS hat am
Castor IIa aus Philippsburg in 2 m Abstand mit 6 verschiedenen Meßgeräten
folgende Neutronen-Dosisleistung gemessen: 15, 17, 23, 25, 30, 69 mikroSievert
pro Stunde (µSv/h), wobei es den Wert 17 µSv/h für den zutreffenden
hielt.
Wohl nicht umsonst hat sich das BfS bis heute sehr zurückhaltend gezeigt
mit der Bekanntgabe von konkreten Meßwerten über das Ausmaß
des Strahlenfeldes. In einer Gegendarstellung (31.8.95) zu Prof. Kunis Beitrag
rückte das BfS eine Angabe heraus: im Abstand von 2 m vom Castorbehälter
des Transportes vom 24./25.4.95 wurde eine Dosisleistung von 25 µSv/h
gemessen, davon 5µSv/h Gammastrahlung und 20 µSv/h Neutronenstrahlung.
Dies heißt, daß im Abstand von 2 m vom Fahrzeug der zum Schutz der
Öffentlichkeit geltende Dosisleistungswert in Höhe von 100µSv/h
deutlich unterschritten wurde, hingegen aber nicht der wichtige Grenzwert von
20 µSv/h, der für berufstätige Personen beachtet werden muß,
die sich vorübergehend an Orten aufhalten, an denen die Aufenthaltszeit
nicht mehr als 250 Stunden im Jahr beträgt, und die keinen Personendosimeter
tragen. Der Grenzwert 20µSv/h (Berechnung der Äquivalentdosis nach
der Strahlenschutzverordnung) wurde erst in einer Distanz von etwa 5 m unterschritten.
Folgt man allein den Ausführungen des BfS, so wurde bei Anwendung der deutschen
Strahlenschutzverordnung der Grenzwert von 5.000 Mikrosievert/Jahr für
beruflich nicht strahlenexponierte Personen (z. B. polizeiliche Transportbegleitung
durch sog. Seitenkräfte) in 2 m Entfernung nicht eingehalten. Ein Polizist
müßte sich 250 Stunden pro Jahr dort aufhalten können, ohne
sich mit mehr als 5.000 µSv zu belasten. Diese Strahlendosis hätte
er in 2 m Abstand vom Castor tatsächlich schon nach 200 Stunden erhalten,
nach den Kriterien der Internationalen Strahlenschutzkommission (siehe Ausführungen
weiter unten) sogar schon nach 111 Stunden.
Beurteilt an diesem konkret genannten Beispiel, hält selbst die polizeiinterne
Regelung Schleswig-Holsteins nicht stand, nach der eine polizeiliche Transportbegleitung
durch Seitenkräfte einen Mindestabstand von 2,50 m zum Transportbehälter
nicht unterschreiten darf, ganz zu schweigen von der in Niedersachsen inzwischen
ausgesetzten hautnahen Transportbegleitung.
Niedersachsen hat inzwischen unabhängig von den sonst in Deutschland geltenden
Grenzwerten die maximal zulässige jährliche Strahlenbelastung für
Polizeibeamte auf 1 Millisievert (1.000 µSv) festgelegt. Die Strahlenbelastung
eines Beamten, der sich im April 95 rund 3 Stunden dicht neben dem Castor-Behälter
aufhielt, soll nach Angaben des niedersächsischen Umweltministeriums 0,265
Millisievert betragen haben. Demnach wäre bei Bewertung nach der derzeitig
noch gültigen Strahlenschutzverordnung der niedersächsische Jahres-Grenzwert
bereits nach weniger als 12 Stunden erreicht.
Die Entwicklung der Grenzwerte im Laufe der Jahrzehnte zeigt, daß die
Schadwirkung ionisierender Strahlung immer unterschätzt wurde. Die derzeit
in der BRD gültigen Grenzwerte stützen sich auf den Wissensstand von
1977. Die Einschätzung der Schadwirkung von Neutronenstrahlen geht gar
auf den Kenntnisstand von 1973 zurück. Neutronen haben als dicht-ionisierende
Strahlen bezogen auf die gleiche physikalische Dosis eine größere
strahlenbiologische Wirksamkeit als locker-ionisierende Strahlen (z. B. Gamma-
strahlen). Von dicht-ionisierenden Strahlen werden in der Regel beide DNA-Stränge
(Erbinformationen) der getroffenen Zellen durchschlagen. Dies bewirkt, daß
die Reparatur-Enzyme die Schäden nicht mehr ausgleichen können.
