Forces of Labor

Buchbesprechung

Proletarische Rundschau Nr. 21, November 2005

Das Buch vonBeverly J. Silver:„Forces of Labor. Worker's Movements and Globalization since 1870“, Cambridge University Press, 2003 zu Deutsch:“Forces of Labor.Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870”, Assoziation A, Berlin–Hamburg, 2005[1]ist unbedingt zu empfehlen, denn es muss uns ein Anliegen sein, die Rolle der Politik und ihr Verhältnis zurökonomischen Basis in der Zeit des 20. Jahrhunderts aufzudecken, d.h. die wirtschaftspolitischen Dogmen des Jahrhunderts klarzustellen und so eine Kritik der politischenÖkonomie des 20. Jahrhunderts zur Verfügung zu haben.
Eine derartige Kritik könnte man Silver's Werk nennen, insofern sie, gestützt auf die von der World Labor Research Group erstellte Datenbank (WLG-Datenbank) eine zyklische Bewegung zwischen Legitimitätskrise und Profitabilitätskrise des Kapitalismus nachzeichnet und interpretiert. Denn ein fundamentaler Widerspruch im historischen Kapitalismus–so Silver–wird von ihr dahingehend formuliert (Seite 39 der oben genannten deutschen Ausgabe):„Auf der einen Seite stärkt die Ausweitung kapitalistischer Produktion die Arbeiter und konfrontiert das Kapital (und die Staaten) daher immer wieder mit starken Arbeiterbewegungen. Die Zugeständnisse, mit denen die Arbeiterbewegungen unter Kontrolle gebracht werden sollen, bringen das System im Gegenzug an den Rand einer Profitabilitätskrise. Auf der anderen Seite ziehen die Anstrengungen des Kapitals (und der Staaten) zur Wiederherstellung der Profitabilität den Bruch der vereinbarten Sozialpakte sowie vermehrte Versuche nach sich, den Warencharakter der Arbeit auszudehnen. Dadurch schaffen sie wiederum eine Legitimitätskrise und eine widerständige Gegenbewegung…Diese zeitliche Dynamik ist eng mit einer räumlichen Dynamik verflochten: Das periodische Oszillieren zwischen Phasen eines zunehmenden und Phasen eines abnehmenden Warencharakters der Arbeit ist verbunden mit einem beständigen Prozess der räumlichen Differenzierung zwischen Regionen mit unterschiedlich starkem Warencharakter der Arbeit.“Man kann also sagen, dass sich Silver in ihrer Darstellung des historischen Kapitalismus dahingehend orientiert, dass dasökonomische Sein einerseits die gesellschaftliche Basis, die Klassenauseinandersetzung andererseits das treibende Element der Geschichte bilden–eine Dialektik, die auch heute noch nicht jeder und jedem bekannt ist bzw. durch die heute komplexere kapitalistische Organisation, bis hin zur teilweisen Institutionalisierung des Klassenkampfes, verschleiert wird, nicht zu Bewusstsein kommt. Karl Marx 1844 inÖkonomisch-philosophische Manuskripte [Erstes Manuskript] Arbeitslohn:„Arbeitslohn wird bestimmt durch den feindlichen Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter.“
Silver's Verdienst ist es, dass sie diesen Kampf anhand der WLG-Datenbank-Datenüber„Arbeiterunruhe(n)“untersucht und damit den politischen Aspekt der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus herausstreicht, was die Herausgeber der deutschen Ausgabe als (Seite 7)„Geschichten aus Sicht der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter“titulieren und darin nicht zu Unrecht„eine besondereStärkedes Buches“erblicken.
