Atomstrom 2000: Sauber, sicher, alles im Griff?


Aktuelle Probleme und Gefahren bei deutschen Atomkraftwerken
Aktualisierte Kurzfassung einer Studie von H. Hirsch und O. Becker
Stand: Februar 2001
Erstellt im Auftrag des BUND

Inhalt:
EINLEITUNG
FALLSTUDIE 1: ATOMKRAFTWERK BIBLIS
FALLSTUDIE 2: ATOMKRAFTWERK KRÜMMEL
FALLSTUDIE 3: ATOMKRAFTWERK OBRIGHEIM
FALLSTUDIE 4: ATOMKRAFTWERK STADE
FALLSTUDIE 5: SIEDEWASSERREAKTOREN DER BAULINIE '69
SCHLUSSBEMERKUNGEN:
KASTEN: DIE LAUFZEITEN DER ATOMKRAFTWERKE


Einleitung
Die rotgrüne Bundesregierung hat unter der Bezeichnung "Ausstieg" den weiteren Betrieb der Atomkraftwerke bis zum Ende ihrer Lebensdauer gesichert. Die Vereinbarung zwischen Regierung und Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 ('Atom-Konsens') legt für die deutschen Atomkraftwerke Elektrizitäts-Kontingente fest, mit denen sie Gesamtlaufzeiten von 35 Jahren und mehr erreichen werden (zur Erläuterung der Laufzeit-Ermittlung siehe Kasten).

Auf der Grundlage der Konsens-Vereinbarung werden die AKW-Betreiber im übrigen mit dem Wohlwollen der Bundesregierung dezentrale Zwischenlager an den AKW-Standorten errichten, deren Kapazitäten noch weit über die festgelegten Laufzeiten hinausgehen. Ähnlich betreiberfreundlich und ‚großzügig' sind die sonstigen Regelungen für den Atommüll.

Mit einem vorzeitigen Abschalten der Atomkraftwerke hat diese Vereinbarung nichts zu tun.

Die Konsens-Vereinbarung enthält weiterhin folgende bemerkenswerte Klausel:

"Während der Restlaufzeiten wird der von Recht und Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter gewährleistet; die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern."

Die Atomwirtschaft hat sich also auf der ganzen Linie durchgesetzt: Eine Verschärfung der Sicherheitsanforderungen braucht sie in Zukunft nicht mehr zu befürchten. Und die Regierung hat der Fiktion zugestimmt, die Sicherheit wäre bisher ausreichend gewesen.

Völlig unter den Tisch gefallen ist, dass mit der Nutzung der Atomenergie große Gefahren verbunden sind - der entscheidende Grund, den Ausstieg zu fordern.

Hier setzt die hier präsentierte Studie an. Ihre erste Version wurde Ende 1999 veröffentlicht. Die Kurzfassung liegt nunmehr in aktualisierter Form (Stand: Februar 2001) vor. An Beispielen wird gezeigt: Die Risiken der Atomenergie sind nicht bloß hypothetisch - dies beweisen real existierende Schwachstellen und Mängel bei verschiedenen Anlagen.

Im Rahmen von fünf Fallstudien werden insgesamt acht der 19 deutschen Atomkraftwerke behandelt. Dies bedeutet keineswegs, dass die nicht behandelten ausreichend sicher wären. Das beispielhafte Aufzeigen der Gefahren ist jedoch mehr als ausreichend, um zu belegen, dass der Atom-Konsens vom Juni 2000 nicht akzeptabel ist.


Fallstudie 1: Atomkraftwerk Biblis
Im Dezember 1987 fand in Biblis A der bisher schwerste Störfall statt, der sich je in Deutschland ereignete. Nur durch Glück konnte eine nukleare Katastrophe verhindert werden. Danach forderte die Aufsichtsbehörde zahlreiche Nachrüstungen, von denen bis heute nur ein kleiner Bruchteil umgesetzt wurde.

Die schwersten Mängel bestehen beim Schutz gegen Erdbeben. Bisher wurde davon ausgegangen, dass maximal ein Beben der Stärke 7,75 auf der MSK-Skala zu befürchten ist. Schon einem solchen könnten unzählige Rohrleitungen, Kabel und Ventile im Block A nicht standhalten.