Geschädigte Zellen können Krankheiten wie Leukämie und Krebs,
Schädigung des Erbgutes und Mißbildungen des entstehenden Lebens
usw. auslösen. Die über die radioaktive Strahlung von einem Gewebe
aufgenommene Energiedosis (Einheit Gray ) sagt nur bedingt etwas aus über
die Schädlichkeit der Strahlung, weil die einzelnen Strahlungsarten biologisch
unterschiedliche Wirkungen haben. Die Energiedosis wird deshalb mit einem Qualitätsfaktor
(q) multipliziert. Die Qualitätsfaktoren dienen dazu, biologisch verschieden
wirksame Strahlenarten so zu umrahmen, daß mit ihrer Hilfe eine Äquivalentdosis
ermittelt werden kann. Die Qualitätsfaktoren (Strahlungsgewichtungsfaktoren)
sind in der deutschen Strahlenschutzverordnung normativ festgesetzt, z.B. für
Gammastrahlung 1, für Neutronen 10.
Bei der Bewertung dürfen jedoch die Abweichungen der tatsächlichen
relativen biologischen Wirksamkeit (RBW) der Strahlenarten nicht übersehen
werden. Mit der Definition der relativen biologischen Wirksamkeit (RBW), abgeleitet
aus Beobachtungen z.B. bei Experimenten, versucht die Wissenschaft einen objektiven
Maßstab für Strahlenschäden zu schaffen.
Bereits 1986 hatte eine Wissenschaftlergruppe der Internationalen Strahlenschutzkommission
(ICRP) eine Höherbewertung der relativen biologischen Wirksamkeit von Neutronen
mit einem Qualitätsfaktor von 25, unabhängig von der Energie der Neutronen,
vorgeschlagen. Die von der ICRP schließlich 1990 vorgenommene Neubewertung
um den Faktor 20 ist in der geltenden deutschen Strahlenschutzverordnung bis
heute nicht umgesetzt worden. Das BfS rechnet weiterhin nur mit einem Qualitätsfaktor
von 10, unterschätzt also die Gefährlichkeit der Neutronen um mindestens
einen Faktor 2.
Allein die Anwendung der ICRP-Empfehlung würde bereits für den Castortransport
vom 24./25.4.95 eine Dosisleistung durch Neutronen- und Gammastrahlung von 45
Mikrosievert/Stunde bedeuten. Die strahlenbiologische Wirkung der Neutronen
hängt sowohl von der Dosis und der Dosisleistung ab, wie auch von der Art
des bestrahlten Gewebes und der Art der bestrahlten Spezies. Je höher der
RBW-Wert der Neutronenstrahlung ist, desto gefährlicher wirkt sie auch
im Vergleich zur Röntgen- und zur Gammastrahlung.
Prof. Kuni plädiert für die Anwendung eines 30 bis 60 fachen Qualitätsfaktors
(q) für Neutronenstrahlung. Er begründet seine Berechnungen mit Erkenntnissen
der Strahlenforschung der letzten Jahre. Man wisse mittlerweile, daß u.a.
schon allein die Gammastrahlung zweifach wirksamer sei als die Atombombenstrahlung
von Hiroshima und Nagasaki, von deren Auswirkungen auf die Überlebenden
von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) die empfohlenen Grenzwerte
abgeleitet worden sind,
die Referenzstrahlung für den RBW, die Röntgenstrahlung (250 KV) in
der Krebsinduktion um etwa den Faktor 4 höher liege, als die Atombombenstrahlung
und dies auch für alle Strahlenarten gelte, deren Wirksamkeit sich auf
die Röntgenstrahlung beziehe (z.B. Neutronen),
die Wirkung von Neutronenstrahlen im niedrigen Dosisbereich (Situation der Castortransporte)
überproportional zunehme.
Aus der Multiplikation mehrerer, bisher unberücksichtigter Faktoren kommt
Prof. Kuni auf einen Gesamtwert von 60, mit dem der Qualitätsfaktor für
Neutronenstrahlung, der jetzt nur mit 10 angegeben wird, multipliziert werden
müßte. Im Endeffekt ergibt sich daraus eine mindestens 60mal höhere
Gefährdung, durch die in der Nähe des Castorbehälters wirksame
Strahlung als offiziell angegeben. Nach alledem kommt Prof. Kuni zu einem Wert
von 1200 Mikrosievert Neutronenstrahlung pro Stunde, anstelle der als gemessen
angegebenen 20 µSv/h.
