Gorleben Rundschau Dec. 01

Demonstrationsbeobachtung in fürsorglichem Gewahrsam

Helga Dieter, Demonstrationsbeobachterin des Kommitees für Grundrechte und Demokratie berichtet als Augenzeugin über den Kessel in der Nähe von Dahlenburg, am Transporttag des letzten Castors und den unmenschlichen Auftenthalt in der Gefannensammelstelle in Neu Tramm

Im Morgengrauen des 13. November, dem Tag, an dem der Castorzug nach Dannenberg fahren sollte, waren wir zu zweit als Demonstrationsbeobachter des Komitees für Grundrechte und Demokratie in der Umgebung von Dahlenburg unterwegs. Ein Spaziergang in Richtung Schiene war von einigen Bürgern und Bürgerinnen vereinbart worden. Geeinigt hatte man sich ausdrücklich, daß der Spaziergang nicht stattfände bzw. sofort abgebrochen würde, wenn es zu Konfrontationen mit der Polizei kommen könnte. Absolute Gewaltlosigkeit sei die Maxime. In der Nähe eines Dorfes ca. zwei Kilometer von der Bahnlinie entfernt parkten wir bei einigen anderen Autos und stiegen ebenfalls aus. Kaum standen wir auf dem Weg zwischen Wiese und Wald, als plötzlich BGS-Beamten an uns vorbeirannten. Ein junger Mann blieb einfach stehen und wich nicht zur Seite wie die anderen. Er wurde sofort ergriffen und unsanft abgeführt. Etwa 30 Leute wurden um 7.20 Uhr eingekesselt.

Zwei Frauen des EA (Ermittlungsausschuß) und wir zwei Demonstrationsbeobachter stellten uns zwei Beamten des BGS mit unseren Funktionen vor. Uns wurde mitgeteilt, der Einsatzleiter sei noch nicht da. Deshalb müßten wir im Kessel bleiben. Die Stimmung im Kessel war trotz Kälte, Feuchtigkeit und Enge locker und ruhig. Unter den 40 bewachenden BGSlern war nur eine weibliche Beamtin, die unentwegt Frauen zur Verrichtung ihrer Notdurft einzeln in den Wald führen mußte.

In den nächsten vier Stunden wurde es im Kessel immer enger. Alle “Verdächtigen”, die sich irgendwo zu Fuß oder in Autos diesem Dorf näherten, wurden in den Kessel gebracht (zuletzt ca. 80 Personen). Ein junger Mann versuchte plötzlich auszubrechen. Das war kein Fluchtversuch, sondern eine Panikreaktion. Er rannte nicht nach links in den Wald, sondern nach rechts in das umzäunte Grundstück einer Champignon-Zucht. Zwei BGSler spurteten hinterher, ein dritter wählte einen anderen Weg. Der “Flüchtende” lief geradewegs in seine Arme. Der Junge wurde gegen die Hauswand gedrückt, besonders heftig am Kopf, gefesselt, durchsucht und dann abgeführt. Einige BGS-Beamte feierten ihre “Helden” mit Gratulation und Schulterklopfen.

Irgendwann kamen Sanitäter. Ein Mann und eine Frau gingen mit ihnen aus dem Kessel, kamen jedoch zurück. Beide lehnten blaß und erschöpft an einem Polizeifahrzeug. Die Frau berichtete, sie hätte nur eine Niere und ihr Freund nur eine kürzlich transplantierte. Der Polizeiarzt habe sie eben beide für haftfähig erklärt.

Eine polizeiliche Lautsprecheransage informierte gegen 9.00 Uhr darüber, daß die Eingekesselten nun in “Verbringungsgewahrsam” genommen würden. Dann begann die Aufnahme der Personalien. Das dauerte anfangs bei den Frauen unmäßig lange, weil es nur eine Beamtin zur Leibesvisitation gab. Eine zweite Beamtin mußte schreiben. Später kam eine bayrische Polizeieinheit mit Frauen zur Verstärkung.

Gegen 10.30 Uhr erfolgte eine zweite polizeiliche Lautsprecherdurchsage. Diesmal wurde informiert, daß wir nach Neu-Tramm zum Verhinderungsgewahrsam verbracht würden.

Bei meinem Polaroid-Fototermin, der Leibesvisitation und der Personalienfeststellung wies ich noch einmal auf meinen angemeldeten Beobachterstatus hin und erhielt die Antwort: “Das ist kein Persilschein”. Nach der Prozedur wies mich mein uniformierter Begleiter darauf hin, daß ich Widerspruch einlegen könne. Das tat ich sofort. Der Beamte nahm dies ausdrücklich zur Kenntnis. Die Nichtigkeit dieses Widerspruchs stellte sich schnell heraus, als ein Demonstrierender auch Widerspruch einlegen wollte. Zu Protokoll könne dies nicht genommen werden, hieß es. Der Beamte habe es nur individuell zur Kenntnis genommen.

Auch Menschenwürde wird relativ.

Vor dem Besteigen des Gefangenentransporters gegen 11.00 Uhr wurde bei den meisten noch einmal das Gepäck durchsucht und der Leib visitiert. Ich wurde verschont. Beim Einsteigen in den Bus begegnete mir schon auf der ersten Stufe eine Video-Camera in geringem Abstand. Der Halter bewegte sich langsam rückwärts, die Linse in dem engen Gang immer auf mich gerichtet, bis ich in der Zelle 10 saß. Dort stand er noch vorgebeugt in der Tür, die Camera 50 cm vor meiner Nase. Nun ist auch mein kleinstes Altersfältchen für die Staatssicherheit, pardon, die Sicherheit der deutschen Grundordnung gezoomt.

