Das Buch vonBeverly J. Silver:„Forces of Labor. Worker's
Movements and Globalization since 1870“, Cambridge University Press,
2003 zu Deutsch:“Forces of Labor.Arbeiterbewegungen
und Globalisierung seit 1870”, Assoziation A, Berlin–Hamburg, 2005[1]ist
unbedingt zu empfehlen, denn es muss uns ein Anliegen sein, die Rolle der
Politik und ihr Verhältnis zurökonomischen Basis in der Zeit des
20. Jahrhunderts aufzudecken, d.h. die wirtschaftspolitischen Dogmen des
Jahrhunderts klarzustellen und so eine Kritik der politischenÖkonomie
des 20. Jahrhunderts zur Verfügung zu haben.
Eine derartige Kritik könnte man Silver's Werk nennen, insofern sie, gestützt
auf die von der World Labor Research Group erstellte Datenbank (WLG-Datenbank)
eine zyklische Bewegung zwischen Legitimitätskrise und Profitabilitätskrise
des Kapitalismus nachzeichnet und interpretiert. Denn ein fundamentaler Widerspruch
im historischen Kapitalismus–so Silver–wird von ihr dahingehend formuliert
(Seite 39 der oben genannten deutschen Ausgabe):„Auf der einen Seite stärkt
die Ausweitung kapitalistischer Produktion die Arbeiter und konfrontiert das
Kapital (und die Staaten) daher immer wieder mit starken Arbeiterbewegungen.
Die Zugeständnisse, mit denen die Arbeiterbewegungen unter Kontrolle gebracht
werden sollen, bringen das System im Gegenzug an den Rand einer Profitabilitätskrise.
Auf der anderen Seite ziehen die Anstrengungen des Kapitals (und der Staaten)
zur Wiederherstellung der Profitabilität den Bruch der vereinbarten Sozialpakte
sowie vermehrte Versuche nach sich, den Warencharakter der Arbeit auszudehnen.
Dadurch schaffen sie wiederum eine Legitimitätskrise und eine widerständige
Gegenbewegung…Diese zeitliche Dynamik ist eng mit einer räumlichen Dynamik
verflochten: Das periodische Oszillieren zwischen Phasen eines zunehmenden
und Phasen eines abnehmenden Warencharakters der Arbeit ist verbunden mit einem
beständigen Prozess der räumlichen Differenzierung zwischen Regionen
mit unterschiedlich starkem Warencharakter der Arbeit.“Man kann also sagen,
dass sich Silver in ihrer Darstellung des historischen Kapitalismus dahingehend
orientiert, dass dasökonomische Sein einerseits die gesellschaftliche
Basis, die Klassenauseinandersetzung andererseits das treibende Element der
Geschichte bilden–eine Dialektik, die auch heute noch nicht jeder und jedem
bekannt ist bzw. durch die heute komplexere kapitalistische Organisation, bis
hin zur teilweisen Institutionalisierung des Klassenkampfes, verschleiert wird,
nicht zu Bewusstsein kommt. Karl Marx 1844 inÖkonomisch-philosophische
Manuskripte [Erstes Manuskript] Arbeitslohn:„Arbeitslohn wird bestimmt durch
den feindlichen Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter.“
Silver's Verdienst ist es, dass sie diesen Kampf anhand der WLG-Datenbank-Datenüber„Arbeiterunruhe(n)“untersucht
und damit den politischen Aspekt der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus
herausstreicht, was die Herausgeber der deutschen Ausgabe als (Seite 7)„Geschichten
aus Sicht der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter“titulieren und darin
nicht zu Unrecht„eine besondereStärkedes Buches“erblicken.
DieSchwächendes Buches sind zum Teil auch derÜbersetzung
bzw. der Unübertragbarkeit gewisser Passagen, Reflexionen und Begriffe
geschuldet und mögen im englischen Original nicht so schwerwiegend erscheinen.
