Anfang der 1930er Jahre nahm die Faschisierungstendenz, die dem bürgerlichen Staat innewohnt, in Österreich in Form von Polizei- und Heimwehrübergriffen gegen die Arbeiter/innen-Bewegung immer bedrohlichere Formen an. (Die Heimwehren waren paramilit ä risch organisierte, staatsnahe Faschistenorganisationen, die von Bürgern und Aristokraten großzügig finanziert und angeleitet wurden.) In allen österreichischen Industriegebieten standen Überfälle, Hausdurchsuchungen und Waffenbeschlagnahmungen in Arbeiter/innen-Heimen, Misshandlungen und Verhaftungen, Zerstörung von Arbeiter/innen-Eigentum usw. auf der Tagesordnung.
Als in den Morgenstunden des 12. Februar 1934 Polizei das Linzer Arbeiter/innen — Heim
stürmte, waren die entschlossensten Linzer Arbeiter/innen nicht mehr bereit,
eine weitere Provokation widerstandslos hinzunehmen. Deswegen schlugen
der Polizei beim Eindringen in das Hotel Schiff (worin das Arbeiter/innen-Heim
untergebracht war) Gewehrfeuer entgegen. Bereits um 10 Uhr warf Dollfuß,
so der Name des damaligen Schüssel, das Bundesheer in das sich rasch ausweitende
Gefecht. Am Linzer Bahnhof, auf dem Freinberg, in der Schiffswerft, am Pestalozziplatz,
in Urfahr - überall begannen Schutzbündler/innen und klassenbewußte
Arbeiter/innen den Schergen des bürgerlichen Staates bewaffnet entgegenzutreten.
Drei Stunden nach Beginn der Kampfhandlungen in Linz traten die Arbeiter/innen
der zwei Wiener Gaswerke in den Streik. Wenig sp ä ter schalteten Wiener
E-Werk Arbeiter/innen den Strom ab, wodurch Betriebe, Straßenbahn
usw. stillstanden. Noch am Vormittag verhängte der Christ Dollfuß das „Standrecht" und
kündigte an, das Rückgrat der Arbeiter/innen-Klasse endgültig
zu zertrümmern.
In den Wiener Industriebezirken und den Vorstädten begannen Schutzbündler/innen
und fortgeschrittene Arbeiter/innen den Kampf. Mangelhaft ausgerüstet,
schlecht bewaffnet, ohne Kampfaufträge und Losungen, oft ohne jede
Verbindung zu den anderen kämpfenden Gruppen, von der SP-Führung
im Stich gelassen, setzten sie der verbrecherischen Gewalt der rot-weiß-roten
Faschisten die gerechte Gewalt des Proletariats entgegen.
Obwohl die Kampfhandlungen bald alle wichtigen Industriezentren Österreichs - Wien, Linz, Steyr, Bruck usw. - erfassten und fünf Tage lang andauerten, waren die Februarkämpfer/innen der staatlichen Übermacht nicht gewachsen. Polizei und Bundesheer waren sowohl in Bewaffnung und Ausrüstung als auch in Organisation und Manövrierfähigkeit weit überlegen. Die Arbeiter/innen-Klasse kann den bewaffneten Kampf auf dem Boden des kapitalistischen Klassenstaates nur dann erfolgreich führen, wenn möglichst die ganze Klasse geschlossen hinter ihr steht. Aber der Generalstreik der im Juli 1927 noch lückenlos war, kam im Februar 1934 nicht mehr zustande. Die Aufständischen des Februar 1934 haben mit ihrem heroischen Kampf zwar die Ehre des österreichischen Proletariats gerettet, sie konnten aber die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur in Ö sterreich nicht mehr verhindern.