DieSchwächendes Buches sind zum Teil auch derÜbersetzung bzw. der Unübertragbarkeit gewisser Passagen, Reflexionen und Begriffe geschuldet und mögen im englischen Original nicht so schwerwiegend erscheinen. Die Herausgeber der deutschen Ausgabe weisen in„Anmerkungen zurÜbersetzung“(Seite 10) auf diesen Umstand und das Dilemma derÜbersetzungsarbeit hin. Schon in der Unterschiedlichkeit des jeweiligen Grades der Entsprechung derÜbersetzung„workplace bargaining power“–„Produktionsmacht“,„marketplace bargaining power“–„Marktmacht“sowie„associational bargaining power“–„Organisationsmacht“kann man erkennen, wie unterschiedlich die Konnotationen sind. Der Ausdruck„fix“bzw.„fixes“ist–wie allerdings auch die Herausgeber selbst eingestehen–überhaupt problematisch, weil er, jedenfalls im Deutschen, die zusätzliche Eigenschaft des völlig Undynamischen hat. Er trifft im Deutschen somit nicht wirklich–wie es die Herausgeber vermeinen–die Bedeutung des Verlagerns bzw. Veränderns des Einsatzesüberschüssigen Kapitals als fixes Kapital und auch nicht die der zeitweiligen Problemlösung („to fix a problem“). Wenn die Herausgeber, ihre Schwierigkeiten erklärend, formulieren (Seite 13):„Der marxistische Wirtschaftsgeograph David Harvey hatte Anfang der achtziger Jahre den Begriffspatial fixgeprägt und mit ihm die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Krisenregulierung sehr schön in der Mehrdeutigkeit vonfixzum Ausdruck gebracht“, so könnte man wohl–und die Schönheit, wie bei den alten Griechen, zum wissenschaftlichen Erkenntniskriterium erhoben–meinen, dass die griechische Klassik samt Widersprüchen durch die Mehrdeutigkeit seiner Orakel genügend erklärt sei. Der Wiener im Gegensatz zum Griechen will sich aber kaum mit Mehrdeutigkeiten herumschlagen müssen: Nix is' fix!, und wenn man durchs ganze Buch hindurch mit der monströsen–warumübrigens männlichen?–deutschen Substantivierung konfrontiert ist, ist das Interesse am Inhalt bald auf:Fixis' (bedeutet) nix! geschrumpft.
Ärger aber ist das Kapitel„Arbeit als fiktive Ware“(Seite 34). Es ist ein grundlegendes Kapitel, ohne das das Buch schwer verständlich ist und–man versteht annähernd nichts! Eine ganz wesentliche Problematik wird erörtert in der Differenzierung von„Arbeiterunruhe des marxschen und des polanyischen Typs“. Letzterer leitet sich von Karl Polanyi her, der 1886 in Wien geboren ist, ein Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie in Budapest absolviert hat, 1933 nach England emigriert ist, stark in der Arbeiterbildung engagiert war und 1964 in Kanada verstorben ist. Er ist mit seinem Werk„The Great Transformation“, New York 1944, in dem er sich mit der historischen Durchsetzung des Wirtschaftsliberalismus sowie mit dessen Zusammenbruch beschäftigt, in der sozialwissenschaftlichen Literatur zum„Klassiker“geworden und wird so vielfältig interpretiert und kritisiert wie es dem Gedankenreichtum seines Buches entspricht. Der Leser aber, welcher Polanyi (oder Marx) bis dato nicht näher kennt, muss mit dem Vorlieb nehmen, was die Autorin erläutert. (Seite 35):„Zeigt sich für Marx der fiktive Charakter der Arbeit in der Produktion, so wird für Polanyi der fiktive (und damit unflexible) Charakter schon mit der Schaffung und dem Funktionieren eines Arbeitsmarktes sichtbar.“Erstens: Was bedeutet das Wörtchen„schon“in diesem Zusammenhang? Zweitens: mit der Behauptung des„fiktiven Charakters der Arbeit“kann man absolut nichts anfangen. Was soll damit gemeint sein? Ist denn die Arbeit laut Marx fiktiv? Ist die Gebrauchswert schaffende Arbeit (work) fiktiv? Was fressen wir? Ist die Wert und Mehrwert schaffende Arbeit (labor) fiktiv? Werden wir gar nicht ausgebeutet? Istüberhaupt die Ware Arbeitskraft fiktiv? Marx schreibt von der„eigentümlichen Natur dieser spezifischen Ware“(Das Kapital. Erster Band, II. Abschnitt, 4. Kapitel, Verwandlung von