70 Jahre Februar 1934

Schluß mit Phrasen, vorwärts zu Taten -
denn die Fronten wurden jetzt klar,
durch den Kampf der roten Soldaten,
durch den 12. Februar.

Das Gebrüll der Dollfuß-Kanonen
hieb in Scherben die Demokratie,
hieb in Fetzen die Illusionen
von der Klassenharmonie.

(anonym, Wien 1934)

Proletarische Rundschau Nr. 14, Februar 2004

Anfang der 1930er Jahre nahm die Faschisierungstendenz, die dem bürgerlichen Staat innewohnt, in Österreich in Form von Polizei- und Heimwehrübergriffen gegen die Arbei­ter/innen-Bewegung immer bedrohlichere Formen an. (Die Heimwehren waren parami­lit ä risch organisierte, staatsnahe Faschisten­organisationen, die von Bürgern und Aristo­kraten großzügig finanziert und angeleitet wurden.) In allen österreichischen Industrie­gebieten standen Überfälle, Hausdurchsuchun­gen und Waffenbeschlagnahmungen in Ar­beiter/innen-Heimen, Misshandlungen und Verhaftungen, Zerstörung von Arbeiter/innen-Eigentum usw. auf der Tagesordnung.

Als in den Morgenstunden des 12. Februar 1934 Polizei das Linzer Arbeiter/innen — Heim stürmte, waren die entschlossensten Linzer Arbeiter/innen nicht mehr bereit, eine weitere Provokation widerstandslos hinzunehmen. Des­wegen schlugen der Polizei beim Eindringen in das Hotel Schiff (worin das Arbeiter/innen-Heim untergebracht war) Gewehrfeuer entgegen. Be­reits um 10 Uhr warf Dollfuß, so der Name des damaligen Schüssel, das Bundesheer in das sich rasch ausweitende Gefecht. Am Linzer Bahnhof, auf dem Freinberg, in der Schiffswerft, am Pe­stalozziplatz, in Urfahr - überall begannen Schutzbündler/innen und klassenbewußte Ar­beiter/innen den Schergen des bürgerlichen Staates bewaffnet entgegenzutreten.
Drei Stunden nach Beginn der Kampfhand­lungen in Linz traten die Arbeiter/innen der zwei Wiener Gaswerke in den Streik. Wenig sp ä ter schalteten Wiener E-Werk Arbeiter/in­nen den Strom ab, wodurch Betriebe, Straßen­bahn usw. stillstanden. Noch am Vormittag verhängte der Christ Dollfuß das „Standrecht" und kündigte an, das Rückgrat der Arbeiter/in­nen-Klasse endgültig zu zertrümmern.
In den Wiener Industriebezirken und den Vorstädten begannen Schutzbündler/innen und fortgeschrittene Arbeiter/innen den Kampf. Mangelhaft ausgerüstet, schlecht be­waffnet, ohne Kampfaufträge und Losungen, oft ohne jede Verbindung zu den anderen kämpfenden Gruppen, von der SP-Führung im Stich gelassen, setzten sie der verbrecherischen Gewalt der rot-weiß-roten Faschisten die ge­rechte Gewalt des Proletariats entgegen.

Obwohl die Kampfhandlungen bald alle wichtigen Industriezentren Österreichs - Wien, Linz, Steyr, Bruck usw. - erfassten und fünf Tage lang andauerten, waren die Februar­kämpfer/innen der staatlichen Übermacht nicht gewachsen. Polizei und Bundesheer waren so­wohl in Bewaffnung und Ausrüstung als auch in Organisation und Manövrierfähigkeit weit überlegen. Die Arbeiter/innen-Klasse kann den bewaffneten Kampf auf dem Boden des kapi­talistischen Klassenstaates nur dann erfolgreich führen, wenn möglichst die ganze Klasse ge­schlossen hinter ihr steht. Aber der General­streik der im Juli 1927 noch lückenlos war, kam im Februar 1934 nicht mehr zustande. Die Auf­ständischen des Februar 1934 haben mit ihrem heroischen Kampf zwar die Ehre des öster­reichischen Proletariats gerettet, sie konnten aber die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur in Ö sterreich nicht mehr verhindern.

