Gorleben Rundschau Dec. 01

Presseerklärung der Rechtsanwälte im Eildienst in Gorleben und Lüneburg

Auch bei diesem Castor-Transport bleiben vielfach Grundrechte auf der Strecke

1. Besonders bedenklich ist die Aushebelung der Erlangung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG)im Versammlungsrecht und bei Freiheitsentziehungen.

Auch bei längerfristig angemeldeten Versammlungen war es Praxis der Polizei, Versammlungsverbote und beschränkende Verfügungen so kurzfristig zu erlassen, daß Gerichte entweder gar nicht mehr angerufen werden können, der Instanzenweg nicht ausgeschöpft werden kann oder das Verwaltungsgericht die Gefahrenprognose nicht einmal ansatzweise einer kritischen Würdigung unterziehen konnte. Es blieb keine Zeit z.B. zu Richtigstellungen der Antragsteller gegenüber Behauptungen der Versammlungsbehörde und der Polizei vor einer Entscheidung des Gerichtes.

Bei polizeilichen Freiheitsentziehungen in Form des Polizeigewahrsams nach § 18 NGefAG konnte effektiver Rechtsschutz nicht erlangt werden, weil von der Festnahme an viele Stunden vergingen, bis die Polizei die Betroffenen im Computer erfaßt hatten. Vor Erfassung im Computer galten die Betroffenen auch bei Nachfragen von Angehörigen und Rechtsanwälten als nicht existent. Danach benötigten die Polizeikräfte der Gefangenensammelstelle weitere Stunden, bis sie einen Aktenvorgang gefertigt hatten. Erst mit Vorlage der Akte konnten die Eilrichter die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung durchführen. Zwischen Festnahme und Anhörung vergingen so 20 Stunden. In den meisten Fällen wurden Anhörungen überhaupt nicht durchgeführt. Nach bisher vorliegenden Zahlen wurden

- bei insgesamt 777 polizeilichen Freiheitsentziehungen - lediglich in 4 Fällen durch den Richter die Fortsetzung des Gewahrsams bis zur Einfahrt des Castor-Transportes in das Zwischenlager angeordnet - insgesamt schätzungsweise nur in ca. 80 bis 100 Fällen dem Richter ein Antrag mit Aktenvorgängen zugeleitet

Von der Festnahme bis zur Erfassung im Polizeicomputer blieben die Betroffenen - darunter auch viele Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren - rechtsschutzlos, sie durften keine Angehörigen verständigen, Anwälte und Eltern erhielten so lange ebenfalls keine Auskunft, eine richterliche Befassung mit dem Vorgang fand nicht statt. Teilweise saßen die Gefangenen bis zur Erfassung stundenlang im Gefangenenbus. Nach der Erfassung dauerte die weitere Bearbeitung nochmals Stunden, Anwälte erhielten keinen Zugang zu den Gefangenenzellen usw.

2. Die Versammlungsverbote per Allgemeinverfügung für den sog. "Transportkorridor" dienen allein dem Zweck, der Polizei eine allumfassende Eingriffsgrundlage zu schaffen. Wahllos werden heimliche Taten Einzelner zur Begründung einer "gewalttätigen" Gefahrenprognose herangezogen. Ein Brandanschlag ist aber gerade keine versammlungstypische Straftat, eine solche Tat wird üblicherweise nicht aus einer öffentlichen Versammlung heraus begangen und kann daher zur Rechtfertigung räumlich und zeitlich umfassender Versammlungsverbote nicht herangezogen werden, wenn sie während oder aus der geplanten Versammlung heraus nicht zu befürchten sind.

Ein mehrtägiges Versammlungsverbot für die Transportstrecke markiert schon die Grenze der Verhältnismäßigkeit. Wenn darüber hinausgehende weitere Versammlungsverbote erfolgen, bedarf dies besonderer Rechtfertigung.

Wir betrachten mit Sorge, daß die Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht für die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Grundgesetz anhand verschiedener Eilverfahren zu Nazi-Demonstrationen in jüngster Vergangenheit entwickelt hat, von Behörden und Gerichten bei Protesten der Castor-Gegner keine Anwendung finden. Anstatt jedem Veranstalter von Versammlungen diejenigen Protestformen zuzurechnen, die er zu vertreten hat, findet hier eine unterschiedslose Zurechnung statt. Wer eine Kundgebung anmeldet und hierfür Verantwortung übernehmen will, ist mit einem Verbot konfrontiert, welches mit Aktionsformen anderer Gruppen - wie z.B. kurz- oder längerfristigen Sitzblockaden, Treckerblockaden, Schienenbeschädigungen - begründet wird. Auf diese Weise riskiert jeder Anmelder durch grenzenlose Zurechnung von Regelverstößen anderer entweder ein Versammlungsverbot oder eine Vorverlegung der versammlungsrechtlichen Strafbarkeit. Damit wird legaler Protest "vor Ort" nahezu unmöglich gemacht.