Geld in Kapital), schreibt er aber wirklich von der„fiktiven Ware Arbeit“? Ebenda beschreibt Marx ein gesellschaftliches Verhältnis:„Er [der Besitzer der Arbeitskraft] und der Geldbesitzer begegnen sich auf dem Markt und treten in Verhältnis zueinander als ebenbürtige Warenbesitzer, nur dadurch unterschieden, dass der eine Käufer, der andere Verkäufer, beide also juristisch gleiche Personen sind. [Fiktiv (hier: juristisch) ist also höchstens die Gleichheit der Personen!] Die Fortdauer dieses Verhältnisses erheischt, dass der Eigentümer der Arbeitskraft sie stets nur für bestimmte Zeit verkaufe, denn verkauft er sie in Bausch und Bogen, ein für allemal, so verkauft er sich selbst, verwandelt sich aus einem Freien in einen Sklaven, aus einem Warenbesitzer in eine Ware. Er als Person muss sich beständig zu seiner Arbeitskraft als seinem Eigentum und daher seiner eigenen Ware verhalten, und das kann er nur, soweit er sie dem Käufer stets nur vorübergehend, für einen bestimmten Zeittermin, zur Verfügung stellt, zum Verbrauchüberlässt, also durch ihre Veräußerung nicht auf sein Eigentum an ihr verzichtet.“Marx beschreibt also, wie die Ware Arbeitskraft bzw. Mensch (im Falle des Totalverkaufs der Sklaverei) selbst ein gesellschaftliches Verhältnis ist, welches bloßein spezifisches zum gesellschaftlichen Verhältnis der dinglichen Wareüberhaupt ist; die Ware als absolutes Abstraktum des gesellschaftlichen Verhältnisses der Privateigentümer. Aber ist denn ein Abstraktum fiktiv? Wenn ja, welche Bedeutung hat dann noch alle Wissenschaft? Und welche Bedeutung haben dann Handel und Zirkulation, in denen ja nur vermöge der Abstraktion ungleiche Güter getauscht werden? Die Sache verhält sich anders! Von der konkreten Arbeit muss abstrahiert werden, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse sind dadurch nicht fiktiv, bloßvorgestellt oder eingebildet.
Um nun auf die differenten Formen von Arbeiterunruhe zurückzukommen, werden sie von der Autorin folgendermaßen unterschieden (Seite 38):„Unter Arbeiterunruhe des polanyischen Typs verstehen wir den Widerstand gegen die Ausdehnung eines globalen selbstregulierenden Marktes–insbesondere den Widerstand der Arbeiterklassen, die durch die weltweitenökonomischen Transformationen zersetzt werden, sowie der Arbeiter und Arbeiterinnen, die von den nun von oben aufgekündigten Sozialpakten profitiert hatten. Unter Arbeiterunruhe des marxschen Typs fallen für uns die Kämpfe neu entstehender Arbeiterklassen, die als eine unbeabsichtigte Folge der Entwicklung des historischen Kapitalismus fortlaufend gebildet und gestärkt werden–auch wenn alte Arbeiterklassen zersetzt werden.“Kurz gesagt: Die so genannte polanyische Arbeiterunruhe treibe nichts weiter, sie sei eine reine Pendelbewegung; mal schlägt das Pendel so aus, mal in die Gegenrichtung. Ob es solch eine politische, wirtschaftliche Bewegung im realen Ablauf der Ereignisse in so reiner Form geben kann, ist doch höchst fragwürdig. Die Beziehung zu der weiter treibenden Bewegung des marxschen Typs wird von der Autorin zwar als verwandtschaftlich eingeschätzt, aber nicht tiefer erklärt. Man kann sich auch im Laufe des Weiterlesens nicht wahrhaft für diese eher oberflächliche Unterscheidung erwärmen. Hinzu kommt nämlich, dass die so genannte marxsche Bewegung zwar eine Entwicklung enthält, aber bar jeder Wertigkeit ist. Damit wird nicht die verändernde, aber die den Kapitalismusüberwindende Wirkung dieser Bewegung völlig negiert–im weiteren Verlauf des Textes werden revolutionäre Bewegungen, selbst die russische am Anfang des 20. Jahrhunderts, nivellierend anderer Arbeiterunruhe gleichgesetzt–ja das den Kapitalismusüberwindende, das revolutionäre bei Marx wird von der Autorin beinahe schon als„große Erzählung“, also als Märchen, bezeichnet, soweit sie etwas unüberlegt mit der postmodernen Begrifflichkeit argumentiert.