Die Herausgeber der deutschen Ausgabe weisen in„Anmerkungen zurÜbersetzung“(Seite
10) auf diesen Umstand und das Dilemma derÜbersetzungsarbeit hin. Schon
in der Unterschiedlichkeit des jeweiligen Grades der Entsprechung derÜbersetzung„workplace
bargaining power“–„Produktionsmacht“,„marketplace bargaining power“–„Marktmacht“sowie„associational
bargaining power“–„Organisationsmacht“kann man erkennen, wie unterschiedlich
die Konnotationen sind. Der Ausdruck„fix“bzw.„fixes“ist–wie allerdings auch
die Herausgeber selbst eingestehen–überhaupt problematisch, weil er, jedenfalls
im Deutschen, die zusätzliche Eigenschaft des völlig Undynamischen
hat. Er trifft im Deutschen somit nicht wirklich–wie es die Herausgeber vermeinen–die
Bedeutung des Verlagerns bzw. Veränderns des Einsatzesüberschüssigen
Kapitals als fixes Kapital und auch nicht die der zeitweiligen Problemlösung
(„to fix a problem“). Wenn die Herausgeber, ihre Schwierigkeiten erklärend,
formulieren (Seite 13):„Der marxistische Wirtschaftsgeograph David Harvey hatte
Anfang der achtziger Jahre den Begriffspatial fixgeprägt und
mit ihm die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Krisenregulierung sehr
schön in der Mehrdeutigkeit vonfixzum Ausdruck gebracht“, so
könnte man wohl–und die Schönheit, wie bei den alten Griechen, zum
wissenschaftlichen Erkenntniskriterium erhoben–meinen, dass die griechische
Klassik samt Widersprüchen durch die Mehrdeutigkeit seiner Orakel genügend
erklärt sei. Der Wiener im Gegensatz zum Griechen will sich aber kaum
mit Mehrdeutigkeiten herumschlagen müssen: Nix is' fix!, und wenn man
durchs ganze Buch hindurch mit der monströsen–warumübrigens männlichen?–deutschen
Substantivierung konfrontiert ist, ist das Interesse am Inhalt bald auf:Fixis'
(bedeutet) nix! geschrumpft.
Ärger aber ist das Kapitel„Arbeit als fiktive Ware“(Seite 34). Es ist ein
grundlegendes Kapitel, ohne das das Buch schwer verständlich ist und–man
versteht annähernd nichts! Eine ganz wesentliche Problematik wird erörtert
in der Differenzierung von„Arbeiterunruhe des marxschen und des polanyischen
Typs“. Letzterer leitet sich von Karl Polanyi her, der 1886 in Wien geboren ist,
ein Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie in Budapest absolviert hat,
1933 nach England emigriert ist, stark in der Arbeiterbildung engagiert war und
1964 in Kanada verstorben ist. Er ist mit seinem Werk„The Great Transformation“,
New York 1944, in dem er sich mit der historischen Durchsetzung des Wirtschaftsliberalismus
sowie mit dessen Zusammenbruch beschäftigt, in der sozialwissenschaftlichen
Literatur zum„Klassiker“geworden und wird so vielfältig interpretiert und
kritisiert wie es dem Gedankenreichtum seines Buches entspricht. Der Leser aber,
welcher Polanyi (oder Marx) bis dato nicht näher kennt, muss mit dem Vorlieb
nehmen, was die Autorin erläutert. (Seite 35):„Zeigt sich für Marx
der fiktive Charakter der Arbeit in der Produktion, so wird für Polanyi
der fiktive (und damit unflexible) Charakter schon mit der Schaffung und dem
Funktionieren eines Arbeitsmarktes sichtbar.“Erstens: Was bedeutet das Wörtchen„schon“in
diesem Zusammenhang? Zweitens: mit der Behauptung des„fiktiven Charakters der
Arbeit“kann man absolut nichts anfangen. Was soll damit gemeint sein? Ist denn
die Arbeit laut Marx fiktiv? Ist die Gebrauchswert schaffende Arbeit (work) fiktiv?