Markieren mehrtägige Versammlungsverbote entlang der Sonderrechtszone "Transportkorridor" die Grenze der Verhältnismäßigkeit, so ist deren Ausdehnung durch zusätzliche "Einzelfallentscheidungen" eine Überschreitung der zulässigen Beschränkung von Bürgerprotesten. Durch „Einzelfallentscheidungen“ mit einer Gefahrenprognose aus Textbausteinen wurden nahezu alle angemeldeten Camps mit Versammlungsprogramm und Übernachtungsmöglichkeiten verboten. Diese Verbote dienten dann später als Grundlage für die Erteilung von Platzverweisen wegen des „Mitführens von Campingartikeln“. Die einzige Großkundgebung im Landkreis wurde sehr kurzfristig mit den gleichen Textbausteinen verboten, so daß weder rechtzeitig effektiver Rechtsschutz erlangt noch ein akzeptabler Alternativstandort organisiert werden konnte. Die Teilnehmerzahl für Mahnwachen wurde in versammlungsrechtlichen Bestätigung beschränkt auf die prognostizierte Teilnehmerzahl. Die genannten Einschränkungen fanden sämtlichst außerhalb der Versammlungsverbotszone im „Transportkorridor“ statt.

3. Im Rechtsstaat muß der Staat sich unbedingt an Recht und Gesetz halten (Art. 20 GG), anderernfalls ist die Legitimität des Rechtsstaates in Gefahr. Nur dann kann auch vom Bürger Rechtstreue verlangt werden. Regelverstöße der Bürger können straf- und bußgeldrechtlich geahndet werden. Ignoriert aber der Staat seine eigene Rechtsordnung, steht ein Sanktionsinstrumentarium nicht zur Verfügung.

Die Polizei hat widerrechtlich Privatgrundstücke in Besitz genommen, für die landwirtschaftliche Fördermittel auf dem Spiel standen, ohne vorherige Information der zivilrechtlich Berechtigten. Diesen wurde sogar der Zutritt zum eigenen Grundstück verboten. Daß die fraglichen Grundstücke von den Einsatzkräften für ihre Logistik (Bereithalten von Räumfahrzeugen, Polizeitransportern, Lichtmasten, technischem Gerät) benötigt wurden, war nach den früheren Transporten seit Monaten behördenintern offenkundig. Nach den üblichen Regeln sind dann primär zivilrechtliche Verträge abzuschließen, hilfsweise unter Umständen verwaltungsrechtlich die Beschlagnahme anzuordnen.

Hier erfolgte die Inbesitznahme widerrechtlich, weshalb das Amtsgericht Dannenberg per einstweiliger Anordnung die Räumung verfügte. Die Polizei weigerte sich, der Räumungsaufforderung des Gerichtsvollziehers Folge zu leisten und ordnete stattdessen - und erst dann! - die Beschlagnahme an.

Ein Staat, der seine eigene Rechtsordnung mißachtet, kann von seinen Bürgern nicht Regeltreue einfordern.

4. Wie auch bei früheren Castor-Transporten, wurde der Polizeigewahrsam als Bestrafung durch Selbstvollzug der Polizei ausgestaltet. Anlaß war im Regelfall eine kurzfristige Teilnahme an einer Sitzblockade, ein Aufgreifen in der Nähe der Transportstrecke oder der Vorwurf, gegen das Versammlungsverbot verstoßen zu haben:

die Zeit, die die Betroffenen in Polizeikesseln oder Gefangenentransportern verbringen müssen, wird willkürlich ausgedehnt
Jugendliche wurden stundenlang in Einzelzellen im Gefangenenbus festgehalten, trotz gesundheitlicher Beschwerden, Atemnot und Übelkeit allein gelassen, nicht mit Essen und Trinken versorgt, durften keine Vertrauenspersonen benachrichtigen und wurden mit Falschinformationen über die Konsequenzen ihrer Festnahme gezielt geängstigt
Gefangene wurden mit ca. 100 Personen in eine Sammelzelle gepfercht, bei schlechter Belüftung, Überheizung, Durst, mit lediglich dünnen Iso-Matten auf dem Beton;
die Verpflegung war mangelhaft und zu wenig, ohne Berücksichtigung der Vegetarier und Veganer
die Zellen waren teilweise menschenunwürdig
ohne erkennbaren Anlaß wurde eine auf der Strecke aufgegriffene Person gezwungen, sich vor den Polizeibeamten nackt auszuziehen; sodann wurde eine Leibesvisitiation mit Untersuchung der Achselhöhlen, des Rektal- und Intimbereichs durchgeführt
Toilettengang wurde in vielen Fällen nicht rechtzeitig ermöglicht mit den entsprechenden Folgen
16- und 17-jährige Jugendliche wurden nach ihrer Festnahme nachts um 2 Uhr in freier Landschaft abseits von Ortschaften wieder ausgesetzt
die Gewahrsamszeit wird insgesamt willkürlich ausgedehnt bis zu 20 Stunden ohne Richterbeteiligung

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