Anti Atom Aktuell

September 2000

 

Der Super-GAU ist möglich - auch in Deutschland, und immer grenzenlos!


Deutsche Atomkraftwerke sind nicht katastrophensicher. Trotz aller Sicherheitssysteme und trotz des vielgepriesenen Containments sind schwere Unfälle möglich, mit radioaktiven Freisetzungen, die denen des Tschernobyl-Unfalles gleichkommen.

Das bedeutet: Die Folgen eines Reaktorunfalles in Deutschland werden jenen von Tschernobyl vergleichbar sein - ungeachtet aller Unterschiede im Reaktortyp: Millionen Menschen sind betroffen, Hunderttausende Quadratkilometer Land verstrahlt.

Innerhalb weniger Stunden kann die radioaktive Wolke freigesetzt werden. Die Milderung der Unfallfolgen durch Evakuierung ist besonders im dicht besiedelten Deutschland reine Illusion.

Die Behauptung, die Wahrscheinlichkeit schwerer Unfälle wäre praktisch vernachlässigbar, entbehrt der seriösen Begründung. Die Berechnungen solcher Wahrscheinlichkeiten sind unvollständig und durchgängig zu optimistisch.

Und da die Regierung sich verpflichtet hat, keine Initiativen zur Weiterentwicklung des Sicherheitsstandards zu ergreifen, kann es in den kommenden Jahren nur noch schlimmer werden.

Der Super-GAU ist möglich. Er wird nicht zwangsläufig in den nächsten Jahrzehnten eintreten - aber er kann eintreten, und zwar jederzeit. Die rot/grüne Bundesregierung hat dies offensichtlich vergessen.

von Dr. Helmut Hirsch
Sprecher der BUND-Strahlenkommission

 

Deutsche Atomkraftwerke sind nicht katastrophensicher

Natürlich ist der Super-GAU möglich; darüber kann es seit Tschernobyl keine Diskussion mehr geben. Aber in Deutschland? Die Atomlobby beruhigt uns: Die deutschen AKWs können nicht hochgehen wie der Tschernobyl-Reaktor. Und für den Fall der Fälle haben sie eine Sicherheitshülle, ein Containment. Also kann bei uns nichts passieren.

Das ist leider falsch! Wohl kann genau das, was am 26. April 1986 in der Ukraine abgelaufen ist, in deutschen AKWs nicht passieren - sie sind von einem anderen Reaktortyp. Daher ist es nicht möglich, daß die Kettenreaktion dermaßen außer Kontrolle gerät wie in Tschernobyl. Den Opfern eines Reaktorunfalles dürfte es aber relativ egal sein, ob die radioaktive Wolke, die sie umbringt, durch eine wild gewordene Kettenreaktion sowjetischen Ursprunges verursacht wurde, oder durch eine andere Ursache, wie sie in Deutschland möglich ist.

Dies kann etwa eine heftige Explosion von Wasserstoffgas sein, wie es frühzeitig im Verlauf einer Kernschmelze entsteht. Auch Dampfexplosionen oder das Durchschmelzen des Reaktorkessels bei hohem Innendruck können zu schlagartigen, gewaltigen Freisetzungen in deutschen Leichtwasserreaktoren führen. Das vielgepriesene Containment nützt in allen diesen Fällen überhaupt nichts; es wird nämlich gleich mit zerstört.

Große radioaktive Freisetzungen innerhalb weniger Stunden werden auch eintreten, wenn das Containment nicht dicht ist - es wird von unzähligen Rohrleitungen durchdrungen, jede einzelne eine mögliche Schwachstelle. Schäden an den Heizrohren der Dampferzeuger - dünnen Röhrchen, von denen es Tausende gibt - können bei Druckwasserreaktoren das Containment ebenfalls wirkungslos machen. Bei einigen deutschen Siedewasserreaktoren schmilzt es ohnehin innerhalb von Stunden durch.

