Portugal 1974

Die Nelkenrevolution und die antikolonialen Befreiungsbewegungen in Guinea Bissao und Kap Verden, Angola und Mocambique

Proletarische Rundschau Nr. 15, Mai 2004

Es ist 30 Jahre her, dass in Europa ein Aufstand stattfand, in dessen Verlauf so etwas wie sozialistische Perspektiven entwickelt wurden: In Portugal 1974, wurde in der so genannten Nelkenrevolution eine faschistische Diktatur von einigen Militärs weggeputscht und es folgten zwei Jahre gesellschaftlicher Umgestaltungen, getragen von Massenbewegungen und fortschrittlichen Kräften. Viele westeuropäische Linke hatten damals große Hoffnungen, dass die Revolution nach Europa zurückgekehrt sei - noch dazu unblutig und romantisch mit Nelken in den Gewehrläufen der Soldaten.

Um zu verstehen was geschah, genügt nicht der Blick auf Portugal allein. Es spielten sich parallel in verschiedenen Gesellschaften eng zusammenhängende Entwicklungen ab. Einerseits in Portugal, dem westlichsten Land Europas, einer total verschuldeten, kriegführenden alten Kolonialmacht, andererseits in Afrika, wo Portugal Kolonien verteidigte: in Guinea-Bissao, Mocambique und Angola, wo seit 1961 bewaffnete Befreiungskämpfe gegen die Kolonialmacht geführt wurden.

Wichtig und erstens: Der Umstand, dass Portugal zu diesem Zeitpunkt noch Kolonien in Afrika hatte und den Kolonialkrieg, den es dort führte nicht finanzieren und weder in der Bevölkerung noch innerhalb des Militärs länger rechtfertigen konnte, war wahrscheinlich der wichtigste Auslöser des Putsches von 1974, der als Nelkenrevolution bezeichnet wird. In den Kriegen, die Portugal mit Hilfe der NATO in Angola, Mocambique und Guinea-Bissao führte, waren 70% der 225.000 Soldaten starken portugiesischen Armee eingesetzt und er kostete Portugal ungefähr so viele Opfer, wie die USA zeitgleich in Vietnam hatten. Innerhalb Portugals verstärkte sich in allen Schichten der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit dem Regime, das die Kolonien um jeden Preis halten wollte.

Portugal war eine der ältesten Kolonialmächte Europas, die einseitige Orientierung auf den Überseehandel mit Gewürzen und Sklaven hatte dazu geführt, dass im Land selber die kapitalistische Entwicklung nur zögerlich vonstatten ging und auch die der Landwirtschaft vernachlässigt wurde. 1910 wurde in Portugal die Republik ausgerufen, und bürgerlich- demokratische Rechte verkündet. Es gab aber keine Agrarreform und auch keine wirkliche Demokratisierung von Armee und Staatsapparat. Zwischen 1910 und 1926 wechselten 44 Kabinette einander ab, es gab 8 Präsidenten und 26 Umsturzversuche, die Großbourgeoisie strebte, auch angesichts der Entwicklung im sonstigen Europa nach einem „starken Mann“... 1926 wurde die Republik abgeschafft, die Machtkämpfe unter den herrschenden Kreisen spitzten sich zu, 1928 kam Oliveira Salazar vorerst als Finanzminister in die Regierung, er wurde 1932 zum Ministerpräsidenten mit weitreichenden Vollmachten berufen, und verkündete eine neue Verfassung, des „Estado Nuovo“[1], und für das Volk einen „Leidensweg der Opfer“, durch den Portugal aus der Krise geführt werden sollte. Gewinner der Wirtschaftspolitik unter Salazar waren die Großgrundbesitzer und Finanzkonzerne der großen Familienclans. Nach dem 2. Weltkrieg fand eine Annäherung an die USA statt, 1949 trat Portu- gal der NATO bei. In den folgenden 25 Jahren stieg Portugals Abhängigkeit vom Ausland immer mehr (vor allem von GB, USA, BRD, Belgien). Salazar starb bei einem Unfall, sein Nachfolger Caetano war es, der 1974 in der „Nelkenrevolution“ gestürzt wurde.