Was waren die Ursachen der Niederlage des Februar 1934?

Nach der Oktoberrevolution in Russland und dem Zerfall des Habsburger Reichs als Folge des Ersten Weltkriegs setzten die österreichi­schen sozialdemokratischen Führer auf einen „ Dritten Weg". Der sogenannte „ Austromar­xismus" grenzte sich theoretisch sowohl vom rechtssozialdemokratischen Weg des offenen Übergangs auf die Seite der (imperialistischen) Bourgeoisie, wie ihn z.B. die deutsche SPD voll­zogen hatte, als auch vom revolutionär soziali­stischen Weg der Bolschewiki ab. Der Weg der Austromarxisten unterschied sich vom Weg der rechten Sozialdemokraten anderer Länder Eu­ropas v.a. durch größere Geschmeidigkeit und geschickteres Eingehen auf die revolutionäre Stimmung der Arbeiter/innenschaft. Durch scheinlinke Manöver wurde die Herausbildung einer wirklichen Linksbewegung der proletarischen Massen hintertrieben. Die 1918 gegün­dete KP Ö war in der Ersten Republik dem „Links"kurs des Austromarxismus über weite Strecken nicht gewachsen. 1926 beschloß die SDAPÖ (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs) in Linz ein neues Parteiprogramm. Darin fand die Diktatur des Proletariats, das Herzstück des revolutionären Marxismus, aus­drücklich Erwähnung - in gründlich verdrehter Form allerdings: „Wenn sich aber die Bourgeoi­sie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiter­klasse sein wird, durch planmäßige Unterbin­dung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit auslän­dischen gegenrevolutionären Mächten wider­setzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse ge­zwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen." (Linzer Programm) Nun stellt der bürgerliche Staat, auch der formal demokratischste aber immer eine Diktatur der Bourgeoisie dar. Wenn die Arbeiter/innen-Klasse tatsächlich eine grund­legende gesellschaftliche Umwälzung herbei­führen will, dann ist sie gezwungen die Dikta­tur der Bourgeoisie zu zerschlagen. Stattdessen haben die Austromarxisten darauf orientiert bei den bürgerlichen Wahlen „ 50% plus eine Stimme" zu erringen, dann würde auf der Basis des alten Staatswesens der Sozialismus errich­tet werden. Würde die Bourgeoisie dann nicht parieren, also auf ihre Macht und Privilegien nicht freiwillig verzichten, dann würden gegen sie, so die Austromarxisten, diktatorische Mit­tel zum Einsatz gebracht werden. Schöpfer solcher Illusionen, überhaupt wenn sie Mas­seneinfluß genießen, sind gemeingefährliche Feinde der Arbeiter/innen-Klasse. Leider wurde auf diesem Weg der Arbeiter/innen-Klasse 1934 nicht zum letzten mal eine schwere Niederlage beigebracht (z.B.: Chile 1973).

Der Austromarxismus:
radikale Phrasen plus Klassenharmonie

In der Praxis wich der Austromarxismus, trotz verbalem Radikalismus, vor jedem Angriff der Bourgeoisie zurück. Im Juli 1927 kam es zu ei­ner Erhebung der Arbeiter/innen von Wien ge­gen die Klassenjustiz. Diese Bewegung entglitt zeitweilig der Kontrolle durch die SDAPÖ-Führung.

