Ich hatte in der Nacht von Pommes geträumt. Es war ein sehr seltsamer Traum gewesen. Ich saß auf einem wahnsinnig hohen Berg herrlich duftender Pommes und musste mich durch ihn hindurchfuttern. Ein Engel schwebte heran und sagte, ich müsse alles aufessen, sonst würde Petrus mir nicht die Himmelstür öffnen. Also futterte ich los wie 'ne Verrückte. Und mein Bauch schwoll an und wurde größer und größer. Schließlich platzte er. Die schönen Pommes lagen verstreut herum, türmten sich erneut zu diesem Berg auf und ich musste noch einmal ganz von vorn anfangen. Endlich schaffte ich es, alle Pommes im Bauch zu behalten. Dann war der Traum zu Ende. An mehr erinnerte ich mich nicht. Trotz der leckeren Speisen, die Anna-Lena mir an diesem Tag vorsetzte, musste ich immer wieder an die Pommes in meinem Traum denken. Und ich bekam richtig Appetit darauf. Ich brauchte zwischendurch wohl doch mal was anderes. Außerdem konnte ich von Pommes nie genug kriegen. "Anna-Lena", fing ich
beim Frühstück an. "Wo bekommt man hier eigentlich
Pommes?" Anna- Lena schaute mich verständnislos an.
"Wieso?" Ich erzählte ihr von meinem Traum und sagte,
dass ich eben Appetit bekommen hätte. Sie verschränkte
die Arme vor dem Busen. Ihre Miene verhieß nichts Gutes.
"Schmeckt dir niescht merr, was iesch koche?!" Ich
beschwichtigte. "Nein, um Gotteswillen! Natürlich
schmeckt mir alles. Pommes sind aber auch sehr lecker." Am diesem Morgen traf Marietta ein, eine alte Freundin von Anna-Lena. Sie war um die vierzig, gertenschlank und hatte einen Pagenkopf. Hübsch war sie nicht besonders, doch ein gewisses Etwas konnte man ihr nicht absprechen. Mit den dunklen, halblangen Haaren und ihrer Figur war sie äußerlich das genaue Gegenteil von Anna-Lena. Ich bemerkte, dass eine tiefe Vertrautheit zwischen den Frauen herrschte. Vorerst dachte ich mir natürlich nichts dabei. Zumal mir Marietta auf den ersten Blick nicht unsymphatisch war. So wie sie hatte ich mir immer die typische Französin vorgestellt. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, ich hätte mit Anna-Lena die letzte Woche allein bleiben können. Doch Marietta, die Lehrerin an einer Berufsschule in Strasbourg war, hatte Ferien und gedachte, einige Tage auf dem Land zu verbringen. Sie richtete sich im Dachgeschoss in einer der beiden Kammern ein. Anschließend frühstückten wir. Mariettas
dunkle Augen wurden immer größer als sie sah, was ich
zu verdrücken in der Lage war. Ich aß an diesem Morgen
etliche Buttercroissants, etwas Baguette mit Marmelade und Honig
sowie drei oder vier Pistatientörtchen. "Kein Wunder,
wehn du fett wierst!" Marietta schaute mich abschätzend
an. Wieso sagte sie so etwas? Ich begriff nicht, wieso diese
Person die Freundin von Anna-Lena sein konnte. Wenn sie sich in
solcher Weise über die Futterei mokierte! Die Messe war wirklich schön, obwohl ich nicht verstand, was der Pfarrer von der Kanzel herab predigte. Die Orgelmusik gefiel mir jedoch gut und ich versuchte sogar mitzusingen, wenn ein neues Lied angestimmt wurde. Nur taten mir nach einiger Zeit die Knie weh. Deshalb war ich ganz froh, als das Amen kam und wir endlich die Kirche verlassen konnten. Marietta fragte mich, ob ich nicht beichten wolle. Sie hatte etwas Falsches im Blick. Ich spürte, dass ich ihr nicht besonders sympathisch war. "Ich wüsste nicht was!" , entgegnete ich spitz. Anna-Lena unterhielt sich mit ein paar Leuten. Einige sprachen sogar deutsch. So konnte ich hören, dass man sich über mich erkundigte. Eine ältere Dame, die einem Weidenkorb in der Hand trug, bemerkte, dass das dicke deutsche Mädchen, womit natürlich ich gemeint war, ein etwas seltsames Kleid anhabe. Es würde so gar nicht zu mir passen. Wo ich doch eigentlich recht hübsch sei, auch wenn etwas zu dick vielleicht. Mit dem Kleid hatte sie natürlich Recht. Auch mir war das mit dem Kleid langsam leid geworden. Ich hätte gern was wirklich Nettes getragen. Na, vielleicht konnte ich am Mittwoch auf dem Markt ein paar schickere Klamotten kaufen. Bis dahin musste ich eben in dem doofen Kleid herumlaufen. Obwohl ich mich darin unwohl fühlte. Dabei gab es längst keinen Grund mehr, es zu tragen. Doch die Klamotten, die ich mitgebracht hatte, waren zu eng geworden. Nicht ein Teil passte mehr! Ich erntete auch freundliche Blicke. Auf dem Weg nach Hause musste ich an mehreren Bauernburschen vorbei. Ich sah in einige der Gesichter. Etlichen schien ich zu gefallen, ich sah es an der Mimik. Beim Weitergehen spürte ich ihre Blicke in meinem Nacken. Unangenehm war mir das nicht. Einbilden brauchte ich mir aber auch nichts darauf. Abends telefonierte ich mit Josefine. Die fragte mich
natürlich sofort, welche Fortschritte ich machen würde.