Was fressen wir? Ist die Wert und Mehrwert schaffende Arbeit (labor) fiktiv?
Werden wir gar nicht ausgebeutet? Istüberhaupt die Ware Arbeitskraft fiktiv?
Marx schreibt von der„eigentümlichen Natur dieser spezifischen Ware“(Das
Kapital. Erster Band, II. Abschnitt, 4. Kapitel, Verwandlung von Geld in Kapital),
schreibt er aber wirklich von der„fiktiven Ware Arbeit“? Ebenda beschreibt Marx
ein gesellschaftliches Verhältnis:„Er [der Besitzer der Arbeitskraft] und
der Geldbesitzer begegnen sich auf dem Markt und treten in Verhältnis zueinander
als ebenbürtige Warenbesitzer, nur dadurch unterschieden, dass der eine
Käufer, der andere Verkäufer, beide also juristisch gleiche Personen
sind. [Fiktiv (hier: juristisch) ist also höchstens die Gleichheit der Personen!]
Die Fortdauer dieses Verhältnisses erheischt, dass der Eigentümer der
Arbeitskraft sie stets nur für bestimmte Zeit verkaufe, denn verkauft er
sie in Bausch und Bogen, ein für allemal, so verkauft er sich selbst, verwandelt
sich aus einem Freien in einen Sklaven, aus einem Warenbesitzer in eine Ware.
Er als Person muss sich beständig zu seiner Arbeitskraft als seinem Eigentum
und daher seiner eigenen Ware verhalten, und das kann er nur, soweit er sie dem
Käufer stets nur vorübergehend, für einen bestimmten Zeittermin,
zur Verfügung stellt, zum Verbrauchüberlässt, also durch ihre
Veräußerung nicht auf sein Eigentum an ihr verzichtet.“Marx beschreibt
also, wie die Ware Arbeitskraft bzw. Mensch (im Falle des Totalverkaufs der Sklaverei)
selbst ein gesellschaftliches Verhältnis ist, welches bloßein spezifisches
zum gesellschaftlichen Verhältnis der dinglichen Wareüberhaupt ist;
die Ware als absolutes Abstraktum des gesellschaftlichen Verhältnisses der
Privateigentümer. Aber ist denn ein Abstraktum fiktiv? Wenn ja, welche Bedeutung
hat dann noch alle Wissenschaft? Und welche Bedeutung haben dann Handel und Zirkulation,
in denen ja nur vermöge der Abstraktion ungleiche Güter getauscht werden?
Die Sache verhält sich anders! Von der konkreten Arbeit muss abstrahiert
werden, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse sind dadurch nicht fiktiv,
bloßvorgestellt oder eingebildet.
Um nun auf die differenten Formen von Arbeiterunruhe zurückzukommen, werden
sie von der Autorin folgendermaßen unterschieden (Seite 38):„Unter Arbeiterunruhe
des polanyischen Typs verstehen wir den Widerstand gegen die Ausdehnung eines
globalen selbstregulierenden Marktes–insbesondere den Widerstand der Arbeiterklassen,
die durch die weltweitenökonomischen Transformationen zersetzt werden,
sowie der Arbeiter und Arbeiterinnen, die von den nun von oben aufgekündigten
Sozialpakten profitiert hatten. Unter Arbeiterunruhe des marxschen Typs fallen
für uns die Kämpfe neu entstehender Arbeiterklassen, die als eine
unbeabsichtigte Folge der Entwicklung des historischen Kapitalismus fortlaufend
gebildet und gestärkt werden–auch wenn alte Arbeiterklassen zersetzt werden.“Kurz
gesagt: Die so genannte polanyische Arbeiterunruhe treibe nichts weiter, sie
sei eine reine Pendelbewegung; mal schlägt das Pendel so aus, mal in die
Gegenrichtung. Ob es solch eine politische, wirtschaftliche Bewegung im realen
Ablauf der Ereignisse in so reiner Form geben kann, ist doch höchst fragwürdig.