Nach dem neuesten Erkenntnisstand reicht diese Annahme jedoch nicht aus. Ein im Dezember 1999 abgeschlossenes, bis heute nicht veröffentlichtes Expertengutachten belegt, dass mit stärkeren Belastungen gerechnet werden muss. Bei einem konsequent konservativen, d.h. auf der sicheren Seite liegenden Vorgehen müssen die bei einem Beben maximal wirkenden Kräfte etwa doppelt so groß angesetzt werden wie bisher.

Die Schwachstellen von Block A werden damit noch viel problematischer. Auch Block B ist gegen die höheren Lasten nicht ausgelegt. Eine Nachrüstung, die es gestatten würde, einem den neuen Annahmen entsprechenden Beben standzuhalten, ist praktisch nicht denkbar.

Schon allein aufgrund der großen Unsicherheiten, mit denen alle Vorhersagen von Erdbeben behaftet sind, müsste es selbstverständlich sein, konservativ vorzugehen - wie es auch schon das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Zusammenhang mit der Erdbebensicherheit des Atomkraftwerkes Mülheim-Kärlich festgestellt hat.

Dazu kommt, dass eine in den letzten Jahren neu entwickelte Methode zur Erfassung historischer und prähistorischer Erdbeben, die Paläo-Seismologie, Hinweise dafür geliefert hat, dass bisher an allen Standorten das Erdbeben-Risiko systematisch unterschätzt wurde - ein Grund mehr, nur mit konservativen Annahmen zu arbeiten.

Dennoch hat das Bundesumweltministerium (BMU) für den Standort Biblis nur eine teilweise, leichte Verschärfung der angenommenen Erdbebenlasten gefordert. Die Sorge um einen ungestörten Weiterbetrieb der Altreaktoren übertrifft offenbar die Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung bei Weitem. Dabei sind gerade die heute im BMU für die oberste Atomaufsicht im Bund zuständigen Beamten identisch mit jenen, die vorher jahrelang im Hessischen Umweltministerium für Biblis verantwortlich waren und in dieser Funktion zu Recht auf die Stillegung von Biblis A hingearbeitet hatten.

Konsens-Regelung: Biblis A darf etwa bis Ende 2007 am Netz bleiben, Biblis B bis 2011. Das entspricht insgesamt der Produktion von noch etwa 700 t hochaktiver abgebrannter Brennelemente.
Die am Standort Biblis beantragte Zwischenlagerkapazität beträgt 1.600 t.


Fallstudie 2: Atomkraftwerk Krümmel
Seit 1990 treten in der Umgebung von Krümmel gehäuft Leukämiefälle bei Kindern auf. Insgesamt sind es bis heute 11 Fälle - weit mehr, als rein statistisch zu erwarten wäre. Das Auftreten von Leukämie begann etwa 6 Jahre nach der Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes.

Ernstzunehmende Erklärungen für diese Erkrankungen, die von einer anderen Ursache als Strahlung ausgehen, gibt es bisher nicht. Gleichzeitig sind sich Fachleute aber einig darüber, dass die offiziell bekannt gewordenen Emissionen des AKW zu niedrig sind, um die Leukämiefälle erklären zu können.

Seit zehn Jahren untersuchen Gutachter, ob es einen Weg gibt, auf dem größere Mengen radioaktiver Stoffe an den Überwachungsmessungen vorbei in die Umgebung gelangen können. Die letzten Gutachten hätten ursprünglich schon 1998 abgeschlossen sein sollen, liegen aber bis heute noch immer nicht vor.

Es gibt eine Freisetzungsmöglichkeit, die bisher in der Diskussion kaum eine Rolle gespielt hat: Relativ große radioaktive Partikel (Crud) könnten aus dem Kühlwasser des Reaktors in die (ungefilterte) Abluft des Maschinenhauses gelangt sein. Der Luftstrom wird zwar durch Entnahme von Proben kontrolliert. Diese Kontrolle ist aber auf kleinste Schwebstoffe ausgerichtet, die in sehr großer Zahl auftreten. Es ist möglich, dass die größeren, statistisch seltenen Crud-Partikel nicht erfasst werden. Schon ein einzelnes Teilchen kann bei einem Kleinkind zu einer Strahlenbelastung führen, die Leukämie auslöst.

Seit Ende 1998 liegen Messergebnisse vor, die eine Kontamination mit Plutonium in der Umgebung von Krümmel zeigen. Das Kieler Ministeriums für Finanzen und Energie versuchte, diese Werte durch Bombenfallout und Tschernobyl-Freisetzungen zu erklären. Dazu passt aber der festgestellte hohe Anteil des Isotopes Pu-241 nicht.