"Ach, Josi, es ist einfach herrlich!", schwärmte ich.
"Ich komme mir vor wie im Schlaraffenland. Anna-Lena ist wirklich
eine ganz Liebe. Und sie hat dermaßen viel Verständnis
für mich. Ich mag sie wirklich sehr." Am Mittwoch fuhren wir zu dritt nach Strasbourg. Wir beiden
Dicken saßen vorn im Auto, Marietta hinten. Sie rauchte und
bot mir eine von den filterlosen Zigaretten an. Nach dem ersten
Zug hustete ich. Die Zigarette war unheimlich stark. Anna-Lena und Marietta waren bereits ein Stück weiter
gelaufen und sahen sich bei den Kleiderhändlern um. Ein
junger Mann, der sich ein Glas Wein bestellte, sah mich ungeniert
von oben bis unten an. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Denn
er sprach mich freundlich auf Französisch an. Als er merkte,
dass ich nicht verstand, versuchte er es mit etwas Deutsch.
"Mademoiselle", eröffnete er das Gespräch. "Sie
kommen sischerlisch aus Alemania?" Ich nickte verlegen und
traute mich kaum, ihm in die Augen zu schauen. Irgendwie war mir
das alles unangenehm. Ich wäre am liebsten den beiden
Weibern hinterher gelaufen. "Was maachen Sie hier in
Strasbourg, wenn iech fraggen darf?" Wir fuhren nach dem Mittag zurück. Mir knurrte der Magen. Es wurde höchste Zeit, dass ich was in den Magen bekam. Ich knabberte nervös an einer Tafel Schokolade herum. Gott, hatte ich mich an die Schlemmerei gewöhnt! In der Plastiktüte auf meinem Schoß befanden sich die Bluse, ein Jeansrock, ein Body und zwei Paar Strumpfhosen. Ich hatte alles sehr preiswert kaufen können. Aber ich hatte fast alles Geld ausgegeben, was ich von Paps bekommen hatte. Im Anschluss an die Schokolade rauchte ich eine von Mariettas starken Zigaretten. Es gelang mir auf Lunge zu rauchen, ohne gleich einen Hustenanfall zu bekommen. Anna-Lena schaute zwar missbilligend, sagte aber nichts. Vor dem Abendessen, als ich einen Moment mit Marietta allein
war, sagte diese: "Damit du Bescheid weist, Anna-Lena und ich
sind zusammen, wenn du verstehst!" Sie sah mich eindringlich
an. "Mische dich also nicht ein!" Ich begriff sofort.
Also, so standen die Dinge. Ich hatte mir beinahe schon so etwas
gedacht. "Ich komme euch schon nicht in die Quere! Keine
Sorge!" Anna-Lena lächelte. Sie jedenfalls schien das Spiel zu
durchschauen. Man sah ihr an, dass sie gespannt darauf wartete,
wie das zwischen mir und Marietta ausgehen würde. Sie schien
sogar auf meiner Seite zu stehen. Jedenfalls deutete ich das aus
ihrem Blick. Es wäre müßig gewesen all die
Speisen aufzuzählen, die Anna-Lena an diesem Abend auf den
Tisch zauberte. Ich ließ es mir jedenfalls in gewohnter
Weise schmecken. Meine Augen hingen dabei an Marietta, die sich
redlich bemühte, ihren Magen voll zu stopfen. Sie futterte
in etwa immer die Hälfte von dem, was ich schaffte. Das war
für sie sicherlich allerhand. Anfangs sagte mir ihr Blick,
dass sie es sogar genoss, einmal richtig zulangen zu können.
Nach einer Stunde fiel es ihr dann aber sichtlich schwerer,
mitzuhalten. Aber für eine "Anfängerin" keine schlechte
Leistung! Immerhin! Dieses Kampfessen hatte gewisse Folgen. In den Tagen bis zu
meiner Abreise saß nämlich eine völlig
verwandelte Marietta mit uns am Tisch. Zwar aß sie nicht
solch riesige Portionen wie Anna-Lena und ich. Für ihre
Verhältnisse langte sie aber sehr kräftig zu. Am Morgen
meiner Abreise lies sich Marietta sogar dazu hinreisen, einen
selbstkritischen Kommentar abzugeben. "Mädels" ,
sagte sie mit leicht unsicherer Stimme. "Iesch glaube, iesch
werrde iehn Zukunft anders über aales Kulinariesches
denken." Ich fand, eine etwas späte Einsicht. Aber vielleicht kam sie früh genug. Im Geiste sah ich Marietta schon als Zwilling von Anna-Lena, nur das sie deutlich dunklere Haare hatte. Ich lächelte still in mich hinein. Schließlich war ich es gewesen, die die Verführerin gespielt hatte. Ich fand, das war eine Rolle, die mir gar nicht so schlecht zu Gesicht stand. Jedenfalls hatte es mir unheimlich viel Spaß gemacht, Marietta dahin zu bringen, wohin die gar nicht wollte. Vielleicht hätte ich das eines Tages bei Mam auch geschafft? Dann wäre sie heute vielleicht noch am Leben. Na ja, sich darüber Gedanken zu machen, dass war müßig. Ich musste nach vorne schauen. Denn mein Geburtstag war schon in einer knappen Woche! Ich packte mit etwas Wehmut im Herzen. Der Abschied von Anna-Lena fiel mir schwerer als ich gedacht hatte. Selbst für Marietta fand ich ein paar nette Worte. Und die lächelte mich zum ersten Mal so richtig nett an. |