Die Beziehung zu der weiter treibenden Bewegung des marxschen Typs wird von
der Autorin zwar als verwandtschaftlich eingeschätzt, aber nicht tiefer
erklärt. Man kann sich auch im Laufe des Weiterlesens nicht wahrhaft für
diese eher oberflächliche Unterscheidung erwärmen. Hinzu kommt nämlich,
dass die so genannte marxsche Bewegung zwar eine Entwicklung enthält,
aber bar jeder Wertigkeit ist. Damit wird nicht die verändernde, aber
die den Kapitalismusüberwindende Wirkung dieser Bewegung völlig negiert–im
weiteren Verlauf des Textes werden revolutionäre Bewegungen, selbst die
russische am Anfang des 20. Jahrhunderts, nivellierend anderer Arbeiterunruhe
gleichgesetzt–ja das den Kapitalismusüberwindende, das revolutionäre
bei Marx wird von der Autorin beinahe schon als„große Erzählung“,
also als Märchen, bezeichnet, soweit sie etwas unüberlegt mit der
postmodernen Begrifflichkeit argumentiert.
Die distanzierte Grundhaltung zum revolutionären Potential der Arbeiterklasse
ist schon im ganzen Buch durchaus herauszuspüren und macht es, so spannend
der Inhalt (sprich: Datenumfang) auch sein mag,–das muss man leider feststellen–erzählerisch
staubtrocken. Ohne dass sie eine zur Einschätzung von Marx und Engels
unterschiedliche Sichtweise näher begründen würde, untersucht
sie den Gegenstand ihrer Wissenschaft, die Arbeiterklasse, von außen,
aus der Distanz des Verhaltensforschers zu, sagen wir, den Graugänsen;äußerste
Sympathie ohne Teilnahme. Der Schluss, den die Autorin zieht, ist daher auch
sehr vage und ungewiss und wir bleiben eigentlich völlig darüber
im Unklaren gelassen, was nun der Begriff„Ausbeutung“bedeutet, wenn die Profite
zwar untergeordnet, aber bestehen bleiben (Seite 224):„Die ultimative Herausforderung,
vor der die Arbeiterinnen und Arbeiter der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts
stehen, ist also der Kampf nicht nur gegen die eigene Ausbeutung und den eigenen
Ausschluss, sondern für eine internationale Ordnung, die den Profit tatsächlich
der Existenzsicherung aller unterordnet.“Wenn dieser Satz logisch ist, so besagt
er, dass die Arbeiterklasse den Kampf nie für sich entscheiden kann, dass
sie auf halber Wegstrecke Halt machen muss–und Petitionen einbringen.
Besondere Skepsis, ein zunächst vielleicht undefinierbares Unbehagen sollte
den Leser streckenweise beim Lesen des vierten Kapitels„Arbeiterbewegungen
und Weltpolitik“ergreifen. Insbesondere die Reflexionenüber den Zusammenhang
von Krieg und Arbeiterunruhe haben einen bitter-schalen Beigeschmack. Man kann
davon ausgehen, dass Beverly J. Silver die Daten statistisch sauber wiedergibt
und sie auch korrekt interpretiert. Aber gerade an diesem Beispiel wird ein
Manko des Buches recht deutlich. Silver erweitert in diesem Kapitel den Blick
auf die Arbeiterklasse im Wechselspiel mit der Weltökonomie auf die Betrachtung
des Wechselspiels von Arbeiterklasse und Weltpolitik. Das ist gut und ist auch
eine wirklich lesens- und beachtenswerte Erweiterung, aber es gelingt ihr nicht
die Weltpolitik richtig zu begreifen. Ihr Fehler: Sie mischt sich nicht (genug)
ein. Sie bleibt Statistikerin.
Die statistische Erhebung in die Diskussion einzubringen ist nun ihr berechtigtes
und nützliches Unterfangen, aber der Leser darf sich nicht erwarten, daraus
die„ganze, reine Wahrheit“ziehen zu können. Beverly J. Silver zeichnet
den Zusammenhang zwischen den Weltkriegen–in der Folge auch zwischen Vietnamkrieg–und
der Arbeiterklasse nach. Sie stellt fest, dass jeweils in den ersten Kriegsjahren
die Arbeiterunruhen einen zahlen- bzw.„nennungsrelevanten“Tiefpunkt erreichen.