Und selbst bei einem Kernschmelzunfall, bei dem all dies vermieden werden kann, kommt es nach einigen Tagen immer noch zur Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe; sei es, weil das Containment schlicht wegen des zu hohen Innendrucks versagt, oder weil gezielt eine Freisetzung durchgeführt wird, um eben diesen Druck abzubauen.

Auch neue Reaktortypen wie der EPR oder der SWR 1000, deren Entwicklung nach wie vor nicht aufgegeben wurde, weisen im Wesentlichen die gleichen Schwächen auf wie die zur Zeit laufenden Anlagen. Auch sie sind nicht katastrophensicher.

Entscheidende Frage: Die Folgen eines Reaktorunfalles

Für den Reaktortechniker oder den Physiker ist es zweifellos sehr wichtig, welche Schwächen, Defizite und Irrtümer nun im Einzelnen zu einem Reaktorunfall geführt haben oder führen können. Bei den Folgen macht es keinen großen Unterschied.

In diesem Punkt, dem entscheidenden, kann Tschernobyl durchaus als Illustration dafür dienen, was auch in Mitteleuropa jederzeit eintreten kann: Viele Millionen betroffene Menschen, und Hunderttausende Quadratkilometer verstrahlten Bodens. Und diese Folgen erstrecken sich weit in die Zukunft, sie betreffen nicht bloß eine Generation. Vor kurzem, 14 Jahre nach dem Tschernobyl-Unfall, wies ein Büro der Vereinten Nationen darauf hin, daß "die wirkliche Katastrophe für Menschen, Wirtschaft, Gesellschaft, Gesundheit und Umwelt gerade erst begonnen" hat.

Eine Milderung der Unfallfolgen durch rechtzeitige Evakuierung ist überall problematisch, wie Tschernobyl ja auch gezeigt hat. Im dicht besiedelten Deutschland ist sie reine Illusion. Wie gesagt, dauert es bei manchen Unfallabläufen nur wenige Stunden, bis eine radioaktive Wolke freigesetzt wird. Auch etwas längere Vorwarnzeiten wären nicht ausreichend. Ganz abgesehen davon schafft selbst die effizienteste Evakuierung menschliches Leid, greift dramatisch in das Leben der betroffenen Menschen ein. Ganze Städte können als funktionierende soziale Einheiten ausgelöscht werden.

Die Sache mit den Wahrscheinlichkeiten

Clevere Atomlobbyisten führen an dieser Stelle gerne das große "Ja, aber ..." ins Treffen. Rein theoretisch träfe das alles zu, argumentieren sie. Aber ein solcher Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk sei dermaßen unwahrscheinlich, mathematisch gesehen geradezu unglaublich, so daß er praktisch doch mit gutem Gewissen ausgeschlossen werden könnte.

Als Beweis dafür dienen sogenannte "Probabilistische Sicherheits-Analysen". Dabei werden die Versagenswahrscheinlichkeiten einzelner Komponenten und die Eintrittswahrscheinlichkeiten einzelner Störungen ermittelt und in komplizierten mathematischen Modellen kombiniert, um auf diese Weise die Wahrscheinlichkeiten schwerer AKW-Unfälle zu berechnen. Was dabei herauskommt, sind die wohlbekannten Aussagen der Art "... höchstens einmal in einer Million Jahren ..."

Eine solche Behauptung soll beruhigend wirken. Ganz abgesehen davon, daß auch ein Ereignis mit winziger Wahrscheinlichkeit schon morgen eintreten kann, hat sie allerdings mehr mit Scharlatanerie zu tun als mit seriöser Wissenschaft. Es ist prinzipiell nicht möglich, in einer Sicherheitsanalyse sämtliche Einflußfaktoren zu erfassen. Danebengegangene Rettungsversuche der Betriebsmannschaft können ebensowenig berücksichtigt werden wie etwa neuartige physikalische Phänomene, wie sie in der Vergangenheit schon mehrmals bei Unfällen und Störungen aufgetreten sind. Und manche wichtigen Faktoren können nur sehr grob, bestenfalls im Rahmen einer Art "über-den-Daumen-Abschätzung", in Zahlen gefaßt werden, wie beispielsweise die Wahrscheinlichkeit schwerer Erdbeben.

