Anti Atom Aktuell

Agust 1999

Prognosen sind angesichts der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schwierig

Die Situation in der russischen Atomwirtschaft

In Rußland sind heute noch 29 Atomreaktoren in Betrieb. Man unterscheidet grundsätzlich zwei Typen. Es gibt Reaktoren des Typs WWER 440 sowie WWER 1000. Weder für den Bau neuer Atomkraftwerke noch für Maßnahmen der atomaren Sicherheit sind Gelder vorhanden. Im Jahre 2010 müßten 25 von diesen 29 Atomkraftwerken außer Betrieb genommen werden. Natürlich versucht Rußland gegenwärtig, Gelder für den Bau neuer Atomkraftwerke aus Westeuropa oder den USA zu erhalten.

"Ausstiegs"gedanke in Rußland

Der Anteil der Atomenergie an der Geamtenergieerzeugung Rußlands beträgt etwa 10 Prozent. Von einem Präsidentenberater der letzten Amtsperiode wurde noch 1996 der Vorschlag unterbreitet, diesen Atomenergieanteil durch technische Aufrüstung der anderen Energiewerke relativ leicht zu kompensieren. Das letzte Treffen zwischen dem Minister für Atomenergie und verschiedenen Umweltinitiativen im Oktober 1998 brachte keine Annäherung in dieser Hinsicht.

Sicherheitsproblematik russischer AKW

Die letzten zehn Jahre haben bewiesen, daß die russischen Atomkraftwerke nicht auf das vergleichbare westdeutschen Sicherheitsniveau geführt werden können, was allerdings nicht implizieren soll, daß der westliche Sicherheitsstandard ausreichend oder als besonders hoch anzusehen wäre. Andererseits hat Westeuropa und die USA insgesamt in den letzten zehn Jahren mehrere zehn Milliarden Dollar in die Erhöhung der Sicherheit russischer Atomkraftwerke investiert. Aber in den Atomkraftwerken finden nach wie vor Unfälle statt. Das eine Sicherheitsproblem ist technischer Art, das andere besteht in der unzureichenden Qualifikation des Betriebspersonals.

Auf der Kola-Halbinsel, nördlich des Polarkreises, gibt es ein Atomkraftwerk, in dem sich vor kurzem eine Havarie ereignete - der Reaktor mußte abgeschaltet werden. Angestellte hatten Teile aus den Überwachungsgeräten entfernt, abgeschraubt oder mitgenommen, um sie weiterzuverkaufen. Vielleicht kann man das Verhalten dieser Menschen angesichts ausbleibender Gehälterzahlungen und der daraus resultierende schwierigen finanziellen Situation nachvollziehen.

Zusammenarbeit mit westlicher Atomindustrie - Finanzhilfen

Zwischen den russischen Atomlobbyisten und den Atomvertretern der westlichen Welt bestehen zahlreiche Kontakte in der Zusammenarbeit. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit beispielsweise, die in Deutschland keine Aussichten auf längeren Fortbestand hat, verlagert zunehmend ihr aktives Spielfeld in östliche Richtung, wo uneingeschränkt geforscht werden kann und erforderliche Gelder dafür aus dem Fond der Europäischen Gemeinschaft akquiriert werden können.

Diese Aktivitäten sind ambivalent. Auf der einen Seite ist es positiv, wenn zahlreiche Fachleute bemüht sind, den Sicherheitszustand der russischen Reaktoren zu verstehen und schrittweise zu verbessern. Auf der anderen Seite tragen diese Arbeiten dazu bei, daß Anlagen, die endlich stillgelegt werden müßten, auf diese Weise weiterbetrieben werden können.

Die Frage nach der Effektivität westlicher Hilfe stellt sich. Laut ECODEFENSE ist in den amerikanischen Hilfsprojekten für Rußland ein relativ hoher Anteil direkter technischer Hilfe enthalten. Es gibt eine Liste mit bestimmten technischen Ausrüstungen, die geliefert werden. Es geht dabei beispielsweise konkret um Systeme der Feuerüberwachung, zur elektrischen Überwachung , sowie um Systeme der Überwachung von Rohrleitungen des Primärkreislaufes eines Kernkraftwerkes.

Dieser Aspekt ist besonders interessant angesichts eines kürzlich veröffentlichte Berichts des Europäischen Rechnungshofes, der analysiert, wie die EU-Fördermittel zur Erhöhung der Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke verwendet wurden. Der Bericht des Rechnungshofes geht hart mit der EU-Finanzmittelvergabe ins Gericht. Es fehlen Nachweise und Abrechnungen für die Verwendung der Gelder. Es wurden viele Studien erstellt, oftmals zu sich überlagernden bzw. sich gleichenden Thematiken ähnlichen Inhalts. Dabei stehen sie in Anzahl und Umfang in keinem Verhältnis zu wirklich umgesetzten technischen Verbesserungen in den Anlagen. Es ist für den europäischen Rechnungshof aufgrund fehlender Abrechnungsbelege oft nicht nachvollziehbar gewesen, was wirklich realisiert wurde und wie dadurch der Sicherheitsstandard der Kernkraftwerke verändert wurde.

Hintergrund zur Zusammenarbeit in der Atomwirtschaft

Im vergangenen Jahr sind zwei Vereinbarungen, eine zwischen Rußland und Deutschland, die andere zwischen Rußland, Frankreich und Deutschland unterzeichnet worden.