Im Gegensatz dazu registriert sie stark wachsende Zahlen vor Ausbruch der beiden
Weltkriege und einen enormen Anstieg der Arbeiterunruhen (mit unterschiedlicher
Ausprägung in den Metropolen und in der kolonialen sowie halbkolonialen
Welt) jeweils nach den Kriegen. Sie istüber diesen Zusammenhang nichtüberrascht,
sie weist ihn nur statistisch nach. Sie selbst erklärt, dass sich die
Sozialwissenschaften schon längstüber einen solchen Zusammenhang
im Klaren waren und zitiert Michael Stohl, der, laut dem von Silver angegebenen
Quellenverzeichnis, in seinem Beitrag„The Nexus of Civil and International
Conflict“, pp. 297–330 zu dem Buch„Handbook of Political Conflict: Theory and
Research“, hrsg. Ted Robert Gurr, New York: The Free Press, drei Varianten
der wissenschaftlichen Erklärung unterscheide:
Silver spricht richtigerweise keiner der drei Thesen ihre Berechtigung ab,
ermittelt aber deren Wichtigkeit anhand der statistischen Erhebung.
Diese Andeutungen sollten einstweilen genügen, aber die Betrachtungen
der Autorin drängen darauf, stärker beachtet zu werden. Sie ordnet
nämlich die dritte von Stohl genannte These den Vorkriegszeiten als passend
zu, die zweite den Nachkriegszeiten und die erste den Kriegsausbrüchen.
Der Gedankengang ist nicht allzu schwer zu begreifen. Die Autorin stützt
ihn, was die zweite These bzw. die Nachkriegszeiten betrifft, unter anderem
dadurch (Seite 179):„Lenins Vorhersage von 1916, dass der Imperialismus alle
Widersprüche des Kapitalismus verschärfen und so den‚Vorabend der
sozialen Revolution des Proletariats‘kennzeichnen würde, schien sich zu
bestätigen.“
Was aber empfindet der Leser nun dennoch als falsch dargestellt? Was irritiert
nun an diesen Gedanken?
Beverly J. Silver zitiert Lenin nicht richtig! Sie reißt einen, sicherlich
damals richtigen, Gedanken Lenins aus seinem Zusammenhang. Nicht, um einen
Götzen zu verteidigen, sei dies gesagt, sondern um herauszuarbeiten, was
unser Standpunkt zu Weltpolitik und Krieg sein muss. Der Gedanke Lenins soll
ebenso geklärt werden, wie der Gedanke Silvers. Hat Lenin nämlich
Recht,–dies sei hier gleich gesagt–dann sind wir mit Lenin. Hat er aber Unrecht,
dann allerdings ist es, wie wir noch sehen werden, bitter für uns. Es
geht also um eine ganz entscheidende Frage!
Mit dem Ordnen der Gedanken von Beverly J. Silver ordnen wir gleichzeitig die
Frage, was wir von der Wissenschaft erwarten dürfen. Wir klären ein
Stück weit den Satz von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit.