Die Kommunistische Internationale über den Austromarxismus

„Eine besondere Form des sozialdemokrati­schen Reformismus ist endlich der Austro­marxismus. Als Bestandteil der Ideologie des „linken" Flügels der Sozialdemokratie ist der Austromarxismus eine besonders feingespon­nene Art des Betruges an den Arbeitermassen. Er prostituiert die marxistische Terminologie und bricht gleichzeitig mit den Grundlagen des revolutionären Marxismus (durch den Kantia­nismus, Machismus usw. der Austromarxisten auf dem Gebiete der Philosophie); er liebäugelt mit der Religion, entlehnt bei den englischen Reformisten die Theorie der funktioneilen Demokratie" und tritt für den „Aufbau der Re­publik", d.h. für den Aufbau des bürgerlichen Staates ein. Der Austromarxismus empfiehlt die „Zusammenarbeit der Klassen" in den Peri­oden des sogenannten „Gleichgewichts der Klassenkräfte", d.h. gerade dann, wenn eine revolutionäre Krise heranreift. Diese Theorie ist die Rechtfertigung der Koalition mit der Bour­geoisie zur Vernichtung der proletarischen Re­volution unter der Maske der Verteidigung der „Demokratie" gegen die Angriffe der Reak­tion. Objektiv und in der Praxis wird die Ge­waltanwendung, die der Austromarxismus im Falle von Angriffen der Reaktion für zulässig erklärt, zur Gewalt der Reaktion gegen die proletarische Revolution. Die „ funktioneile Rolle" des Austromarxismus ist, die dem Kom­munismus bereits zustrebenden Arbeiter zu be­trügen; deshalb ist es ein ganz besonders ge­fährlicher Feind des Proletariats, gefährlicher als die offenen Anhänger des räuberischen So­zialimperialismus."

Aus: Programm der Kommunistischen Internationale (1928)

Faschisten hatten im burgenländi­schen Schattendorf aus dem Hinterhalt in eine Arbeiter/innen-Demonstration geschossen. Ein Invalide und ein Kind waren die Todesopfer. Die Mörder wurden von der Justiz der bürger­lich-demokratischen Republik Österreich frei­gesprochen. Die Arbeiter/innen, traten spontan in den Ausstand. Der Justizpalast, diese Festung der Legalisierung des Terrors gegen die Arbei­ter/innen-Klasse, wurde in Brand gesteckt. Der christliche Polizeipräsident Schober erteilte Schießbefehl. 90 Arbeiter/innen wurden er­mordet 1.100 zum Teil schwer verletzt. Trotz­dem die Bourgeoisie ihre mörderische Fratze so überdeutlich entblöß t hatte, setzte die SDAPÖ ihre Beschwichtigungspolitik fort.

Der Austromarxismus verfügte über eine im­ponierende Organisationsdichte. Österreich hatte damals 6,5 Millionen Einwohner/innen. Die SDAPÖ hatte 670.000 Mitglieder, die Freien Gewerkschaften 770.000. Eine Vielzahl von Massenorganisationen, Arbeitersportler/innen, Naturfreund/innen, Freidenker/innen usw. or­ganisierten die Arbeiter/innen-Klasse zu 90%.