Die distanzierte Grundhaltung zum revolutionären Potential der Arbeiterklasse ist schon im ganzen Buch durchaus herauszuspüren und macht es, so spannend der Inhalt (sprich: Datenumfang) auch sein mag,–das muss man leider feststellen–erzählerisch staubtrocken. Ohne dass sie eine zur Einschätzung von Marx und Engels unterschiedliche Sichtweise näher begründen würde, untersucht sie den Gegenstand ihrer Wissenschaft, die Arbeiterklasse, von außen, aus der Distanz des Verhaltensforschers zu, sagen wir, den Graugänsen;äußerste Sympathie ohne Teilnahme. Der Schluss, den die Autorin zieht, ist daher auch sehr vage und ungewiss und wir bleiben eigentlich völlig darüber im Unklaren gelassen, was nun der Begriff„Ausbeutung“bedeutet, wenn die Profite zwar untergeordnet, aber bestehen bleiben (Seite 224):„Die ultimative Herausforderung, vor der die Arbeiterinnen und Arbeiter der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen, ist also der Kampf nicht nur gegen die eigene Ausbeutung und den eigenen Ausschluss, sondern für eine internationale Ordnung, die den Profit tatsächlich der Existenzsicherung aller unterordnet.“Wenn dieser Satz logisch ist, so besagt er, dass die Arbeiterklasse den Kampf nie für sich entscheiden kann, dass sie auf halber Wegstrecke Halt machen muss–und Petitionen einbringen.
Besondere Skepsis, ein zunächst vielleicht undefinierbares Unbehagen sollte den Leser streckenweise beim Lesen des vierten Kapitels„Arbeiterbewegungen und Weltpolitik“ergreifen. Insbesondere die Reflexionenüber den Zusammenhang von Krieg und Arbeiterunruhe haben einen bitter-schalen Beigeschmack. Man kann davon ausgehen, dass Beverly J. Silver die Daten statistisch sauber wiedergibt und sie auch korrekt interpretiert. Aber gerade an diesem Beispiel wird ein Manko des Buches recht deutlich. Silver erweitert in diesem Kapitel den Blick auf die Arbeiterklasse im Wechselspiel mit der Weltökonomie auf die Betrachtung des Wechselspiels von Arbeiterklasse und Weltpolitik. Das ist gut und ist auch eine wirklich lesens- und beachtenswerte Erweiterung, aber es gelingt ihr nicht die Weltpolitik richtig zu begreifen. Ihr Fehler: Sie mischt sich nicht (genug) ein. Sie bleibt Statistikerin.