In den letzten Monaten zeigte sich darüber hinaus, dass die gemessene Konzentration vor allem an Plutonium-241 sich mit zunehmender Annäherung an das AKW Krümmel und an das nahe gelegene GKSS-Forschungszentrum Geesthacht erhöht. Eine eindeutige Klärung der Herkunft der Kontaminationen war bisher allerdings nicht möglich. Vieles an den neuesten Messergebnissen spricht dafür, dass das Forschungszentrum Geesthacht - mit einem in Betrieb befindlichen und einem stillgelegten Forschungsreaktor - wesentlich zur Verstrahlung beigetragen hat.

Das Niedersächsische Landesamt für Ökologie hat nach eigenen Messungen die Kontamination durch Plutonium und andere Transurane in Abrede gestellt. Diese Messungen waren jedoch zu ungenau; teilweise wurden ungeeignete Meßmethoden eingesetzt. Weitere Untersuchungen sind unbedingt erforderlich.

Konsens-Regelung: Krümmel darf bis etwa 2017 am Netz bleiben. Bis dahin werden noch etwa 400 t hochaktive abgebrannte Brennelemente produziert.
Die in Krümmel beantragte Zwischenlagerkapazität liegt bei 1.500 t.


Fallstudie 3: Atomkraftwerk Obrigheim
Obrigheim ist das älteste der noch in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke und läuft seit über 30 Jahren. Es ist ein Unikat, mit vielen besonderen Merkmalen und Schwächen.

Im Gegensatz zu allen anderen deutschen Atomkraftwerken sind die Notkühlsysteme in Obrigheim nicht in der Lage, den vollständigen Abriss einer Hauptkühlmittelleitung zu beherrschen. Dies ist ein Problem, das Obrigheim mit den ältesten Reaktoren sowjetischer Bauart in Mittel- und Osteuropa teilt.

Noch 1978 wurde dieses Problem von offiziellen Gutachtern bestätigt. Zehn Jahre später war der 'Ausweg' gefunden: Es wurde postuliert, dass ein Bruch der Hauptkühlmittelleitungen auszuschließen sei. Begründet wurde dies mit der Qualität des eingesetzten Werkstoffes und der strengen Überwachung während des Betriebes.

Selbst bei modernen Anlagen ist ein solcher Bruchausschluss problematisch. Er wird als Sicherheitsnachweis daher international keineswegs in allen Ländern akzeptiert. Bei Altanlagen wie Obrigheim ist er schlichtweg nicht verantwortbar.

Die Bauteile dieser Anlage wurden zu einer Zeit gefertigt, als die Anforderungen an Werkstoffe erheblich weniger streng waren als heute. Dazu kommt der Qualitätsverlust durch Alterung und Ermüdung. Die Hauptkühlmittelleitungen bestehen aus verschiedenen Werkstoffen. Deren Eigenschaften konnten nur zum Teil an Proben überprüft werden. Außerdem ist grundsätzlich ungeklärt, inwieweit sich Erkenntnisse aus Probenexperimenten überhaupt auf reale Komponenten im Reaktorbetrieb und besonders auf die zusammengestückelten Hauptkühlmittelleitungen übertragen lassen.

Nachträglich wurde von den Fachleuten von Betreiber und Behörde auch noch bewiesen, dass das Notkühlsystem doch einem vollständigen Leitungsabriss gewachsen ist. Entscheidender Schönheitsfehler dabei: Es wurde lediglich eine nicht konservative 'best-estimate'-Berechnung durchgeführt, die keine Sicherheitsreserven enthält.

Die Vorschriften wurden in Obrigheim so flexibel interpretiert, dass im Zusammenspiel zwischen dem Betreiber, den Spitzen der Aufsichtsbehörde, dem TÜV als Behördengutachter und der Reaktorsicherheitskommission des Bundes der 'Nachweis' der Sicherheit dennoch geführt werden konnte.

Konsens-Regelung: Die Uralt-Anlage Obrigheim, 1969 in Betrieb gegangen, bleibt noch bis zum Jahr 2003 am Netz. Sie wird noch etwa 35 t hochaktive abgebrannte Brennelemente produzieren.
Obrigheim verfügt als einziges deutsches AKW bereits über ein Standort-Zwischenlager, das noch fast vollständig leer ist und eine Kapazität von 280 t aufweist.