Im Gegensatz zu Prof. Kunis Einschätzung hält das Mitglied der Deutschen
Strahlenschutzkommission, Prof. A. Kellerer, Direktor des Strahlenbiologischen
Institutes an der Universität München, den offiziell in der BRD noch
geltenden RBW- Wert von 10 für weiterhin angemessen. Vergeblich hatten
schon bei der wissenschaftlichen und politischen Diskussion anläßlich
des Entwurfes der ICRP-Empfehlung von 1990 zahlreiche Wissenschaftler in einer
bis dahin einmalig weltweiten Unterschriftenaktion auf wesentlich strengere
Grenzwerte gedrungen. Mittlerweile hält auch der Gießener Strahlenbiologe
Prof. Kiefer einen Strahlungsgewichtungsfaktor für Neutronen von bis
zu 50 für realistisch.
Bezüglich der Grenzwerte im Strahlenschutz fordert die Internationale Strahlenschutzkommission
(ICRP) immerhin seit Jahren, die Werte um den Faktor 5 zu senken. Die zwingende
Notwendigkeit, die Grenzwerte mindestens um den Faktor 5-10 herabzusetzen, leitet
sich aus den Erkenntnissen der 1986 vorgenommenen Dosisrevision der Hiroshimadaten
ab.
Polizisten, die Castortransporte begleiten, dürften demzufolge nicht mehr
mit 5.000 sondern höchstens mit 1.000 µSv pro Jahr belastet werden.
Auch diese Forderung der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) zur
Herabsetzung der Grenzwerte wurde durch die Bundesregierung immer noch nicht
umgesetzt. Dies müßte in der BRD bis spätestens vier Jahre nach
der am 13.5.96 erlassenen Novelle der EURATOM - Grundnormen Strahlenschutz
durch eine Änderung der deutschen Strahlenschutzverordnung geschehen sein.
Man darf gespannt sein, wie lange Bonn sich mit der Umsetzung Zeit lassen wird
(siehe die zahlreichen Umsetzungsdefizite der BRD in anderen Bereichen, z.B.
der Trinkwasserverordnung). Vor einer Anpassung könnte man noch möglichst
viele Transporte zu den alten Bedingungen durchbringen.
Das niedersächsische Umweltministerium hält eine Begleitung der Castortransporte
durch Männer für vertretbar, wenn die Strahlendosis den von der ICRP-Empfehlung
Nr. 60 von 1990 vorgesehenen Jahresgrenzwert von 1 Millisievert nicht überschreitet.
Die Empfehlungen der ICRP 60 von 1990 bedeuten gegenüber den Empfehlungen
der BRD- Strahlenschutzverordnung maximal eine Verdoppelung der Neutronenbewertung.
Prof. Kuni hält dies für eine unverantwortliche Außerachtlassung
eines Jahrzehntes strahlenbiologischer Erkenntnisse. Bereits eine Jahresdosis
von 1 Millisievert würde eine zutreffende Bewertung der Strahlung
vorausgesetzt eine Verdoppelung der durchschnittlichen Gefahr bedeuten,
sich im Beruf eine tödliche Erkrankung zuzuziehen.
In einer Stellungnahme zur Presseinformation des niedersächsischen Umweltministeriums
vom 24.1.1996 appelliert Prof. Kuni deshalb an die Einsatzleiter und die betroffenen
Begleitpersonen, Dauer und Umstände des Einsatzes zu protokollieren und
die Dokumentation langfristig aufzubewahren. Nur so hätten die von der
Strahlenbelastung Betroffenen eine Chance, daß bei Krebserkrankungen und
anderen, möglicherweise erst nach vielen Jahren auftretenden Gesundheitsschädigungen,
der berufliche Zusammenhang anerkannt würde. Es besteht Hoffnung, daß
sich bis dahin eine höhere Bewertung der Neutronen und niedrigere Grenzwerte
auch politisch durchgesetzt haben.
(*) Rainer Stephan ist Mitglied beim Verein Internationale Ärzte
für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung
(IPPNW)
(**) Horst Kuni: Gefährdung der Gesundheit durch Strahlung des Castor
zu beziehen über : Internationale Ärzte für die Verhütung
des Atomkrieges /Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW), Körtestr.
10, 10967 Berlin (5,-DM)