FELICITAS
Eine fast wahre Geschichte

Sechstes Kapitel

Mit Paps war alles schnell geregelt. Ich sagte ihm natürlich nicht den wahren Grund, weshalb ich in den Elsass reisen wollte. Ich sagte ihm nur, Josefine hätte mir bei einer Verwandten für drei Wochen einen Ferienaufenthalt vermittelt. Dies, weil ich dächte, mich einmal in anderer Umgebung richtig entspannen zu können. Und als ich ihm sagte, Tante Olga würde sich in dieser Zeit um ihn kümmern, stimmte Paps ohne zu zögern zu. Ich gebe zu, es war von mir ein bisschen hinterfotzig gewesen.

Paps fuhr mich am anderen Tag nach Weiden. Auch Josefine kam mit. Auf dem Bahnsteig gab es natürlich Tränen. Als Paps mir den Koffer in den Zug reichte, sagte er: "Komm gesund wieder, Kleines. Und grüße unbekannterweise!" Ich unterdrückte eine weitere Träne und gab ihm einen Abschiedskuss.

Das Abteil, in dem ich am Fenster meinen reservierten Platz hatte, war voll besetzt. Die Fahrt mit dem Zug dauerte von Weiden aus fast 7 Stunden. Umsteigen musste ich in Nürnberg und Karlsruhe. Abends gegen 6 Uhr kam ich endlich in Strasbourg an. Ich war natürlich geschafft. Unterwegs hatte ich mich immer wieder gefragt, ob das auch richtig sei, was ich vorhatte. Je länger die Fahrt dauerte, umso mehr zweifelte ich. Ich hatte manchmal das dumme Gefühl, als sähe man mir an, weswegen ich die Reise unternahm. Zumindest starrten mich einige der Mitreisenden komisch an. Ein Blick auf die Fensterscheibe, in der ich mich ab und an spiegelte, holte mich jedoch in die Wirklichkeit zurück. Den Fahrgästen in meinem Abteil saß schließlich ein ziemlich fettes Mädchen gegenüber. Damit nicht genug. Es knabberte nämlich ständig an irgendwelchen Süßigkeiten herum, als ob das dumme Ding nicht ohnehin schon fett genug gewesen wäre. Felicitas, sagte ich zu mir, so denken die doch, oder?

Meine Zweifel und Ängste schwanden in dem Augenblick, als ich Anna-Lena erblickte. Denn die junge, sehr fette Frau auf dem Bahnsteig in Strasbourg, die mir mit einem Tüchlein zuwinkte, war mir auf Anhieb symphatisch. Ich winkte aus dem Fenster aufgeregt zurück. Wieso sie mich sofort erkannt hatte, war natürlich klar. Denn außer mir war kein anderes Mädchen zu sehen, welches fett war. Und Josefine hatte mich ihrer Tante bestimmt genauestens beschrieben. Ich stieg vorsichtig die drei Tritte zum Bahnsteig hinunter. Der Schaffner reichte mir den schweren Koffer hinterher. Ich war immer noch mächtig aufgeregt und geriet ins Schwitzen. "Hallo, Felicitas!", begrüßte mich Anna-Lena auf Deutsch. Sie hatte nicht den gleichen Akzent wie Josefine oder Tante Olga, er war deutlich französisch angehaucht. Anna-Lena war etwa so groß wie ich. Sie war ebenfalls blond, doch nicht so hell wie das bei Josefine der Fall war. Sie trug die Haare hinten zusammengesteckt. Anna-Lenas Leibesumfang glich etwa dem von Tante Olga. Es waren aber auch gewisse Unterschiede vorhanden. Sie hatte einen wahnsinnig breiteren Hintern. Dagegen wirkte ich direkt schlank. Ich war natürlich stark beeindruckt und starrte sie ununterbrochen an. Später erfuhr ich, dass sie um die 170 Kilo wog. "Hier ist die Mastgans", sagte ich und wurde rot. Ich war total verlegen. Anna-Lena lachte über das ganze Gesicht. Ihr schweres Kinn bebte. "Schön, diech zu sehen. und Willkommen iehn Fronkreisch."