Seit Ende 1973 hatten sich die Militärs um Spinola, den Vizechef des Stabs der Streitkräfte auf einen Putsch orientiert, Anfang 1974 wurde die MFA (Movimento des Forças Armadas)[2] gegründet. Im Februar 1974 veröffentlichte Spinola das Buch „Portugal e o Futuro“[3], in dem ein militärischer Sieg Portugals im Kolonialkrieg als unmöglich bezeichnet und eine Föderation und mögliche langsame Loslösung von den Kolonien vorgeschlagen wurde. Diese Position wurde von breiten Teilen der Armee, die sich in der MFA zusammengeschlossen hatten, geteilt. Nun wurde sie öffentlich gemacht. Für den 14. März wurde eine Treuekundgebung für das Regime angeordnet, aber die Chefs der Streitkräfte erschienen nicht und wurden am nächsten Tag abgesetzt. Daraufhin begannen Militäreinheiten zu rebellieren. Offiziere wurden inhaftiert, viele allerdings bald wieder frei gelassen und strafversetzt. Doch kam auch dies der Bewegung zugute, weil in den neuen Einheiten die Agitation für einen Umsturz fortgesetzt werden konnte. Dass etwas passieren musste war klar, denn dass das Regime schon bald härter durchgreifen würde, zeichnete sich ab. Es wurde ein Termin für den Staatsstreich festgesetzt, die Woche vom 20. bis 27. April.

Am Morgen des 25. April 1974 um 0.30 Uhr spielte ein kleiner Radiosender das Lied „Grandola vila morena“[4]. (Die Stadt Grandola war das Zentrum des kommunistischen Widerstands gegen das Regime). Es war das Startsignal für den Aufstand. In den Kasernen übernahmen Offiziere der Bewegung das Kommando. Ihre Gegner nahmen sie fest. Die Regierung war handlungsunfähig, auf den Straßen liefen immer mehr Einheiten der Polizei und der letzten regierungstreuen Truppen zu den Aufständischen über, andere verhielten sich passiv oder ergaben sich.
Ab 4.30 Uhr wurde über einen Sender regelmäßig über den Stand der Ereignisse informiert, die letzten Regierungseinheiten zur Besonnenheit aufgerufen und die Bevölkerung aufgefordert, zuhause zu bleiben. Letzteres allerdings vergeblich: Die Menschen liefen auf die Straßen und solidarisierten sich mit den Aufständischen und steckten ihnen Blumen in die Gewehre.
Regierungschef Caetano, der, wie auch die NATO über die Putschpläne informiert war, verschanzte sich zuerst in einer Kaserne, gab dann die Macht an Spinola ab, der von der Junta zum Präsidenten der Republik gewählt wurde.

Spinola hatte die Aufgabe übernommen, einem Aufschwung der Massenbewegung, hervorgerufen durch die Aussichtslosigkeit des Kolonialkrieges, mit einem Offiziersputsch zuvorzukommen. Einer der Führer des Offiziersputsches drückte das so aus: „Wir sind zu der Schlussfolgerung gelangt, man muss etwas machen, denn wenn wir es nicht gemacht hätten, hätte es die Bevölkerung selbst gemacht. Wir hatten das Gefühl, dass wir uns auf dem Weg in den Abgrund befinden und dass dieser in einem Bürgerkrieg bestehen würde, in dem das Volk die Waffen ergreift. Da erschien ... General Spinola, der ja großes Ansehen hat. Wir hatten die Gewissheit, dass die Revolution mit diesem Mann nicht das Werk der Straße sein würde.“
Doch aus dem Putsch der Generäle entwickelte sich eine Volkserhebung, denn die Unzufriedenheit der Arbeiter/innen und Bäuer/innen war groß und sie ließen sich nicht mit einem bloßen Regierungswechsel abspeisen.

Portugals Wirtschaft befand sich in den Händen einer Oligarchie, bestehend aus einer Handvoll Familien, die Handel und Banken kontrollierten, drei Prozent der Grundbesitzer verfügten über 61% der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche, dagegen besaßen von 800.000 Kleinbäuer/innen/innen 700.000 weniger als 5 Hektar Boden. Die Analphabetenrate in einzelnen ländlichen Gebieten betrug bis zu 75%. So nimmt es kein Wunder, dass die unzufriedenen Massen die Gelegenheit nutzten und aufstanden.
Innerhalb eines Tages war also, nach 48 Jahren, der „Estado Novo“ gestürzt worden. - Was folgte?

Die Massenbewegung machte Druck auf die Junta, Mitglieder der ehemaligen Geheimpolizei (PIDE) wurden auf den Straßen gejagt, die Freilassung von Häftlingen verlangt, die nur wenige Tage nach dem Putsch amnestiert wurden, große Demonstrationen wurden abgehalten, Repräsentanten der alten Macht wurden von massenhaft gegründeten Volkskomitees abgesetzt und neue gewählt.
Schon nach kurzer Zeit war die sich entwickelnde Massenbewegung in Widerspruch zu den neuen Machthabern gekommen. Spinola musste noch im September zurücktreten.