Der Schutzbund - organisierte Wehrhaftigkeit des Proletariats

Eine der herausragendsten unter diesen Masse­norganisationen war der Republikanische Schutzbund. Der Schutzbund, 1923 gegründet, war eine paramilitärische Organisation zum Schutz der Republik. Er war einheitlich unifor­miert, in Kompanien, Bataillonen und Regi­mentern gegliedert und gut mit Infanteriewaf­fen ausgerüstet. 1928 organisierte er v.a. in den Industriezentren 80.000 Personen. Der Schutz­bund wurde im März 1933 von der Regierung Dollfuß aufgelöst, bestand aber illegal weiter und spielte im Februar 1934 eine hervorra­gende Rolle. In der Führung des Schutzbundes bestanden zeitweise verschiedene militärpoliti­sche Konzeptionen. Vor allem Julius Deutsch und Alexander Eifler legten auf den möglichst unpolitischen Charakter des Schutzbundes wert. Ihr Ideal war die Kopie einer konventio­nellen bürgerlichen Armee ähnlich dem Bun­desheer, nur nicht in christlich-sozialer Hand.
Dagegen setzte Theodor Körner, General a.D., ein bemerkenswertes Guerillakonzept, womit er damals außerhalb des staatstragenden aus­tromarxistischen Rahmens fiel. Körner ging da­von aus, dass der Schutzbund, wenn er Erfolg haben wolle, nicht einfach reguläre Truppen nachahmen kann: „Noch niemals in der Ge­schichte hat das Volk einen wirklichen Sieg über das Militär im Straßenkampf errungen! Immer haben andere Umstände mitgewirkt, die das Versagen der regulären Gewalt eines Staates bei einer Revolution verursachten. Offener Straßenkampf irregulärer Kräfte mit organisierter regulärer Gewalt ist daher von Haus aus auszuschalten! Immer wird es sich im Bürgerkrieg, im Kampf gegen das Militär oder gegen gut organisierte reaktionäre Gewalten darum handeln, die Truppen zu zermürben." „ Nur wenn alle in der Arbeiterschaft schlum­mernden Kräfte freigemacht werden und den reaktionären militärischen Aktionen etwas ganz anderes, verblüffendes, nicht ganz ver­ständliches gegenübertritt, dann kann man auf den Sieg der Arbeiterklasse bei gewaltsamen Auseinandersetzungen rechnen, selbst bei ei­nem Staatsstreich, wo die Staatsgewalt mit den Putschisten ginge." Körner hatte genaue Vor­stellungen vom Partisanenkrieg. Er stützte sich auf die Erfahrungen der russischen Revolu­tionär/innen von 1905, deren Grundsätze er auch für die österreichische Arbeiter/innen-Be­wegung als beispielhaft betrachtete:
„1. Die erste Regel ist, handelt nicht in Massen! Handelt in kleinen Gruppen von drei bis vier Personen, nicht darüber hinaus. Diese Gruppen müssen recht zahlreich sein und jede von ihnen muß rasch angreifen und ebenso rasch ver­schwinden. Die Polizei sucht mit einer Hun­dertschaft Kosaken eine tausendköpfige Menge zu treffen und zu morden. Ihr aber stellt den Kossaken nur ein bis zwei Schützen entgegen. Eine Hundertschaft läßt sich leichter treffen, wie ein einzelner Mann, besonders wenn dieser unerwartet feuert und unbekannt wohin verschwindet.
2. Ferner, Genossen, nehmt keine befestigten Stellungen ein. Weder Häuser noch Barrika­den. Schließlich wird das Militär sich dennoch ihrer bemächtigen oder sie einfach mit Kartät­schen fortfegen. Unsere Festungen seien die durchgehenden Höfe und alle jene Orte, wo man leicht schießen und wieder verschwinden kann. Wird ein solcher Ort eingenommen, so findet man dort niemand, hat aber dabei große Verluste."
Das genaue Gegenteil wurde vom Schutzbund im Februaraufstand praktiziert. Körners Kon­zept widersprach ganz grundsätzlich dem We­sen des Austromarxismus. „Es ist also eine ganz bestimmte gewalttechnische Schulung not­wendig, die keinesfalls rein militärisch ist, um das Proletariat zur letzten, äußersten Entschei­dung vorzubereiten." (Körner) Aber mit der „ letzten, äußersten Entscheidung" hatte der Austromarxismus in Wirklichkeit nie etwas im Sinn. (Alle Zitate zu Körners Schutzbundkon­zept nach: Andreas Rasp, Körner und Clause­witz, der Streit Nr. 38, Wien 1990)