Sie umarmte mich heftig. Ich spürte ihre Weichheit unter dem dünnen Leinenkleid. Es war mir, als würde ich in ihr versinken. Ich verlor den allerletzten Rest meiner Beklemmung und lachte. Lena fuhr mich mit einem alten Renault in das kleine Nest, wo sie einen kleinen Hof bewirtschaftete. Die Fahrt ging über baumbestandene Landstraßen und über einen größeren Fluss. Gegen halb acht waren wir endlich da. Es gab ein sehr reichhaltiges warmes Abendessen, bestehend aus einem Braten mit Klößen. Hinterher aßen wir Himbeerkuchen mit viel Schlagsahne. Ich langte natürlich tüchtig zu. Lena hatte mich lächelnd beobachtet. Es gefiel ihr offensichtlich, wie ich dem Essen zusprach. Ich hatte aber auch einen mächtigen Hunger mitgebracht. Auf der Reise hatte ich nur ein paar belegte Brote und Schokolade dabei gehabt. "Also, Cherie", sagte Lena. "Wenn wir das machen, was du vorhast, dann gelten 3 Regeln. Erstens, du machst, was iech sagge. Zweitens, du stellst diech nie auf Wage, erst nach drei Wochen. Drittens, du saggst mir sofort, wenn du gesundheitliche Probleme bekommst. Iest das klar!" Anna-Lena sagte das sehr bestimmt, lächelte aber dabei. "Okay, ich halte mich daran", versprach ich. Zwar passten mir die Regeln nicht so ganz. Aber was sollte ich machen? Etwa wieder ab- reisen? Nein, ich gedachte, die Sache mit aller Konsequenz durchzuziehen. "Wie viel möchtest du zunehmen?" "Na, mindestens 12 Kilo!" Lena winkte ab. "Wierd kein Problemm. Iest leichte Sache. Lass miech nur machen." Sie lachte herzhaft.

Die erste Woche hatte es in sich. Anna-Lena ging sofort zur Sache. Sie verbrachte Stunden am Herd, um die tollsten Gerichte zu kochen. Ich ging ihr zur Hand, soweit ich dazu in der Lage war. Eigentlich war ich den ganzen Tag nur mit Futtern beschäftigt. Es gab 5 Mahlzeiten, angefangen mit dem Frühstück nach 8 Uhr. Dieses war reichlich bemessen, warf mich aber nicht gerade vom Hocker. Ich war mittlerweile anderes gewohnt. Es gab Baguette oder helle Brötchen mit etlichen Sorten Marmelade. Auch etwas Käse, kaum Wurst. Mich wunderte das natürlich. Sollte ich davon zunehmen? "Das iest doch nur Anfang!", lachte Anna-Lena, als ich vorsichtig anfragte. "Richtige Wirkung habben erst Mahlzeiten nachmittags und abends. Jetzt nur für Hunger stillen, so saggt man doch?" Ich nickte. Nun, ich war gespannt, wie es weiter gehen sollte. Da war erst einmal das Zwischenfrühstück. Das war schon heftiger. Es bestand zumeist aus verschiedenen Kuchensorten. Da es Sommer war, kamen verschiedene Obstkuchen, aber auch solche mit Schokolade oder Marzipan auf den Tisch. Das Mittagsmahl bestand aus verschiedenen Braten, angefangen von Wild über Schwein, Rind und Lamm. Besonders hatte es mir das elsässische Gericht Baekaoffa angetan. Es wird im Schmortopf angerichtet. Die Zutaten bestehen aus Schweinenacken oder Lammschulter, mehreren Lagen kleiner Kartoffelstücke, Zwiebel und Knoblauch. Anna-Lena servierte das Gericht stets in der Terrine, in der sie es gegart hatte. Auch der Flammkuchen war lecker! Der wird auf dem Blech zubereitet, bestehend aus Brotteig, Bauchspeck, Zwiebeln und Creme double. Beide Gerichte gab es häufig auch am Abend. Das letzte Essen fand etwa 2 Stunden vor dem Zubettgehen statt. Nach den Zwischenmahlzeiten sollte ich möglichst ruhen. Anne-Lena sagte, die Speisen würden so besser ansetzten. Allerdings achtete sie streng darauf, dass ich immer genügend trank. Dies sei wichtig für die Gesundheit.