Der Revolutionsrat, der unter dem Druck der Massenbewegung einen fortschrittlicheren Kurs verfolgte, als Spinola ursprünglich beabsichtigt hatte, begann im kommenden Jahr mit der Verstaatlichung von Banken und Großunternehmen und einer Vielzahl sozialer Reformen. Die vorrangigste: „A terra a quem a trabalha“ (das Land denen, die es bearbeiten) wurde in Angriff genommen: Großgrundbesitzer wurden enteignet, Kooperativen gegründet und basisdemokratische Volksräte eingesetzt. Vor allem in den Gebieten um Lissabon und im südlichen Alentejo, dem Zentrum der Landarbeiter/innenbewegung fand eine starke Radikalisierung der Bewegung statt. In vielen Betrieben wurden „Komitees der Wachsamkeit“ gegründet, auf Vollversammlungen fanden Wahlen statt, in denen Delegierte gewählt wurden, die den Vollversammlungen verantwortlich blieben, es entwickelten sich unterschiedliche verschiedene Formen betrieblicher Mitbestimmung und auch die Übernahme von Fabriken durch Räte. Linke Gruppen außerhalb der KP, hauptsächlich maoistische wie die UDP, OCMLP, MRPP gewannen Einfluss in der Arbeiter/innenklasse. Doch eine wirkliche Avantgardepartei mit einem revolutionären Konzept und einem Programm, wie die Staatsmacht zu erobern und zu halten sei fehlte, so dass die revisionistische KP, die auf Parlamentarismus setzte, schon im Jahr 1975 ihren Einfluss wieder großteils zurückgewinnen konnte. Zu spät schlossen sich diverse ml-Organisationen zur PCPR zusammen und konnten zwar einige Mandate erringen, aber die revolutionäre Bewegung war schon wieder im Abklingen. Bei den Wahlen vom April 1975 verlor die Linke Stimmen und Sitze zugunsten der sozialdemokratischen und anderer bürgerlichen Parteien, die in Richtung EG drängten; auch die Gewerkschaft spaltete sich in zwei Verbände. Außerdem sammelte sich die Reaktion, die sich auf Mittelbauern und Kleinbauern stützte im Norden des Landes und unterlief die Bewegung.

In den folgenden Jahren wurden durch Änderungen der Verfassung zahlreiche Errungenschaften von 1974 wieder abgeschafft. Bis Ende 1977 waren 90 der 261 im Jahr 1975 übernommenen Betriebe wieder an ihre früheren Eigentümer zurückgegeben worden. Die Betriebe, die unter staatliche Treuhandschaft gestellt waren, wanderten wieder zur Gänze in die Verfügungsgewalt ihrer ehemaligen Eigentümer. Die Agrarreform wurde gegen der Widerstand der 450 kollektiven Produktionseinheiten im Süden teilweise wieder rückgängig gemacht – etwa 60% der insgesamt 1 Million Hektar besetzter landwirtschaftlicher Nutzfläche wurden reprivatisiert. Auch die Normalarbeitszeit wurde 1977 von 40 wieder auf 45 Stunden erhöht.

Tatsächlich waren die ein bis zwei Jahre in Portugal nach dem April 1974 eine Zeit, in der die herrschenden Klassen nicht mehr so konnten wie sie wollten und die Beherrschten nicht mehr bereit waren, ihre Unterdrückung hinzunehmen. Allerdings fehlte, wie auch oben schon erwähnt, eine in den Massen verankerte wirklich kommunistische Partei, die die Machtfrage ernsthaft stellen konnte. So blieb die Zeit der Doppelherrschaft eine Zeit des Umbruchs, aber nicht der sozialistische Weg wurde eingeschlagen, sondern die Revolution blieb im wesentlichen bei bürgerlich-demokratischen Errungenschaften stehen. Die europäischen Imperialisten taten das ihrige, um die Sozialdemokratie aufzubauen und zu fördern und so die Unzufriedenheit der Massen zu kanalisieren.
Der weitere Weg Portugals in die EG (EU), meistens unter sozialdemokratischer Regierung, ist bekannt.

Ein Resultat der Revolution der Nelken war jedenfalls, dass Portugal endgültig auf seine Kolonien verzichtete. Doch was geschah in den um ihre Befreiung kämpfenden afrikanischen Kolonien?
Die „Entlassung“ in die Unabhängigkeit war für die ehemaligen portugiesischen Kolonien mit einer Entwicklung verbunden, die katastrophaler nicht hätte sein können, auch wenn die Kämpfe hoffnungsvoll begonnen hatten.