Die statistische Erhebung in die Diskussion einzubringen ist nun ihr berechtigtes und nützliches Unterfangen, aber der Leser darf sich nicht erwarten, daraus die„ganze, reine Wahrheit“ziehen zu können. Beverly J. Silver zeichnet den Zusammenhang zwischen den Weltkriegen–in der Folge auch zwischen Vietnamkrieg–und der Arbeiterklasse nach. Sie stellt fest, dass jeweils in den ersten Kriegsjahren die Arbeiterunruhen einen zahlen- bzw.„nennungsrelevanten“Tiefpunkt erreichen. Im Gegensatz dazu registriert sie stark wachsende Zahlen vor Ausbruch der beiden Weltkriege und einen enormen Anstieg der Arbeiterunruhen (mit unterschiedlicher Ausprägung in den Metropolen und in der kolonialen sowie halbkolonialen Welt) jeweils nach den Kriegen. Sie istüber diesen Zusammenhang nichtüberrascht, sie weist ihn nur statistisch nach. Sie selbst erklärt, dass sich die Sozialwissenschaften schon längstüber einen solchen Zusammenhang im Klaren waren und zitiert Michael Stohl, der, laut dem von Silver angegebenen Quellenverzeichnis, in seinem Beitrag„The Nexus of Civil and International Conflict“, pp. 297–330 zu dem Buch„Handbook of Political Conflict: Theory and Research“, hrsg. Ted Robert Gurr, New York: The Free Press, drei Varianten der wissenschaftlichen Erklärung unterscheide:

  1. Die Beteiligung am Krieg stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf nationaler Ebene und führt zur inneren Befriedung
  2. Die Beteiligung am Krieg verschärft die sozialen Konflikte auf nationaler Ebene und vergrößert die Chancen auf Revolution
  3. Soziale Konflikte auf nationaler Ebene bringen Regierungen dazu, sich an Kriegen zu beteiligen

Silver spricht richtigerweise keiner der drei Thesen ihre Berechtigung ab, ermittelt aber deren Wichtigkeit anhand der statistischen Erhebung.
Diese Andeutungen sollten einstweilen genügen, aber die Betrachtungen der Autorin drängen darauf, stärker beachtet zu werden. Sie ordnet nämlich die dritte von Stohl genannte These den Vorkriegszeiten als passend zu, die zweite den Nachkriegszeiten und die erste den Kriegsausbrüchen. Der Gedankengang ist nicht allzu schwer zu begreifen. Die Autorin stützt ihn, was die zweite These bzw. die Nachkriegszeiten betrifft, unter anderem dadurch (Seite 179):„Lenins Vorhersage von 1916, dass der Imperialismus alle Widersprüche des Kapitalismus verschärfen und so den‚Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats‘kennzeichnen würde, schien sich zu bestätigen.“
Was aber empfindet der Leser nun dennoch als falsch dargestellt? Was irritiert nun an diesen Gedanken?
Beverly J. Silver zitiert Lenin nicht richtig! Sie reißt einen, sicherlich damals richtigen, Gedanken Lenins aus seinem Zusammenhang. Nicht, um einen Götzen zu verteidigen, sei dies gesagt, sondern um herauszuarbeiten, was unser Standpunkt zu Weltpolitik und Krieg sein muss. Der Gedanke Lenins soll ebenso geklärt werden, wie der Gedanke Silvers. Hat Lenin nämlich Recht,–dies sei hier gleich gesagt–dann sind wir mit Lenin. Hat er aber Unrecht, dann allerdings ist es, wie wir noch sehen werden, bitter für uns. Es geht also um eine ganz entscheidende Frage!
Mit dem Ordnen der Gedanken von Beverly J. Silver ordnen wir gleichzeitig die Frage, was wir von der Wissenschaft erwarten dürfen. Wir klären ein Stück weit den Satz von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit.