Ich lief ständig mit gut gefülltem Magen durch die Gegend. Wobei Laufen weit übertrieben war. Zumeist lag ich auf dem Sofa herum und las Zeitschriften. Oder ich saß in der Küche und schaute Anna-Lena beim Kochen zu. Nur selten dachte ich an die Ermahnungen der Ärzte, ich solle mich mehr bewegen. Wenn solche Gedanken aufkamen, schob ich sie zur Seite. Ich hasste es, mich unnötig anzustrengen. Schon am Ende der ersten Woche merkte ich, dass etwas passierte. Selbst in dem weiten Kleid, das Anne-Lena aus einer alten Truhe hervor gezaubert und mir aus besonderem Grund verpasst hatte, spürte ich die Veränderungen. Anna-Lena hatte gemeinte, das Kleid würde verhindern, dass ich dächte, es würde laufend immer alles enger und enger. Nun, mir war das eigentlich egal. Eher störte mich, dass das weite Kleid einem Modetrend entsprach, der vor vielleicht zwanzig Jahren angesagt gewesen war. Trotzdem, es war schon ein ganz fieser Trick! Ich konnte mir ein anerkennendes Lächeln nicht verkneifen. Apropos kneifen! Der Ulla Popken-BH tat das unterdessen. Hatte ich wirklich schon so viel zugenommen?

"Kann ich nicht doch mal auf die Waage?", bettelte ich. Doch Anna-Lena blieb stur. "Nein, kommt niecht in Fragge!" "Aber es kneift hier so!" Ich deutete auf die Stelle zwischen Busen und Bauch. "Dann bekommst du ebben anderen BH!" Anna-Lena lies sich nicht erweichen. Mich ärgerte das etwas. Aber was hätte ich machen können? Nichts, natürlich. Eine Waage schien es nicht zu geben. Jedenfalls hatte ich im Haus noch keine gesehen. "Gehst du bitte mal in Kräutergarten? Ich brauche etwas Dille." Anna-Lena stand vor der Anrichte und bereitete einige Fleischstücke vor. Ich lief hinaus. Die Kräuter fand ich in der hinteren Ecke des kleinen Areals. Ein Blick über den maroden Bretterzaun zeigte mir, dass in dem Örtchen um diese Zeit wie immer wenig los war. Zu sehen war eigentlich gar nichts. Nur der Gesang der Vögel war zu hören. Das Bücken fiel mir ganz schön schwer. Ohne Frage, ich war unbeweglicher geworden. Mein Gott, wie würde das erst in ein, zwei Jahren sein? Nicht auszudenken! Etwas außer Atem lief ich zurück in die Küche. Ana-Lena bedankte sich und fuhr mit dem Marinieren fort. "Sag mal Anna-Lena?", fragte ich. "Wie war das eigentlich bei dir? Wann und warum bist du so auseinander gegangen?" Anna-Lena drehte sich zu mir um und verschränkte die Arme vor dem Busen. "Hab' miech schon gewundert, dass du noch niecht gefraggt hast."

Dann erzählte sie. Sie sei etwa elf gewesen und wollte gern zur Balletschule. Das war noch in ihrer Heimatstadt, in Ternopil gewesen. Sie war mit Herz und Seele dabei gewesen. Auch das Vortanzen wäre in Ordnung gegangen. Dann aber die Ablehnung! Begründet hätte die Balletschule es mit ihren nicht ausreichenden Leistungen in der Schule. So hatten es ihr die Eltern gesagt. Sie hätte sich das nicht erklären können, denn sie sei nicht nur eine gute Tänzerin sondern auch eine recht gute Schülerin gewesen. Zumal es aus der Jury nur Lob gegeben hatte. Anna-Lena hatte tagelang geheult. Später hatte sie angefangen zu naschen, um den Frust loszuwerden. Sie war dann natürlich immer draller geworden und so weiter. Mit Fünfzehn war sie schon richtig dick gewesen. Und als sie heiratete, wog sie fast 120 Kilo. Erst Jahre später hatte Anna-Lena den eigentlichen Grund für die Ablehnung erfahren. Die Eltern hatten ihr den immer verschwiegen. Eines Tages war ihr beim Suchen in einer Schublade des Stubenschrankes ein Brief in die Hand gefallen. Da der Absender die Balletschule war, hatte sich Anna-Lena natürlich nicht zurück halten können und las ihn. Sie erfuhr somit den wahren Grund. Man hatte sie nicht genommen, weil Vater und Mutter dick waren. Es hieß, dies sei offensichtlich eine erbliche Veranlagung. Man unterstellte, auch Anna-Lena hätte diese Veranlagung. Es sei daher ein Risiko, sie diese teure Ausbildung machen zu lassen. "Damit warr natürrlich meine Traum kaputt!" Anna-Lena lachte auf. "Wer weis, wofür das gutt warr?!" "Dann wären wir uns wahrscheinlich nie begegnet. Und ich hätte nie von deinen herrlichen Köstlichkeiten gegessen." Ich lächelte. "Ein schmerzlicher Verlust, ohne Frage!" "Danke für die Blumen!" Sie lächelte zurück.