Mehr als 5 Kubikmeter hatte die 4er-Zelle nicht. In der gegenüberliegenden Einzelzelle, die nicht mehr als einen Kubikmeter groß ist, saß ein junger Mann. Bevor der Bus abfuhr, wurden die Zellen verriegelt. Als der Bus nach ca. 40 Minuten in der ehemaligen Bundeswehrkaserne und jetzigen “Gefangenensammelstelle” Neu-Tramm ankam, wurden die Zellentüren gleich geöffnet. Das war auch nötig. Die Luft war zum Umfallen. Wir durften unter Aufsicht von zwei Beamten bzw. Beamtinnen die Toiletten besuchen. Den Gefangenen in dem anderen Bus erging es viel schlechter. Vier Stunden waren sie in diesen Zellen eingesperrt, die trotz Klopfen und Rufen nicht geöffnet wurden. Deshalb kollabierte eine Frau. Ein Mann pinkelte in die Zelle.

Nun erwartete uns ein neuer Fototermin, diesmal mit Digitalkamera. Handy, zwei Kulis und drei Bleistifte wurden mir abgenommen und versiegelt. Ich habe als Berichterstatterin noch lange und verzweifelt um einen Bleistift-Stummel für Notizen gekämpft – vergeblich. Dann wurden wieder die Personalien aufgenommen und eine “Rechtsmittelbelehrung” erteilt. Allerdings nur auf Nachfrage. Ich erhielt ein Blatt mit aufgeklebter Nummer, auf dem ich meinen Widerspruch sofort unter Aufsicht darlegen sollte. Ich erbat Bedenk- und Formulierungszeit. Das sei kein Problem, ich könne in der Zelle schreiben. Aber wie ohne Schreibgerät? Das dürften sie mir nicht lassen, weil ich mit einem solchen einen Wärter angreifen oder mich selbst verstümmeln könne.

Schließlich stand ich vor einer großen Halle mit fünf großen Metalltoren. Hinter der ersten Tür war der Empfang. Dort sollte nun auch meine Tasche zum Asservat genommen werden. Mein Essen könne ich noch rausnehmen, wurde mir beschieden. Auf Selbstverpflegung war ich zwar nicht eingestellt, wollte aber nach einem Kaugummi suchen. Da sei keiner drin, teilte mir mein Begleiter mit. Über den Inhalt sei er schließlich besser informiert als ich. Ich kramte und kramte, bis der letzte Bleistift im Ärmel verschwunden war. Ich will nicht leugnen, daß ich bei dieser verbrecherischen Tat Herzklopfen, Angst und ein gutes Gewissen hatte.

Die “Zelle” war eine große Halle mit staubigem Zementboden. In einer Ecke hockten zehn Frauen. Neben dem Eingang lag ein Stapel Iso-Matten ohne Isolation, wie ich später feststellte. Sonst nichts. Immer mehr Frauen kamen nach. Einige verlangten nach Wasser. Das gab es lange nicht, aber nach einer Stunde und vielen Protesten heißen Tee. Schließlich durfte eine Frau leere Flaschen einsammeln und in amtlicher Begleitung Wasser holen. Doch der Hahn blieb trocken. Auch auf den fünf Dixi-Klos, die von zuletzt über 100 Frauen benutzt wurden, gab es weder Spülung noch Licht. Einige der bayrischen Polizisten waren über die Zustände auch konsterniert und gestatteten den Raucherinnen, die zwar die Zigaretten, aber nicht die Feuerzeuge behalten durften, einen Zug oder den anderen Frauen nach dem Klogang noch eine Atempause.

Der illegale Bleistift leistete gute Dienste, als viele Frauen ihre Adressen austauschen wollten. Auch mein amtlich numeriertes Blatt Papier mußte ich zu diesem Zweck in Schnipsel reißen, so daß der Widerspruch, den ich schließlich formulierte, nicht ganz formgerecht aussah.

Irgendwann kam eine grauhaarige Frau in die Halle. Als mehrfach nach Erika Drees bzw.der Frau, die von einem Polizeihund gebissen wurde, gerufen wurde, dämmerte mir, daß es sich bei dieser Frau um die bekannte Ärztin und DDR-Bürgerrechtlerin handelte, deren Engagement gegen Atomkraftwerke im Osten wohlgelitten war, deren Engagement gegen Atomkraft im Westen nun aber mit Polizeihunden und Vorbeugehaft kriminalisiert wird. Sie hatte ein breites Hämatom mit zwei offenen, kreisrunden Schneidezahn-Wunden am Arm. Sie spielte die eigene Verletzung runter und engagierte sich für die beiden kranken Frauen.

Die Frau mit einer Niere lag blaß auf einer Matte. Wir verlangten Wasser für sie. Das gab es immer noch nicht. Eine andere Frau brauchte unbedingt etwas zum Essen, da sie ihre Herz- und Asthma-Medikamente nur bei vollem Magen nehmen dürfe. Sie hatte seit 6 Uhr nichts mehr gegessen und ihren Proviant hatte sie abgeben müssen. Erst gegen 16.00 Uhr gab es für jede ein Käsebrötchen und 10 kleine Wasserflaschen für inzwischen ca. 70 Frauen.

Derselbe Polizeiarzt, der die Nierenkranke morgens im Kessel für haftfähig erklärt hatte, bescheinigte ihr nun, daß sie haftunfähig sei. Gegen 17.00 Uhr wurden die Kranken entlassen.

Mehrfach verlangten wir, einem Haftrichter vorgeführt zu werden. Ohne Erfolg. Später verriet uns ein Beamter der freundlicheren Sorte, daß die Entlassung absehbar sei. Tatsächlich wurden gegen 18.30 Uhr die ersten Namen verlesen. Eine halbe Stunde später auch meiner.

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