Durch die erste Übereinkunft soll die Ausfuhr von Energie von Rußland nach Deutschland geregelt werden, indem Rußland mit Atomstromlieferungen über einen in naher Zukunft international vorhandenen Energienetzverbund im Zuge der Liberalisierung des Strommarktes (s. a. Artikel von A. Lämmermann: "Deutsche Beteiligung an Atomkraftwerken in Osteuropa" in diesem Heft) seine Schulden an Deutschland schrittweise begleichen könnte. Interessant auch angesichts einer derzeit vorhandenen 25 % Energieüberschusses russischer Reaktoren. De facto ließe sich bereits heute ohne Defizite jeder vierte Reaktor vom Netz nehmen.

Die zweite Übereinkunft beinhaltet Vereinbarungen über den Bau neuer Reaktoren. Erklärtes Ziel ist der Bau des bereits entwickelten Europäischen Druckwasserreaktors (EPR), ursprünglich geplant in Smolensk in Kooperation mit SIEMENS und der französischen Nuklearfirma FRAMATOM. Eine ministeriumseigene Reaktorneuentwicklung des Typs UWR 640 wurde in der Erprobungsphase durch SIEMENS unterstützend begleitet.

Angesichts der START-Verträge zwischen der USA und Rußland sind 50 Tonnen waffenfähiges Plutonium zu vernichten . Mit dem UWR 640 soll eine der beiden möglichen Verwertungstechnologien, umgesetzt werden: die Verarbeitung des Plutonium als Beimischung in Brennmaterial (MOX-Brennelemente) .

Konzepte der russischen Atomwirtschaft

Das Ministerium für Atomenergie versucht über zweierlei Wege, gegenwärtig fehlende Gelder für den Fortbestand der Atomwirtschaft zu erhalten:

Zum einen wird versucht, den Ankauf atomarer Abfälle westlicher Staaten zur Lagerung in Rußland in naher Zukunft zu ermöglichen (Legitimation von Atommülltransporten). Die zweite Idee des Ministeriums sieht vor, Plutonium als Brennmaterial für Atomkraftwerke zu nutzen (MOX-Technologie, s. a. Erläuterungen zuvor).

Es gibt zwei grundlegende Gesetze, die bei der erstgenannten Verfahrensweise zur Geltung kommen:

Das Umweltschutzgesetz, das jeglichen Transport bzw. Import verbietet
und eine Erklärung des Präsidenten, die eine Einfuhr ausländischen atomaren Restmaterials mit Verbleib im Lande ausschließt.
Durch eine gegenwärtige Initiative zur Gesetzesänderung in der DUMA versucht das Ministerium bestehende gesetzliche Schranken auszuhebeln. Dank der maßgeblichen Intervention von staatlicher Energieaufsichtsbehörde und dem Ministerium für Umweltschutz gegen diese Absichten in der DUMA konnte bis jetzt noch eine Änderung abgewendet werden..

Anfang des Jahres haben Rußland und Deutschland bereits sogar eine geheime Vereinbarung getroffen, die den Verbleib von bei der Wiederaufarbeitung entstehenden Reststoffen in Rußland enthält (Transport von mehr als 1000 Tonnen atomarer Rückstände). In Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz besteht ein großes Interesse, diese Abfälle in Rußland zu entsorgen. Es existiert ein Dokument, daß eindeutig das Vorschlagsangebot des Atomenergieministeriums an die USA, atomare Rückstände in Rußland lagern zu können, enthält.

Mit einer Veränderung der Gesetzeslage wäre der beabsichtigten internationalen Atommüllverschiebung nach Rußland offiziell die Tür geöffnet, das lästige Entsorgungsproblems westlicher Staaten händereibend ostwärts verlagert.

Ausblick und Enwicklung der Anti-Atom-Bewegung

Die Anti-Atom-Bewegung in Rußland ist auf politischer Ebene einflußreicher als vor zehn Jahren geworden, wenn auch die Zahl der aktiven Mitstreiter zurückgegangen ist. Demgegenüber hat sich die Widerstandsarbeit professionalisiert und an Effektivität gewonnen, weltweite Vernetzungen bestehen und werden ständig erweitert.

Obwohl immer noch viele Einheimische in der Umgebung der Kernkraftwerke in der einen oder anderen Weise davon leben, regt sich in den Großstädten Rußlands der öffentliche Widerstand. Ein interessanter Aspekt, befinden sich doch etwa 10 Reaktorstandorte in der Nähe von Großstädten. Gesehen an der Gesamtbevölkerung der russischen Föderation, ist der Bevölkerungsteil der wirtschaftlich davon abhängt, sehr gering.

Verschiedene Organisationen und Initiativen der Anti-Atom-Bewegung wollen nun in Rußland ein Referendum über den Atomausstieg organisieren, das in ein bis zwei Jahren stattfinden soll. Wir hoffen auf eine bedeutende Veränderung in der kommenden Zeit.

für weitere Informationen und Kontakte:

Antinuclear campaign at Socio-Ecological Union
PO Box 211
121019 Moscow, Russia
Tel: 7-095-7766546, 2784642
email: [email protected]/antinuklear
http://www.ecoline.ru/antinuklear

ECODEFENSE! / WISE Russia
Mokovsky prospekt 120-34
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Tel/Fax 7-0112-437286
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