Fallstudie 4: Atomkraftwerk Stade
Das AKW Stade, die zweitälteste deutsche Anlage nach Obrigheim, weist trotz Nachrüstungen ebenfalls Schwachstellen auf. Das wichtigste Sicherheitsdefizit ist die sehr starke Versprödung des Reaktordruckbehälters. Dieser enthält als Herzstück der Anlage den hochradioaktiven Brennstoff. Sein Versagen kann durch Sicherheitssysteme in keinem Fall beherrscht werden.

Die Versprödungsprobleme sind seit langem bekannt. Die Gutachter der Aufsichtsbehörde hatten dennoch Jahr für Jahr die Sicherheit des Behälters bestätigt. Neu hinzugezogene Sachverständige legten jedoch 1994 Ergebnisse vor, die belegten, dass die Situation erheblich schlimmer war als bis dahin bekannt: Die Versprödung war möglicherweise sehr viel weiter fortgeschritten als bisher angenommen und bei Störfallbetrachtungen waren in den früheren Gutachten nicht die für ein Durchreißen des Reaktordruckbehälters schlimmsten Fälle untersucht worden.

Fazit der neuen Gutachter: Der Sicherheitsnachweis weist schwerwiegende Lücken auf, die dringend und rasch weiter untersucht werden müssen. Sollte sich ein Schließen der Lücken als unmöglich herausstellen, droht die Stillegung.

Die Niedersächsische Aufsichtsbehörde leitete tatsächlich umfangreiche Untersuchungen ein. Allerdings: Jene Sachverständigen, die die Lücken im Sicherheitsnachweis gefunden hatten, wurden nicht mehr herangezogen. Federführend war vielmehr der TÜV-Norddeutschland, der jahrzehntelang unkritisch die Nachweise der Betreiber abgesegnet hatte.

Nach vierjähriger Arbeit gelang es dem Gutachterteam des TÜV, den Sicherheitsnachweis zu ‚reparieren'. Dabei wurden unter anderem neue Proben herangezogen, deren Repräsentativität allerdings ebenso fraglich blieb wie die des früheren Probenmaterials. Das Ergebnis kann nicht überraschen - der TÜV, der die Lücken im Sicherheitsnachweis lange Zeit übersehen hatte, würde sie kaum bestätigen und sich damit selbst grobe Nachlässigkeit bescheinigen ...

Die Versprödungsproblematik wird in den letzten Jahren intensiv untersucht und spielt bei internationalen Fachdiskussionen eine große Rolle - aber nur im Zusammenhang mit Kernkraftwerken in Mittel- und Osteuropa. In Stade, dessen Versprödungsprobleme durchaus mit jenen in alten Reaktoren sowjetischer Bauart vergleichbar sind, wird offenbar nicht mit dem gleichen Maß gemessen.

Konsens-Regelung: Stade könnte bis 2005 am Netz bleiben und noch knapp 100 t hochaktiven abgebrannten Brennstoff produzieren.
Am Standort ist ein Zwischenlager für 300 t beantragt.
Der Betreiber e.on plant allerdings, das AKW bereits 2003 stillzulegen - aus rein wirtschaftlichen Gründen, da zur Zeit eine beträchtliche Überkapazität bei der Stromerzeugung besteht. Das nicht genutzte Stromkontingent von Stade kann auf ein anderes AKW übertragen werden. Verpflichtend festgelegt ist diese Stillegung 2003 freilich noch nicht.


Fallstudie 5: Siedewasserreaktoren der Baulinie '69
Von der Baulinie '69 sind noch die Anlagen Brunsbüttel, Isar-1, Philippsburg-1 und Krümmel in Betrieb. Die drei zuerst genannten haben etwa die gleiche Leistung und sind in der Auslegung sehr ähnlich. Sie stehen hier im Vordergrund.

Kein anderer Reaktortyp in Deutschland war dermaßen von Pannen geplagt wie die Baulinie '69. Brunsbüttel ist Rekordhalter unter allen deutschen Atomkraftwerken: Die ungeplanten Stillstandszeiten von über einem Jahr Dauer summieren sich bei dieser Anlage auf insgesamt sechseinhalb Jahre. Die Erfahrungen in Isar-1 und Philippsburg-1 waren nicht viel besser.

Darüber hinaus ist mit der grundlegenden Bauweise dieser Reaktoren ein potenziell sehr schwerwiegendes Sicherheitsproblem verbunden: Bei einem Unfall mit Kernschmelzen kommt es praktisch zwangsläufig innerhalb eines Zeitraumes von drei Stunden bis zu einem Tag zum Durchschmelzen des Sicherheitsbehälters.. Das bedeutet besonders schwere frühzeitige radioaktive Freisetzungen.