Silver beschreibt uns also die„tatsächliche“Dynamik bzw. Wechselwirkung
von Arbeiterunruhen und Krieg. Aber diese rein beschreibende Betrachtungsweise
führt uns in die Irre. Sie beschreibt einen Kriegszyklus der sich von
der Systemstabilisierung durch Krieg (Sündenbock-Hypothese; Stohl-These
3)über das Abflauen der Arbeitermilitanz (Burgfrieden-Hypothese; Stohl
These 1) hin zur Destabilisierung des Systems (Revolutionshypothese; Stohl
These 2) erstreckt. Von außen betrachtet, kann man diesem Zyklus die
Objektivität, und, was die datenmäßige Erfassung betrifft,
die Realität, nicht absprechen–und Silver betrachtet uns, wie schon erwähnt,
von außen und erfasst die historischen Daten in einer Zeitreihe. Weiter
aber sagt Silver kaum etwas, was nützlich scheint oder was wir tun könnten,
um dieser Zeitreihe zu entfliehen–bis auf eine sehr allgemeine Absage an den
Krieg und den wirklich nur angedeuteten Wunsch seiner Vermeidung bezieht sie
nicht Stellung. Der Zyklus gilt ihr dermaßen gewichtig, dass sie selbst
den Zusammenbruch der Zweiten Internationale als Bestätigung der Burgfrieden-Hypothese
wahrnimmt. Würden sie dies ebenso tun, so wüssten die Revolutionäre
kein Heilmittel gegen den Krieg, ja sie müssten ihn sogar fördern,
um anschließend in die dritte Phase zu kommen–zur Revolution.
So aber lässt sich Lenin sicher nicht verstehen! Denn Lenin war es doch
unter anderen auch, der den heftigsten Streit mit den Führern der Zweiten
Internationale ausfocht, in dem er diesen ihre Burgfrieden-Politik vorwarf,
ihnen also vorwarf, sich selbst zum Bestandteil dieses teuflischen Kriegszyklus
zu machen, statt den Zyklus zu durchbrechen. Lenin meinte also, dass nicht
die Zweite Internationale zusammengebrochen ist unter der Last des Weltkrieges,
sondern dass der Weltkrieg möglich wurde durch den Zusammenbruch der Zweiten
Internationale, der dem Versagen der sozialdemokratischen Führung geschuldet
war. Die statistische Zeitreihe verkehrt also Ursache und Wirkung.
Lenin war weiter der Meinung, dass die Revolution von der Zweiten Internationale–er
selbst war ja Teil dieser Internationale–geführt hätte werden müssen,
ganz ohne Weltkrieg! Und nachdem er den Zusammenbruch der Zweiten Internationale
im Zeitalter des erstarkten Imperialismus miterlebt hatte, analysierte Lenin,
dass die Revolution dennoch noch auf der Tagesordnung stünde, weil der
Krieg die Widersprüche nicht wirklich beseitigen könne, sondern sie
nur noch weiter zuspitze. Der Gedanke ist nicht, dass die Revolution erst nach
dem Kriege komme. Wäre dies wirklich Lenins Gedanke gewesen, so wäre
Lenin allein schon durch die Tatsachen widerlegt, denn auch nach dem Krieg
war es, außer in Russland, der Sozialdemokratie noch möglich die
Arbeiterbewegung schlecht zu beraten, und wir müssten uns ohne Umschweife
und Ausreden von Lenin lossagen.
Behält hingegen Beverly J. Silver Recht, so sind alle Arbeiter und Revolutionäre
heute schon, wie eh und je, gescheitert. Dann wird sich eine zukünftige
Sozialdemokratie–eine wirkliche, nicht, die sich heute gerade noch so nennt–bei
der nächsten Gelegenheit auf Silver mit vollem Recht berufen können.
Trotz aller Schwächenstellt Silver uns einen wichtigen Handapparat
für revolutionäre Ziele zur Verfügung. Wir sollen die Wirklichkeit
erkennen, wir sollen Geschichte forschen, um daraus zu lernen. Das Notwendige
muss erkannt werden, auch mit Hilfe von Statistik und Wissenschaft, damit wir
die richtigen Wege beschreiten. Das Ziel muss sich als erreichbar erweisen,
sonst macht es keinen Sinn. Aber um die Freiheit zu erlangen ist unser Wollen
unabkömmlich. Die Wissenschaft mag uns unsere Möglichkeiten zeigen,
aber erst durch unser tätiges Wollen formt sich jener Teil der Realität,
den wir Notwendigkeit nennen. Ohne Erkenntnis dieser Dialektik ist Freiheit
nur ein Wort und doch macht gerade diese Dialektik das Leben so anspruchsvoll!