Anti Atom Aktuell

August 1999

 

Die Russische Anti-Atom-Bewegung

von Vladimir Slivyak

Nachdem infolge der Tschernobyl-Katastrophe die ersten Anti-Atom-Gruppen in der Sowjetunion in Erscheinung traten, wurde es eine mächtige Massenbewegung, die Millionen von Menschen in Demonstrationen und Protest gegen Atomkraft verband.

Damals war diese Bewegung ein Teil der Perestroika-Bewegung, die politische Veränderungen in der UdSSR forderte. Wie bekannt, hat diese politische Bewegung ihr Ziel erreicht - die UdSSR zerfiel 1991. Die Anti-Atom-Bewegung war allerdings nicht so erfolgreich, alle kerntechnischen Anlagen abzuschalten, aber es wäre nicht korrekt zu sagen, sie hätte ihre Ziele überhaupt nicht erreicht: Statistiken zufolge wurden im Zeitraum zwischen 1988 - 1992 weit über 100 zur Atomindustrie gehörenden Bau- bzw. Entwicklungsstandorte geschlossen. Die Anti-Atom-Bewegung hat eines ihrer grundsätzlichen Ziele erreicht - mit Erfolg wurde die Weiterentwicklung der Atomindustrie in der UdSSR gestoppt. Das zweite Ziel ist die Abschaltung aller noch in Betrieb befindlicher Atomanlagen.

Die Anti-Atom-Aktivisten der früheren UdSSR wurden im Laufe der Zeit viel erfahrener und arbeiten jetzt so effektiv wie nie zuvor; die Atomindustrie sieht sich heute einem starken Team professioneller Kampaigner gegenüber, die erfolgreich auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene gegen die Weiterentwicklung der Atomtechnologien aktiv sind.

Über dieses Engagment hinaus stellen die Anti-Atom-Gruppen einen bedeutenden Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft dar. In einer solchen Gesellschaft sollten die Menschen das Grundrecht auf Respektierung ihres freien Willens und Einflußnahme auf Entscheidungsträger besitzen. Diese Gesellschaft ist in Rußland im stetigen Aufbau begriffen.

Im November 1995 organisierten Anti-Atom-Aktivsten in Kostroma ein lokales Referendum. Die Bevölkerung wurde befragt, ob das Atomkraftwerk im Gebiet von Kostroma gebaut werden soll. 87,4% sprachen sich gegen die geplante Nukleartechnologie aus. Die Atomlobby verwand einige 100.000 Dollar zur Durchführung ihrer Propaganda zu diesem Referendum. Da aber die Anti-Atom-Aktivisten bereits einige Jahre vor dem Referendum die Meinungsbildung in der Region Kostroma initiiert hatten, war ihre Öffentlichkeitsarbeit erfolgreich.

Im Zeitraum Juli/August 1996 begannen Aktivisten von ECODEFENSE! eine Kampagne gegen die Atomtransporte in Kaliningrad. Die russische Atomindustrie führt regelmäßig Transporte radioaktiven Materials über den Seeweg ins Ausland über Kaliningrad durch. Am 30. Juli 1996 versuchte ein mit Uranium-Hexafluorid beladenes Schiff den Hafen von Kaliningrad anzulaufen, bekam jedoch keine Erlaubnis. Dank der erfolgreichen politischen Arbeit durch 'Ecodefenders' und der Unterstützung durch die Massenmedien mußte das Schiff nach zwei Wochen umdrehen. Die Anti-Atom-Aktivisten forderten auch zukünftig beabsichtigte Transporte radioaktiven Materials in Kaliningrad zu verhindern, da sie eine große Gefahr für Umwelt und Bevölkerung darstellen.

Im September 1996 führte die Atomindustrie aufgrund der Transportverhinderung einen Prozeß gegen ECODEFENSE!. Der russische Hauptstaatsanwalt für Meerestransporte ordnete Untersuchungen zu dieser Kampagne der Anti-Atom-Aktivisten an. Das Ergebnis der Untersuchungen war: der Transit radioaktiven Materials durch Kaliningrad verletzt mehrere russische Gesetze - das Verfahren wurde eingestellt. Diese Begebenheit bestätigte einmal mehr, daß Bundesgewalten und die Atom-Kontrollbehörde Rußlands momentan schwach sind und daß nur unabhängige Organisationen die Atomindustrie zwingen können, die Bundesgesetzgebung zu respektieren und über eigene wirtschaftliche Interessen zu stellen. Die Atomindustrie mußte die Kosten der Kampagne gegen Atomtransporte abdecken - etwa 1 Mio. Dollar, die durch das zwei Wochen nahe Kaliningrad auf Erlaubnis wartetende Schiff entstanden.

Im Herbst 1996 bildete die Kaliningrader Duma eine Kommission, in der Vertreter von ECODEFENSE! offizielle Mitglieder wurden. Die Kommission entwickelte ein Gesetz zum Schutz der regionalen Bevölkerung vor den Gefahren von Radioaktivität. Das Gesetz soll vom Parlament bis spätestens Ende 1999 verabschiedet werden und es wird erwartet, daß dadurch zukünftige Möglichkeiten für Atomtransporte in dieser Region unterbunden werden.

Im Juli 1998 wurde ein Anti-Atom-Camp durch die Sozio-Ökologische-Union nahe einem der ältesten und gefährlichsten Atomkraftwerke auf der Halbinsel Kola organisiert. Mehr als 150 Aktivisten kamen in einem Protestforum gegen Atomtechnologien zum Erfahrungsaustausch zusammen. Fast alle in dieser riesigen Region Rußlands (teilweise erstrecken sich Gebiete bis über den Polarkreis) verfügbaren Polizei- und Armeekräfte wurden zum Schutz des Atomkraftwerkes vor den Atomkraftgegnern ausgesandt. Obwohl die Polizei das Camp rund um die Uhr überwachte, gelang es am 29.Juli einer Gruppe von Aktivisten ein großes Transparent mit "Das Atomkraftwerk ist der stille Tod" auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes der Atomanlagen zu entrollen. Die Aktion verfolgte das Ziel, die Öffentlichkeit auf das AKW auf Kola mit seinen geringen Sicherheitsstandard und immensen Gefahren aufmerksam zu machen.

Seit mehr als 10 Jahren seiner Existenz hat die russische Anti-Atom-Bewegung viele Dinge gelernt, vor allem aber erfolgreich zu agieren. Ohne diese Fähigkeit wäre die Bewegung schon längst zerfallen. Fest steht: Es gibt gegenwärtig keine neuen Atomkraftwerke, die sich im Bau befinden, und das ist nicht nur auf die wirtschaftliche Misere zurückzuführen.

Die Anti-Atom-Arbeit ist immer noch die größte Herausforderung für Umweltschützer in der früheren Sowjetunion. Da es engagierte Menschen gibt, die sich immer wieder dieser Herausforderung stellen, steigen allmählich die Chancen, die zukünftigen Generationen vor neuen 'Tschernobyls' und Kalten Kriegen bewahren zu können.

Hosted by www.Geocities.ws

1