Damit noch nicht genug. Probabilistische Sicherheits-Analysen werden in Deutschland im Rahmen der periodischen Sicherheitsüberprüfungen der AKWs durchgeführt. Die (nach wie vor gültigen) Leitlinien für diese Überprüfungen sind durchgängig "großzügig" und kommen den AKW-Betreibern sehr entgegen. So ist nicht zwingend vorgeschrieben, die Risiken von Bränden sowie Erdbeben und anderen äußeren Einwirkungen überhaupt einzubeziehen. Auch die Gefahren beim An- und Abfahren der Reaktoren sowie während des Anlagenstillstandes, etwa beim Brennelemente-Wechsel, brauchen nicht mitgerechnet zu werden.

Im Dezember 1987 kam es im AKW Biblis um ein Haar zu einem schweren Unfall, bei dem das Containment wirkungslos gewesen wäre. Ein wichtiges Ventil war beim Hochfahren des Reaktors versehentlich offen geblieben und ließ sich nicht schließen Um nicht abschalten zu müssen, spielten die Operateure ein waghalsiges Spiel: Durch Öffnen eines zweiten Ventils sollte das Klemmen des ersten beseitigt werden. Gleichzeitig war das der Beginn eines Super-GAU - Kühlmittel aus dem Reaktor strömte aus. Nach 7 Sekunden ging das zweite Ventil durch reines Glück wieder zu.

Die Wahrscheinlichkeit dieses Unfalles nach der offiziellen "Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke": Einmal in 33 Millionen Betriebsjahren ... !!

"... die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen ..."

Das alles ist schon schlimm genug. Und nach dem Willen der Bundesregierung wird es in den kommenden Jahren noch schlimmer werden. Die rot/grüne Regierung hat im Juni eine Vereinbarung mit den AKW-Betreibern unterschrieben, in der sie sich verpflichtet, keine Initiative zu ergreifen, um den derzeitigen Sicherheitsstandard und die zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.

Das erklärt jene Körperschaft, die die oberste Aufsicht über die Atomanlagen in Deutschland ausübt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Reaktorrisiken oder Strahlengefahren, Störfälle in anderen Ländern, neuartige Probleme mit Werkstoffen ... die Bundesregierung hat sich praktisch selbst zur Untätigkeit verurteilt. Es muß schon knüppeldick kommen und die Gefahren müssen schon offensichtlich sein, damit sie handeln kann. Dann kann es aber auch schon zu spät sein.

Und welche Landesregierung wird noch zu einem strengen Vollzug des Atomgesetzes nach Stand von Wissenschaft und Technik bereit sein, wenn klar ist, daß von dem weisungsbefugten Bundesumweltministerium keinerlei Rückendeckung zu erwarten ist? Nicht daß Landesregierungen bisher viel bewegt haben auf diesem Gebiet. Aber selbst sporadische Vorstöße wie jene, die in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Betreiber in Norddeutschland schon mal in argumentativen Notstand brachten und auch zeitweise Stillstände von AKWs erzwangen, werden unter den jetzt gegebenen Voraussetzungen nicht mehr gewagt werden.

Der Super-GAU ist möglich

Gemessen an der alltäglichen Erfahrung ist der Super-GAU ein seltenes Ereignis. Wenn bestehende Atomkraftwerke in Deutschland bis etwa zum Jahre 2025 oder 2030 weiter betrieben werden, wie es Regierung und Elektrizitätswirtschaft auf der Grundlage der Vereinbarung vom Juni 2000 planen, wird die Katastrophe in dieser Zeit keineswegs zwangsläufig eintreten.

Aber sie kann eintreten, sie ist jederzeit möglich. Mit der Atomenergie leben, bedeutet mit der dauernden Gefahr schwerer radioaktiver Freisetzungen zu leben, mit der Gefahr der Verstrahlung ganzer Länder, mit Umsiedlungen, Krankheit und Tod. Die rot/grüne Bundesregierung hat dies offensichtlich schon vergessen.

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