Auch bei den Containments der anderen deutschen Atomkraftwerke ist frühzeitiges Versagen möglich. Diese spezielle Schwachstelle weisen sie jedoch nicht auf.

Eine Untersuchung der Folgen von Unfällen in Brunsbüttel und Krümmel für die nahe gelegene Stadt Hamburg zeigte die Notwendigkeit weiträumiger Evakuierungen im Stadtgebiet auf. Solche Maßnahmen, die selbst unter günstigsten Umständen sehr schwierig sind, wären aber bei frühem Versagen des Sicherheitsbehälters angesichts der kurzen Vorwarnzeiten völlig aussichtslos. Diese Ergebnisse sind auf die anderen Anlagen der Baulinie '69 übertragbar. In der Nähe von Isar-1 bzw. Philippsburg-1 liegen die Großstädte München bzw. Karlsruhe.

Als Gegenargument wurde ins Treffen geführt, Unfallabläufe mit Kernschmelzen seien derart unwahrscheinlich, dass sie praktisch nicht eintreten würden. Die dauernden Pannen und Störfälle, die die Anfälligkeit der Reaktoren zeigen, widersprechen dem jedoch. Außerdem sind die Ergebnisse von Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu ungenau und berücksichtigen nicht alle Einflussfaktoren.

Die Anfälligkeit des Containments gegen Durchschmelzen zählt zu den Schwachstellen des tschechischen Atomkraftwerkes Temelin, die in jüngster Zeit zu heftigen Kontroversen und Protesten geführt haben. Über das gleiche Problem wird bei deutschen Kraftwerken seit vielen Jahren nicht mehr geredet.

Konsens-Regelung: Brunsbüttel muss erst gegen Ende des Jahres 2008 stillgelegt werden; Isar-1 kann bis 2012, Philippsburg-1 bis 2013 weiterlaufen.
Die drei Reaktoren werden insgesamt noch ca. 600 t hochaktiven abgebrannten Brennstoff produzieren.
Die beantragte Zwischenlagerkapazität an den drei Standorten beträgt 5.100 t.
Sie ist auch für die Blöcke Isar-2 und Philippsburg-2 bestimmt, die gemeinsam in ihrer Restlaufzeit noch ca. 1.000 t abgebrannten Brennstoff produzieren können.


Schlussbemerkungen:
Wie ist es möglich, dass trotz der offensichtlichen und gravierenden Probleme und Risiken in Deutschland weiter Atomkraftwerke betrieben werden können - ja, dass sogar eine rot-grüne Bundesregierung diesen Gefahren keine Beachtung schenkt und unter dem Etikett des ‚Ausstiegs' den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke bis zum Ende ihrer kommerziellen Nutzungsdauer gestattet?

Aus den hier untersuchten Fallbeispielen kann eine Reihe von Missständen abgeleitet werden, die die Praxis der Atomenergie kennzeichnen und die auch unter der jetzigen Bundesregierung weiterbestehen:

Bei der Untersuchung von Gefahren wird nicht durchgängig konservativ vorgegangen.
Erkenntnisse, die Sicherheitsnachweise erleichtern, werden rasch und unkritisch übernommen; Effekte, die Nachweise erschweren, werden ignoriert.
Schwächen von Atomkraftwerken werden mit dem Hinweis auf die vorgeblich niedrige Wahrscheinlichkeit von Unfällen abgetan.
Die Betreiber von Atomkraftwerken haben weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl der Gutachter durch Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden.
Wenn es unumgänglich wird, Sicherheitsprobleme genauer zu überprüfen, so erfolgen die Untersuchungen fast immer bei laufender Anlage - im Zweifel wird also zu Gunsten der Betreiber entschieden.
Prüfungen werden häufig verschleppt und um Jahre verzögert.
Sicherheitsdefizite werden mit zweierlei Maß gemessen. Mängel, die zu Recht an 'Ost-Reaktoren' kritisiert werden, werden bei deutschen Anlagen totgeschwiegen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat die Situation weiter verschlimmert, weil sie in der Konsens-Vereinbarung darauf verzichtet hat, in Zukunft Sicherheitsanforderungen zu verschärfen.

Das Besondere an der Atomenergie sind die großen Gefahren, die von den Atomkraftwerken ausgehen. Ein schwerer Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk kann Millionen Opfer fordern, die Landkarte Mitteleuropas verändern und einen wirtschaftlichen Schaden in Billionenhöhe verursachen.

