An diesem Abend beglückte uns seit
längerem wieder einmal der treffliche Pjotr Adamowitsch Schostakowskij
mit einem seiner seltenen Concerte auf dem Pianoforte im Saale des Conservatoriums.
Wiewohl wir diesem Meister aus Kullaks und Liszts Schule
immer wieder reiche Bewunderung gezollt haben, gab er uns doch dieses Mal Grund zur Klage.
Nicht sein Spiel allerdings war es, das uns befremdete. Dieses konnten wir ein ums andere
Mal bester Qualitäten rühmen - und sichert ihm dies auch einen vorderen Platz unter
den Virtuosen unseres Landes. Vielmehr war es die Aufführung einer so genannten
Sonate-Fantaisie für das Pianoforte, welche wenig Gefallen,
ja offenes Mißfallen erregte. Pjotr Adamowitsch schien sich in den Kopf gesetzt zu haben,
für das Werke eines uns gänzlich unbekannten Zeitgenossen einzutreten. Wir jedenfalls
hatten noch nichts von Gustav Hansowitsch Strümpel gehört. Wer nun ist
dieser Tonsetzer? Wie wir erfahren durften, nicht allein ein Freund des Virtuosen, sondern auch
gar kein Komponist. Wollte man ihm gnadenhalber solchen Rang dennoch zubilligen, so gehört
er zweifelsohne zu den Vertretern einer Art von Musik, deren Charakter vom Chaos der Form und
der Willkür in der Harmonie bestimmt ist. Hatte Robert Schumann
einst die Chopin'sche Sonate in B-Moll (mit dem Trauermarsch) als vier von des Komponisten
tollsten Kindern bezeichnet, die jener, einer Laune folgend, vereinigt habe, stehen wir nicht
an, diese Sonate-Fantaisie in Es-Moll, Opus 5, als vier mißratene Bengel
vierer verschiedener Väter zu empfinden, die auf der Straße lärmend raufen und
krakeelen. Der Kritiker möchte sich der Berichterstattung über ein solches Werk wohl
allzu gern entziehen. Allein ist es aber auch seine Pflicht, indem er davon schreibt, vor
derartigen Auswüchsen gebührend zu warnen.
Der wackere Schostakowskij trug die recht schwierige
Sonate-Fantaisie, all ihrer krausen und durchaus dürftigen Erfindungsgabe zum Trotze,
mit der ihm eigenen Überzeugungskraft vor. Wir hingegen sahen keinen tieferen,
zuvörderst keinerlei musikalischen Grund für seinen Entschluß; wonach wir denn
auch wohl allein einen Freundschaftsdienst am Komponisten als eigentliche Ursache zu vermuten
geneigt sind. Dem ersten Satze, einem Allegro energico e con brio
von abstrusesten Themen in dicken Akkorden, giebt Strümpel einen balladesquen Mittelteil
bei, der zwar stellenweise hübsch klingt, doch zu nichts hinführt. Unvermittelt folgt
diesem eine Art kurzer Durchführung, welche unseren Ohren durch neuerliche sprunghafte
Melodik und Harmonik Schmerzen verursachte. Ermattet endete der erste Satz bereits in Es-Dur,
ohne uns gesagt zu haben, wozu er denn eigentlich zugegen gewesen sei. Wir fühlten uns in
derlei Hinsicht ähnlich. Wie wir seinem Namen leicht entnehmen konnten, stammt
Strümpel väterlicherseits von einem deutschen Einwanderer ab, daher er vielleicht auch
den Entschluß gefaßt haben mag, seiner Sonate als zweiten Satz eine Folge von sieben
Variationen über einen alten deutschen Choral ("Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz
in Euch bestellt") beizugeben. Hier wurde sogleich bemerkbar, daß unserem Tonsetzer
die strenge Schulung im Kontrapunkt gänzlich fehlt, wiewohl er sich bemüht zeigt, den
allzeit leuchtenden Vorbildern dieser Kunst nachzueifern. Die erste wie auch die mit
durchlaufender Figuration daherkommende zweite Variation können ihren Ursprung in der Manier
Bachs nicht verleugnen. Die zentrale vierte Variation in Es-Moll
[ Audio-Datei dieser
Variation... ] ist in dieser Hinsicht ein weiteres Beispiel, wie er aus dem
Werk des großen Kantors Honig zu saugen sucht - hierin Herrn Busoni nicht
unähnlich, dessen kurzes Gastspiel in Moskau vor Jahren wir in nicht ungetrübter
Erinnerung behalten haben. Bleiben die Variationen in ihren Charakteren recht ähnlich,
so erscheint auch hier die Folge der Harmonien allzu häufig von sprunghafter Willkür
geprägt. Kaum meint man sicheren Boden betreten zu haben, stößt uns Strümpel
unvermittelt in den nächsten Abgrund. Mit einem unbeholfenen Fugato beginnt er die letzte
seiner Variationen, begleitet dabei die als solche edle Choralmelodie mit wüsten Donnern
und läßt sie darob im Ohren betäubenden Lärm der tiefen Register des
über die Maßen malträtierten Pianoforte untergehen.
[
Audio-Datei dieses Teils... ]
Hier hätte das Opus getrost sein verdientes Ende und die Zuhörer die
ersehnte Stille finden können; denn merkliche Unruhe im Publikum, schon während des
Vortrags, schien den Abbruch des Spektakels herbei zu wünschen.
A Wiewohl der Komponist im Ganzen einige Anstrengungen unternimmt,
seinem Werk durch Erfindung sich ähnelnder Themen inneren Halt zu verleihen - wobei es ihm
der Sprung der Quart in die Höhe angetan hat; obgleich er auch am Ende des Finale einen Teil
des ersten Satzes wiederholt, und damit unsern besten neueren Tonsetzern nacheifert: es gelingt
ihm in keinster Weise ein überzeugender Wurf, was sich zudem auf das Deutlichste und
Niederschmetternste im Vergleich zu dem ergab, was uns Pjotr Adamowitsch Schostakowskij im
ersten Teile seines Vortrags in Gestalt der Sonate pathétique und der
Sonata appassionata des großen Beethoven schenkte. War der Applaus für
diesen Teil groß und dankbar, rührte sich nach dem Schlusse der Strümpel'schen
Mißgeburt kaum eine Hand, wenn man von einigen wenigen, aufdringlichen claqueuren
absehen möchte, über deren Beweggründe wir uns an dieser Stelle eines Urteils
enthalten möchten. Wie wir weiters erfahren konnten, ist Gustav Hansowitsch
Strümpel in seinem eigentlichen Berufe ein tüchtiger Ingenieur bei seiner
Majestät des Zaren Eisenbahnen. Da der Komponist am Abend nicht anwesend war, erlauben wir
uns denn auch die möglicherweise nicht allzu abwegige Vermutung zu äußern, er
habe in Vorausahnung des Desasters rechtzeitig auf der Eisenbahn die seit kurzem
zugänglichen Weiten Sibiriens aufgesucht. Unbekannt
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