Silver beschreibt uns also die„tatsächliche“Dynamik bzw. Wechselwirkung von Arbeiterunruhen und Krieg. Aber diese rein beschreibende Betrachtungsweise führt uns in die Irre. Sie beschreibt einen Kriegszyklus der sich von der Systemstabilisierung durch Krieg (Sündenbock-Hypothese; Stohl-These 3)über das Abflauen der Arbeitermilitanz (Burgfrieden-Hypothese; Stohl These 1) hin zur Destabilisierung des Systems (Revolutionshypothese; Stohl These 2) erstreckt. Von außen betrachtet, kann man diesem Zyklus die Objektivität, und, was die datenmäßige Erfassung betrifft, die Realität, nicht absprechen–und Silver betrachtet uns, wie schon erwähnt, von außen und erfasst die historischen Daten in einer Zeitreihe. Weiter aber sagt Silver kaum etwas, was nützlich scheint oder was wir tun könnten, um dieser Zeitreihe zu entfliehen–bis auf eine sehr allgemeine Absage an den Krieg und den wirklich nur angedeuteten Wunsch seiner Vermeidung bezieht sie nicht Stellung. Der Zyklus gilt ihr dermaßen gewichtig, dass sie selbst den Zusammenbruch der Zweiten Internationale als Bestätigung der Burgfrieden-Hypothese wahrnimmt. Würden sie dies ebenso tun, so wüssten die Revolutionäre kein Heilmittel gegen den Krieg, ja sie müssten ihn sogar fördern, um anschließend in die dritte Phase zu kommen–zur Revolution.
So aber lässt sich Lenin sicher nicht verstehen! Denn Lenin war es doch unter anderen auch, der den heftigsten Streit mit den Führern der Zweiten Internationale ausfocht, in dem er diesen ihre Burgfrieden-Politik vorwarf, ihnen also vorwarf, sich selbst zum Bestandteil dieses teuflischen Kriegszyklus zu machen, statt den Zyklus zu durchbrechen. Lenin meinte also, dass nicht die Zweite Internationale zusammengebrochen ist unter der Last des Weltkrieges, sondern dass der Weltkrieg möglich wurde durch den Zusammenbruch der Zweiten Internationale, der dem Versagen der sozialdemokratischen Führung geschuldet war. Die statistische Zeitreihe verkehrt also Ursache und Wirkung.
Lenin war weiter der Meinung, dass die Revolution von der Zweiten Internationale–er selbst war ja Teil dieser Internationale–geführt hätte werden müssen, ganz ohne Weltkrieg! Und nachdem er den Zusammenbruch der Zweiten Internationale im Zeitalter des erstarkten Imperialismus miterlebt hatte, analysierte Lenin, dass die Revolution dennoch noch auf der Tagesordnung stünde, weil der Krieg die Widersprüche nicht wirklich beseitigen könne, sondern sie nur noch weiter zuspitze. Der Gedanke ist nicht, dass die Revolution erst nach dem Kriege komme. Wäre dies wirklich Lenins Gedanke gewesen, so wäre Lenin allein schon durch die Tatsachen widerlegt, denn auch nach dem Krieg war es, außer in Russland, der Sozialdemokratie noch möglich die Arbeiterbewegung schlecht zu beraten, und wir müssten uns ohne Umschweife und Ausreden von Lenin lossagen.
Behält hingegen Beverly J. Silver Recht, so sind alle Arbeiter und Revolutionäre heute schon, wie eh und je, gescheitert. Dann wird sich eine zukünftige Sozialdemokratie–eine wirkliche, nicht, die sich heute gerade noch so nennt–bei der nächsten Gelegenheit auf Silver mit vollem Recht berufen können.
Trotz aller Schwächenstellt Silver uns einen wichtigen Handapparat für revolutionäre Ziele zur Verfügung. Wir sollen die Wirklichkeit erkennen, wir sollen Geschichte forschen, um daraus zu lernen. Das Notwendige muss erkannt werden, auch mit Hilfe von Statistik und Wissenschaft, damit wir die richtigen Wege beschreiten. Das Ziel muss sich als erreichbar erweisen, sonst macht es keinen Sinn. Aber um die Freiheit zu erlangen ist unser Wollen unabkömmlich. Die Wissenschaft mag uns unsere Möglichkeiten zeigen, aber erst durch unser tätiges Wollen formt sich jener Teil der Realität, den wir Notwendigkeit nennen. Ohne Erkenntnis dieser Dialektik ist Freiheit nur ein Wort und doch macht gerade diese Dialektik das Leben so anspruchsvoll!

Fußnoten