Die Geschichte von Anna-Lena zeigte wieder einmal, welch seltsame Wege das Schicksal manchmal geht. Wären ihre Eltern schlanker gewesen, wäre Anna-Lena vielleicht ein Balletsternchen geworden oder sogar ein richtiger Star. Und ich würde jetzt nicht die Mastgans spielen. "Wie war das eigentlich bei deiner Schwester?", hakte ich nach. Von Tante Olga wusste ich in dieser Beziehung nur wenig. "Du meinst mit Fettwerrden?" Ich nickte. "Olga warr iemer schon fett. Iech kenn' sie gar niecht anders." Na ja, Anna-Lena war geboren worden, da war Tante Olga bereits dreizehn gewesen. Ich musste Tante Olga halt selbst fragen. Anna-Lena lehnte völlig entspannt an der Anrichte. Ich wär' in diesem Moment am liebsten in sie hinein gekrochen, so appetitlich sah sie aus. Zumindest hätte ich gerne in ihre weichen Rundungen gefasst.

Die zweite Woche ähnelte ganz der ersten. Mit einer Ausnahme. Ich durfte nämlich am Wochenende mit Anna-Lena den Markt in Strasbourg besuchen. Sie kaufte jede Menge frischer Lebensmittel ein, dann stöberten wir in den Kleidungsstücken und Sachen, die von Vietnamesen zum Verkauf angeboten wurden. Es war zumeist Billigware, das eine oder andere Schnäppchen war aber doch dabei. Anna-Lena riet mir allerdings davon ab, etwas zu kaufen. "Du niemst noch zu, warte ab! Wäre schadde, wenn schnell alles enger wierd."

Ich sah das natürlich ein. War ja auch logisch. Trotzdem sah ich mich auf dem Markt um. Es gab jede Menge solcher Kleidungsstände. Die Frage war nur, was in meiner Größe zu bekommen war. Denn die 54 würde wohl nicht mehr ganz passen. Wir tranken an einer Bude einen Espresso und aßen irgendein Gebäck. Dann rauchte ich eine Zigarette. Der grauhaarige, nicht ganz schlanke Franzose kannte Anna-Lena und schwatzte mit ihr. Leider verstand ich nur Bahnhof. "Was redet ihr denn?", fragte ich. "Niechts weiter. Emanuel flirtet nur gern. Stammt aus Paris. Habbe auch mal dort gelebbt." Ich wurde neugierig. "Davon hast du mir noch gar nichts erzählt!"

Anna-Lena sagte, sie wäre zuerst nach Paris gekommen. Damals 1987. Zusammen mit ihrem geschiedenen Ehemann Georgi. Man hätte Frankreich gewählt, weil sie beide auf der Schule französisch gelernt hatten. Doch nach zwei Jahren wäre die Ehe kaputt gewesen und man hatte sich getrennt. Sie sei dann erst nach Strasbourg gezogen, später in den Ort, wo sie noch heute lebte. Den kleinen Hof hatte ihr eine alte Frau vererbt, die sie in Strasbourg kennen gelernt hatte. Diese stammte ebenfalls aus der Ukraine. Da diese aber keine Erben hatte, hatte sie Anna-Lena in ihr Testament aufgenommen. Ein glücklicher Umstand. Sie hätte dadurch ein wirkliches Zuhause gefunden.