Um den von den sozialdemokratischen Füh­rern gewollten staatstragenden Charakter des Schutzbundes zu unterstreichen, wurden Ko­munist/innen und andere revolutionäre Arbei­ter/innen gezielt hinausgeworfen.
Die Kämpfe des Jahres 1934 rührten nicht aus der Initiative einer zielklaren revo­lutionären Arbeiter/innen-Partei, sie rührten aus der revolutionären Tradition der öster­reichischen Arbeiter/innen-Klasse, die damals noch nicht zur Gänze verschüttet war. Der Zweck des Austromarxismus bestand darin, die Arbeiter/innen-Klasse zu zähmen, ja sie mit der bürgerlichen Klassendiktatur auszusöhnen. Am Ende des Habsburgerreichs, am Beginn der Ersten Republik standen große Streiks und Auf­stände. In Nachbarländern wurde die Diktatur des Proletariats errichtet (Ungarn, Bayern). In Italien standen Fabriks- und Landbesetzungen durch Industrie- bzw. Landarbeiter/innen und Kleinbauern auf der Tagesordnung.
Aus dieser günstigen Situation heraus tat der Austromarxismus alles Erdenkliche, um die Machtpositionen der österreichischen Bourge­oisie wiederherzustellen, anstatt sie endgültig zu entmachten. Im Februar 1934 stellten sich die fortgeschrittensten Teile der Arbeiter­innen-Klasse nicht nur der mit Hilfe des deut­schen und italienischen Faschismus rasch vordringenden Reaktion mit Waffengewalt entgegen, sie versetzten zugleich den re­formistischen Luftschlössern des Austromarxis­mus einen empfindlichen Schlag. Als die Fe­bruarkämpfe losbrachen waren unter den ersten Fahnenflüchtigen austromarxistische Führer. „Dritte Wege" sind immer gefährliche Illusion. In modernen Klassengesellschaften gibt es nur den Weg der Bourgeoisie der in den 1930er Jahren zu zahlreichen faschisti­schen Diktaturen geführt hat oder den Weg des Proletariats, wie ihn die russische Oktober­revolution gewiesen hat.

Nach dem Februar 1934 traten Tausende ihrer reformistischen Illusionen beraubte Kämp­fer/innen in die damals noch revolutionär-kom­munistische KPÖ ein. Viele enttäuschte Sozial­demokraten schlossen sich aber auch - getrieben aus blindem Hass gegen den austro­faschistischen Ständestaat - der NSDAP an.
Selbstverständlich hat die Bourgeoisie aus dem Bürgerkrieg in Österreich konterrevolu­tionäre Lehren gezogen. Trotz der schweren Zerrüttung, die die Herrschaft des grünen und des braunen Faschismus hinterlassen hat, wur­den einzelne Strukturelemente dieser Herr­schaftsform ins postfaschistische Österreich der Zweiten Republik hinübergerettet. Deutlichster Ausdruck dieser Tatsache ist die institutionali­sierte „ Sozialpartnerschaft" wie sie nach 1945 in Österreich etabliert wurde.

In seinem Brief an die österreichischen Arbeiter/innen von März/April 1934 benannte Georgi Dimitroff klipp und klar den Hauptfehler der Februarkämpfe: „Nein nicht der Kampf der österreichischen Arbeiterklasse war ein Fehler. Der Fehler bestand darin, daß dieser Kampf nicht organisiert war und nicht auf revolu­tionäre, bolschewistische Weise geführt wurde. Die Hauptschwäche des Februarkampfes der österreichischen Arbeiter bestand darin, daß sie infolge des schädlichen Einflusses der Sozial­demokratie nicht begriffen, daß es nicht genügt, sich gegen den Angriff des Faschismus zu verteidigen, sondern sie ihren bewaffneten Widerstand in einen Kampf zum Sturz der Bourgeoisie und für die Machtergreifung durch das Proletariat verwandeln müssen. Der bewaffnete Widerstand des österreichischen Proletariats gegen den Faschismus ging nicht in einen tatsächlichen bewaffneten Aufstand über. Darin besteht der Hauptfehler."