Guinea Bissao

Guinea Bissao ist ein kleines Land in Westafrika, das Mitte der 1970er Jahre ca. 800.000 Einwohner/innen hatte (heute 1.224.000).
Der organisierte Kampf in Guinea-Bissao und Kapverden gegen die portugiesische Kolonialherrschaft hatte im Jahre 1963 begonnen. Die Partei, die diesen Befreiungskampf anführte, war die PAIGC (Afrikanische Partei der Unabhängigkeit von Guinea-Bissao und den Kapverden) mit ihrem Anführer Amilcar Cabral. Die PAIGC war 1956 gegründet worden. Ihr Ziel war, im Volkskrieg zuerst die portugiesische Kolonialmacht zu brechen und dann auf dem Weg der neudemokratischen Revolution weiter in Richtung Sozialismus zu schreiten. Eine Guerilla mit breiter Unterstützung im Volk hatte sich formiert und konnte bis 1971 2/3 des Territoriums von Guinea-Bissao befreien.

In den befreiten Gebieten wurden Dorfkomitees gewählt, die neben der Ausbildung von Kämpfer/innen auch die Aufgabe hatten, die landwirtschaftliche Produktion für den Eigenbedarf zu organisieren, um die Versorgung zu gewährleisten. Gleichzeitig wurde damit begonnen, den Anbau von Exportprodukten (hpts. Erdnüssen) zu boykottieren. Seit Beginn des Befreiungskampfes boykottierte die Bevölkerung im Süden und im südlichen Zentrum des Landes auch den Handel der portugiesischen Handelsgesellschaften. Die organisierte Sabotage gegen portugiesische Handelskontore führt dazu, dass der Kolonialhandel immer weiter eingeschränkt werden musste, was die Kolonialmacht in zunehmende Schwierigkeiten brachte.

Das Transportsystem der Portugiesen wurde angegriffen. 1964 wurden 12 Schiffe und Lastkähne von den Befreiungskämpfern geentert und versenkt, und weite Teile des Straßennetzes blockiert. In den befreiten Gebieten war die Benutzung des portugiesischen Escudo als Währung abgeschafft und die Steuerzahlungen an die Kolonialmacht wurden verweigert ... Eine wichtige Aufgabe, die die Befreiungsbewegung wahrnahm war auch, eine medizinische Grundversorgung sicherzustellen und Schulen aufzubauen, was die Portugiesen in den 500 Jahren ihrer Herrschaft nicht für nötig befunden hatten. Diese sozialen Maßnahmen waren ein wichtiger Grund, warum die PAIGC so fest in der Bevölkerung verankert war und unterstützt wurde.

1972 trat Amilcar Cabral vor der UNOHauptversammlung auf und gegen die Stimmen Südafrikas, Englands und der USA wurden mit großer Mehrheit die PAIGC für Guinea Bissao, die MPLA für Angola, und die FRELIMO für Mocambique als die legitimen Vertreter ihrer Völker anerkannt.
Im selben Jahr 1972 proklamierte die PAIGC die Unabhängigkeit von Guinea Bissao. Portugal versuchte zwar noch, die NATO für eine Fortführung des Krieges zu gewinnen, blieb dabei aber erfolglos.
Anfang 1973 wurde Amilcar Cabral hinterhältig vom portugiesischen Geheimdienst ermordet, doch schon wenige Monate später rief die Befreiungsbewegung die Republik aus. Im September 1974 musste auch Lissabon im Gefolge der Nelkenrevolution den neuen Staat Guinea-Bissao anerkennen.

Auch in Mocambique und Angola hatten bewaffnete Gruppen für die Unabhängigkeit gekämpft. Nach der Nelkenrevolution wurden auch diese Länder „in die Unabhängigkeit entlassen”. Doch gelang es den Völkern in der Folge nicht, wirklich unabhängig zu werden. In beiden Ländern begann ein Jahrzehnte lang dauernder angeblicher Bürgerkrieg, der tatsächlich ein Stellvertreterkrieg war, auf dem sich auf der einen Seite der russische Sozialimperialismus, auf der anderen westliche imperialistische Mächte bzw. das südafrikanische Apartheidregime mittels finanzierter Contras um Einflussgebiete rauften. Die alte Kolonialmacht Portugal war zwar hinausgeflogen – und sie hätte die ökonomische Kapazität für ein neokolonialistisches Projekt nicht mitgebracht, aber die großen Imperialisten im Hintergrund hatten schon gelauert. – Trotz der Weitsicht Amilcar Cabrals, sind diese Befreiungsversuche gescheitert. Er hat es schon früh erkannt: „Das bedeutet, wenn man die wesentlichen Merkmale der Weltwirtschaft unserer Zeit sowie die bereits gesammelten Erfahrungen auf dem Gebiet des antiimperialistischen Kampfes berücksichtigt, daß die wichtigste Voraussetzung der nationalen Befreiung der Kampf gegen den Neokolonialismus ist.
Diesen Kampf, gegen den Neokolonialismus, haben alle drei portugiesischen Kolonien – und nicht nur sie – einstweilen verloren, aber er muss weitergehen.

Endnoten