Wir schlenderten durch den Markt zurück zum Parkplatz. Wir kamen an einem Stand vorbei, wo jede Menge BHs auf dem Verkaufstisch lagen. Anna-Lena fischte einen hellblauen BH heraus und hielt ihn mir hin. "Der könnte dir passen, iest Grösse 9 H." Sie sprach das H wie ein kurzes A aus. Damit konnte ich nichts anfangen. "Was is' n das für `ne Größe?" Anna-Lena sprach auf Französisch mit dem Vietnamesen. Der erklärte etwas und benutzte dabei die Hände. Sie übersetzte. "Er saggt, iest italienischer BH. Deutsche Grösse etwa 110 H. Iest siech abber niecht sicher." Der Mann blickte mich abschätzend an und sagte dann was zu Anna-Lena. Die übersetzte. "In andere Farbe hat er auch, saggt er." Sie hielt mir den BH hin. "Wielst du den probieren, Felicitas? Kostet 45 France." Ich sah mich um. "Wo denn?" Anna-Lena fragte etwas auf Französisch. Dann bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Sie führte mich hinter die Bude. Hier, zwischen Stapeln von allen möglichen Kartons, einem PKW und der angrenzenden Mauer eines Hauses, von dem der Putz abblätterte, sah es ziemlich wüst aus. Vor Blicken waren wir jedoch geschützt. So kam es, dass ich auf einem französischen Wochenmarkt einen neuen BH bekam. Der war sogar einigermaßen formschön war und saß gut. Der Verschluss lies außerdem noch einen gewissen Spielraum zu. Ich verspürte Hunger. "Anna-Lena, ich glaube wir müssen uns beeilen, es ist gleich zwölf." Anna-Lena lachte. "Iech weis. Es iest Zeit für Mittagessen."

Auf der Nachhausefahrt musste ich ständig an meine Gewichtszunahme denken. Es war nur schade, dass ich nicht wusste, wie viel ich zugenommen hatte. Dabei hätte ich gern eine Ahnung gehabt. Schon allein wegen Samantha.

Am Nachmittag verspürte ich eine gewisse Schwäche in mir. Ich legte mich ins Bett und versuchte etwas zu schlafen. Anna-Lena sagte, ich sehe blass aus. Doch schlafen ging nicht. Ich wälzte mich nur unruhig hin und her. Als Anna-Lena nach mir schaute sagte ich: "Anna-Lena, ich fühle mich ziemlich matt. Dabei habe ich mich heute Vormittag auf dem Markt noch so wohl gefühlt. Ich weis gar nicht, was plötzlich los mit mir ist?" Anna-Lena legte mir die Hand auf die Stirn. "Fieber scheinst du niecht zu habben." Mir war auch nicht heiß, ich fühlte mich nur ziemlich kaputt. "Beste wierd sein, iech hohle Arzt!" Anna-Lena lief aus dem Zimmer. Dann hörte ich sie telefonieren. In mir kam die Angst hoch. Nicht schon wieder! Nicht dass es wieder so würde, wie vor zwei Monaten. Bitte nicht! Ich sandte ein Stoßgebet nach oben. Der Arzt kam eine dreiviertel Stunde später. Er war schon älter, so wie man sich einen Landarzt vorstellte. Und er sprach gut Deutsch. "Na, dann wollen wir mal sehen." Er holte aus der Arzttasche seine Utensilien. Zuerst hörte er mich ab. Dann maß er den Bluttdruck. "Oh, lala! 152 zu 106, das ist serr viel! Könnte Ursache sein für kleine Schwäche. Ansonsten kann iech niechts finden." Dann fragte er, was ich wiegen würde. Ich zuckte die Schultern. Er bat Anna-Lena, eine Waage zu bringen. Erst zögerte sie, lief dann aber doch eiligen Schrittes hinaus. Ungeduldig wartete ich auf die Rückkehr von Anna-Lena. Ich war sehr gespannt darauf, mein aktuelles Gewicht zu erfahren. Ich stieg im Nachthemd auf die Waage. Der Zeiger blieb bei 106,3 stehen. Ich war maßlos enttäuscht. Eigentlich konnte das gar nicht sein! "Iest schönnes Ubergewiecht! Ihre Nichte sollte ans Abnemmen denken!" Nichte? Ich musste kichern. Anna-Lena hatte mich tatsächlich als ihre Nichte ausgegeben. Ich fand das irgendwie lustig. "Iest gar niecht spassig!" Der Arzt schaute mich ernst an. "Mit Adipositas iest niecht zu spassen, Sie habben iemerhien zweite Grad!" Er murmelte dann etwas von unnötiger Belastung des Herz-Kreislaufsystems und sagte was auf Lateinisch, was ich nicht verstand. Ich hörte gar nicht richtig hin. Hm, Adipositas Grad zwei, ich steigerte mich!