Auszug aus „Der Bürgerkrieg in Österreich".
Reportage von llja Ehrenburg

„Im Jahre 1928 zeigte mir einer der Führer der österreichischen Sozialdemokratie die Häuser, die von der Gemeinde Wien erbaut waren. Es waren wunderbare Gebäude, voll Licht und Luft. Sie waren umgeben von jungen Bäumen, Rasenplätzen und Blumenbeeten. Ich sah alles: auch die Kinderspielplätze, die Badeanstalten und die Kaffeehäuser. Befreit aus den stinken­den Elendshöhlen des alten Wien tummelten sich die Arbeiterkinder auf den hellgrünen Plätzen. Die Häuser trugen die Namen, auf die die Arbeiterklasse der ganzen Welt stolz ist, Karl Marx, Engels, Liebknecht. Es waren ganze Städte, errichtet von den besten Architekten Europas. In ihnen lebten zehntausende Arbei­ter und Angestellte. Wenn man auf die Häuser blickte, konnte man die Wirklichkeit vergessen: daß in den Kaffeehäusern am Ring unge­duldige Offiziere sitzen, daß aufgedunsene Bischöfe in violetten Soutanen die Vernichtung der Ungläubigen fordern, daß jüdische Ban­kiers, sich erinnernd, daß es einen einzigen Gott gibt, Schecks auf den Namen christlich-so­zialer Pogromhelden ausstellen, daß ganz Wien im Grunde nur eine starke Karte auf ei­nem grünen Tisch ist, und daß die gerissenen Spieler - Italiener, Deutsche, Franzosen, Tsche­chen - hier bluffen, lachen, verspielen und ge­winnen. Ja, blickte man auf diese Springbrun­nen im Karl-Marx-Hof, auf die Lesesäle und Sportplätze, so konnte man die harte Wahrheit vergessen. Jedoch diese Wahrheit blickte hinter jeder Ecke hervor. Neben dem festlichen Springbrunnen sank ein vom Hunger gefällter Arbeitsloser zu Boden. Viele der städtischen Fassaden erinnerten an den stürmischen Juli des Jahres 1927. Wenn die Söhne der Tiroler Großbauern auf die Fassaden der städtischen Bauten fluchten, fluchten sie: ,Lange genug hat uns das Gesindel ausgesaugt.' Ich sagte da­mals zu meinem Begleiter: ,lhr habt tatsächlich schöne Häuser gebaut. Noch einmal habt ihr der Welt gezeigt, daß die Arbeiter weit mehr Geschmack, Gefühl für Einfachheit und für Le­bensfreude haben als die zweifelhaften Ästhe­ten von der Ringstraße. Aber scheint es ihnen nicht selbst, daß diese Häuser auf fremder Erde gebaut sind? Nach der Erfahrung unseres Lan­des wissen wir, daß der Arbeiter jeden Fuß breit des von ihm erkämpften Landes mit Blut bezahlen mußte. Wir mußten zuerst nicht we­nig zerstören. Zerstören um nach dem Siege aufzubauen. Ihr habt nicht mit den Gewehren begonnen, sondern mit Zirkel und Lineal. Wie wird das bei euch enden? ...' Mein Begleiter lächelte: ,Das Ende wird ein friedlicher Sieg des Sozialismus sein. Vergessen Sie nicht, daß bei den letzten Wahlen sechzig Prozent der Bevöl­kerung Wiens für uns gestimmt haben.'
Nun sah ich diese wunderbaren Häuser wie­der, an einem schweren Februartag. In dichten Flocken fiel der mitleidige Schnee, als ob er das niedrige Werk der Menschen zu verdecken begehre. Doch auch unter dem Schnee klafften die von Granaten geschlagenen Löcher, noch rochen vom Pulverdampf die verbrannten Häuser von Floridsdorf und auf den Anlagen machte sich häßlicher Schutt breit. Da und dort aus den Fenstern waren Fetzen von Lein­tüchern oder Taschentüchern herausgestreckt - die weißen Flaggen der Kapitulation, hinter denen man Lachen braunen, geronnenen Blu­tes fühlte. Die Menschen flüsterten einander zu, daß hinter den Trümmern noch ungebor­gene Leichen lägen. Auf den Dächern der zer­schossenen Häuser wehten die weiß grünen Fahnen der Heimwehr, und unten im Schnee, im Schmutz, in Not und Niederlage drängten sich schüchtern Frauen, Kinder und Greise. Sie durften nicht in ihre demolierten, zertrümmer­ten Wohnungen zurückkehren. Polizisten in Helmen hielten die Passanten an und wie Scha­kale streiften die feigen Helden der Heimwehr durch die Höfe. Fürst Starchemberg rief, den Becher zum Sieg erhebend, bald ,Hoch', bald ,Eviva'. Das Wien der Arbeiter schwieg. Das war der 'friedliche Sieg des Sozialismus."