Das Risiko eines solchen Unfalles ist gegeben; darüber besteht allgemeiner Konsens. Dass es sich nicht bloß um ein vernachlässigbares 'Rest-Risiko' handelt, zeigen unter anderem die real existierenden Mängel und Probleme bei deutschen Anlagen, von denen hier einige Fallbeispiele vorgestellt wurden. Ebenso real ist die schleichende Bedrohung durch unkontrollierte Emissionen im unfallfreien Betrieb.


Kasten:

Die Laufzeiten der Atomkraftwerke
Bei der Ermittlung der Laufzeiten wurde im Rahmen der Konsens-Verhandlungen 2000 wie folgt vorgegangen:

Zunächst wurde eine Gesamtlaufzeit von 32 Kalenderjahren für jedes AKW festgelegt und auf dieser Basis die Restlaufzeit ab 01.01.2000 ermittelt.
Dann wurde für jedes Kraftwerk jene Strommenge genommen, die dem Durchschnitt der bisherigen fünf besten Betriebsjahre entspricht.
Dieser Wert wurde noch um 5,5 % erhöht. Ergebnis: Ein (fiktiver) Wert für die Jahresproduktion an Strom des betreffenden Kraftwerkes.
Die fiktive Jahresproduktion wurde mit der Restlaufzeit multipliziert. Es resultiert die Gesamtstrommenge, die ein Kraftwerk noch produzieren darf.
Das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich wird nicht in Betrieb genommen; die Strommenge, die es noch hätte produzieren können (angenommen wurden 107,25 Milliarden Kilowattstunden) darf aber bei der Strommenge anderer Kraftwerke draufgeschlagen werden.
Bei der Ermittlung der Strom-Kontingente für die einzelnen Atomkraftwerke wurde also zwar von 32 Jahren Gesamtlaufzeit ausgegangen, die Arbeitsauslastung der Kraftwerke wurde aber unrealistisch hoch angenommen (beste Betriebsjahre als Basis, und noch ein Zuschlag) - im Mittel mit etwa 95 %, während der bisher tatsächlich erreichte Durchschnittswert bei etwa 80 % liegt.

Außerdem wurde die zu produzierende Menge durch das Kontingent für Mülheim-Kärlich noch erhöht - ein Kontingent für ein Kraftwerk, das wegen Erdbebengefahr durch Gerichtsurteil gestoppt und außerdem völlig veraltet ist. 20 % davon dürfen auf Biblis B übertragen werden, eine andere gefährliche Altanlage.

Wohlgemerkt: Verbindlich festgelegt ist nicht die (auch schon zu lange) Gesamt-Betriebsdauer von 32 Jahren, sondern lediglich die noch zu produzierende Strommenge. Wird auf Grundlage dieser Strommenge und einer realistischen Arbeitsauslastung von 80 % ermittelt, wie lange die Atomkraftwerke laufen können, ergibt sich im Mittel eine Gesamtlaufzeit von rund 35 Jahren - etwa so viel, wie von Anfang an als kommerzielle Nutzungsdauer der Atomkraftwerke geplant. Sinkt die Arbeitsauslastung in Zukunft aufgrund von Alterungserscheinungen in den Anlagen auf beispielsweise 70 %, entspricht dies Gesamtlaufzeiten von 37,5 Jahren.

Durch einen rechnerischen Trick mit versteckten unrealistischen Annahmen wird es also möglich, dass aus 32 scheinbaren Betriebsjahren in der Realität 35 (oder 37,5) werden können!

Die bei den Fallstudien angegebenen Stillegungszeitpunkte lt. Konsens-Vereinbarung wurden auf der Grundlage von 80 % Auslastung ermittelt, können sich also noch um einige Jahre in die Zukunft verschieben.

Im übrigen ist eine Verschiebung von Strommengen von alten auf neue Atomkraftwerke zulässig. Weniger rentable, kleine Kraftwerke werden daher u.U. früher abgeschaltet, um andere umso länger betreiben zu können.

Mittlerweile können die Rechenannahmen des Konsens bereits an der Praxis überprüft werden, da die Betriebsdaten für das Jahr 2000, das erste Jahr, das in die Konsens-Regelung fällt, bereits vorliegen. Die mittlere Arbeitsauslastung 2000 lag bei den deutschen Atomkraftwerken bei 86 % - das ist besser als der langjährige Durchschnitt, aber deutlich schlechter als die im Rahmen des Konsens angenommenen 95 %!




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