Der Arzt verschrieb mir ein Mittel auf. Anna-Lena sollte es gleich noch aus der Apotheke holen. Doch ich hatte selbst noch Tabletten. Und mir fiel ein, dass ich ein paar Tage lang vergessen hatte, sie einzunehmen. Bei der ganzen Aufregung hier, kein Wunder. Die Ursache für den kleinen Schwächeanfall schien sich damit zu klären, jedenfalls nahm ich das an. Ich fühlte mich auch schon bedeutend wohler. "Du, mir geht es eigentlich schon wieder ganz gut", beruhigte ich Anna-Lena. "Zur Apotheke musst du nicht fahren, ich hab' doch noch 'n Medikament dabei." Ich nahm mir vor, besser darauf zu achten, wann ich was nehmen musste. Enttäuscht war ich natürlich über mein Gewicht. Ich hatte ein weit höheres erhofft. Ich sagte das auch Anna-Lena. Die lächelte verschmitzt. "Habbe vorhin Waage verstehlt. Arzt sollte niecht richtiges Gewiecht von dir wissen. Dachte, wärre vielleicht besser so." Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hätte mir das mit den nur 106 Kilos auch nicht denken können. "Du bist Eine! Jetzt will ich aber doch wissen, was ich wirklich wiege!" Ich sagte es wohl so bestimmt, denn Anna-Lena zuckte nur mit die Schultern und stellte die Waage so ein, dass die Anzeige wieder stimmte. Ich stieg erneut auf die Waage. Dieses Mal nackt. "Oh Gott! ", entfuhr es mir. Ich riss die Augen auf und hielt die Hand vor den Mund. Tatsächlich, der Zeiger pendelte sich bei 114,7 ein! Es war der pure Wahnsinn!!! Ich rechnete schnell. "Du, Anna-Lena! Ich hab' in den zwei Wochen genau 13 Kilo zugenommen. Das ist der totale Hammer!" Ich war ganz aufgeregt. Anna-Lena schaute ebenfalls auf die Waage. "Stimmt! "

Mit diesem Ergebnis hatte ich nicht gerechnet. Wirklich nicht! Schon jetzt weit über die mit Samantha ausgemachten 110 Kilo gekommen zu sein, war aber natürlich absolute Spitze. Ich freute mich irrsinnig. Und ich konnte mich nicht des Gefühls erwähren, dass ich Samantha damit bereits abgehängt hatte. Oh ja, die würde Augen machen!!! "Felicitas, man sieht es abber auch!" Anna-Lena deutete unmissverständlich auf meine Bauchgegend.

Ich schaute an mir runter. Obwohl der Bauch deutlich hing, stand er weit genug vor, um den Blick auf die Füße einzuschränken. Ich musste mich schon etwas vorbeugen, damit ich sie sehen konnte. Da war überhaupt nichts zu beschönigen, mein Bauch war zu einer richtig fetten Wampe geworden. Ich sah auch, dass sich erste Dehnungsstreifen bildeten. Schön sahen die natürlich nicht gerade aus. War da was gegen zu machen? Ein Großteil der Kilos, die ich mir in den beiden Wochen bei Anna-Lena angefuttert hatte, hatte sich unten herum angesiedelt. Schenkel, Bauch und Hintern, das waren die Zonen, wo sich erheblich was getan hatte. "In nur zwei Wochen soviel zuzunehmen, ist `ne reife Leistung, nicht? Anna-Lena, ich habe das natürlich nur mit deiner Mithilfe schaffen können." Anna-Lena lächelte zufrieden. Ihre Miene sagte, ich hab' es dir doch gesagt! Am Abend, als ich vor dem Zubettgehen einen prüfenden Blick in den Spiegel warf, fiel mir auf, dass auch mein Hals ganz schön fett geworden war. Er wirkte dadurch wesentlich kürzer. Dabei hatte ich mal einen richtigen Schwanenhals gehabt. Nun, was vorbei war, war vorbei! Weshalb also daran noch einen Gedanken verschwenden?

Mir lief ein Schauer den Rücken runter. Sich derart viel Speck anzufuttern, dazu war wohl nur ich fähig. Felicitas, sagte ich mir, du bist ein sehr, sehr fettes Ding geworden. Wenn du am Anfang des Jahres irgendjemanden gesagt hättest, du hieltest es für möglich, in reichlich einem halben Jahr dein Gewicht zu verdoppeln, hätte der dich doch für völlig verrückt erklärt. Mir wurde aber auch bewusst, dass ich mit der Gesundheit spielte. Vielleicht war der kleine Schwächeanfall eine Warnung gewesen. Auf die leichte Schulter war das nicht zu nehmen. Doch sollte ich deswegen mein Vorhaben aufgeben?



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