Nach der Oktoberrevolution in Russland und dem Zerfall des Habsburger Reichs als Folge des Ersten Weltkriegs setzten die österreichischen sozialdemokratischen Führer auf einen „ Dritten Weg". Der sogenannte „ Austromarxismus" grenzte sich theoretisch sowohl vom rechtssozialdemokratischen Weg des offenen Übergangs auf die Seite der (imperialistischen) Bourgeoisie, wie ihn z.B. die deutsche SPD vollzogen hatte, als auch vom revolutionär sozialistischen Weg der Bolschewiki ab. Der Weg der Austromarxisten unterschied sich vom Weg der rechten Sozialdemokraten anderer Länder Europas v.a. durch größere Geschmeidigkeit und geschickteres Eingehen auf die revolutionäre Stimmung der Arbeiter/innenschaft. Durch scheinlinke Manöver wurde die Herausbildung einer wirklichen Linksbewegung der proletarischen Massen hintertrieben. Die 1918 gegündete KP Ö war in der Ersten Republik dem „Links"kurs des Austromarxismus über weite Strecken nicht gewachsen. 1926 beschloß die SDAPÖ (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs) in Linz ein neues Parteiprogramm. Darin fand die Diktatur des Proletariats, das Herzstück des revolutionären Marxismus, ausdrücklich Erwähnung - in gründlich verdrehter Form allerdings: „Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen." (Linzer Programm) Nun stellt der bürgerliche Staat, auch der formal demokratischste aber immer eine Diktatur der Bourgeoisie dar. Wenn die Arbeiter/innen-Klasse tatsächlich eine grundlegende gesellschaftliche Umwälzung herbeiführen will, dann ist sie gezwungen die Diktatur der Bourgeoisie zu zerschlagen. Stattdessen haben die Austromarxisten darauf orientiert bei den bürgerlichen Wahlen „ 50% plus eine Stimme" zu erringen, dann würde auf der Basis des alten Staatswesens der Sozialismus errichtet werden. Würde die Bourgeoisie dann nicht parieren, also auf ihre Macht und Privilegien nicht freiwillig verzichten, dann würden gegen sie, so die Austromarxisten, diktatorische Mittel zum Einsatz gebracht werden. Schöpfer solcher Illusionen, überhaupt wenn sie Masseneinfluß genießen, sind gemeingefährliche Feinde der Arbeiter/innen-Klasse. Leider wurde auf diesem Weg der Arbeiter/innen-Klasse 1934 nicht zum letzten mal eine schwere Niederlage beigebracht (z.B.: Chile 1973).
In der Praxis wich der Austromarxismus, trotz verbalem Radikalismus, vor jedem Angriff der Bourgeoisie zurück. Im Juli 1927 kam es zu einer Erhebung der Arbeiter/innen von Wien gegen die Klassenjustiz. Diese Bewegung entglitt zeitweilig der Kontrolle durch die SDAPÖ-Führung.
„Eine besondere Form des sozialdemokratischen Reformismus ist
endlich der Austromarxismus. Als Bestandteil der Ideologie des „linken" Flügels
der Sozialdemokratie ist der Austromarxismus eine besonders feingesponnene
Art des Betruges an den Arbeitermassen. Er prostituiert die marxistische
Terminologie und bricht gleichzeitig mit den Grundlagen des revolutionären
Marxismus (durch den Kantianismus, Machismus usw. der Austromarxisten
auf dem Gebiete der Philosophie); er liebäugelt mit der Religion, entlehnt
bei den englischen Reformisten die Theorie der funktioneilen Demokratie" und
tritt für den „Aufbau der Republik", d.h. für den
Aufbau des bürgerlichen Staates ein. Der Austromarxismus empfiehlt die „Zusammenarbeit
der Klassen" in den Perioden des sogenannten „Gleichgewichts
der Klassenkräfte", d.h. gerade dann, wenn eine revolutionäre
Krise heranreift. Diese Theorie ist die Rechtfertigung der Koalition mit
der Bourgeoisie zur Vernichtung der proletarischen Revolution unter
der Maske der Verteidigung der „Demokratie" gegen die Angriffe
der Reaktion. Objektiv und in der Praxis wird die Gewaltanwendung,
die der Austromarxismus im Falle von Angriffen der Reaktion für zulässig
erklärt, zur Gewalt der Reaktion gegen die proletarische Revolution.
Die „ funktioneile Rolle" des Austromarxismus ist, die dem Kommunismus
bereits zustrebenden Arbeiter zu betrügen; deshalb ist es ein ganz
besonders gefährlicher Feind des Proletariats, gefährlicher
als die offenen Anhänger des räuberischen Sozialimperialismus."
Aus: Programm der Kommunistischen Internationale (1928)
Faschisten hatten im burgenländischen Schattendorf aus dem Hinterhalt in eine Arbeiter/innen-Demonstration geschossen. Ein Invalide und ein Kind waren die Todesopfer. Die Mörder wurden von der Justiz der bürgerlich-demokratischen Republik Österreich freigesprochen. Die Arbeiter/innen, traten spontan in den Ausstand. Der Justizpalast, diese Festung der Legalisierung des Terrors gegen die Arbeiter/innen-Klasse, wurde in Brand gesteckt. Der christliche Polizeipräsident Schober erteilte Schießbefehl. 90 Arbeiter/innen wurden ermordet 1.100 zum Teil schwer verletzt. Trotzdem die Bourgeoisie ihre mörderische Fratze so überdeutlich entblöß t hatte, setzte die SDAPÖ ihre Beschwichtigungspolitik fort.
Der Austromarxismus verfügte über eine imponierende Organisationsdichte. Österreich hatte damals 6,5 Millionen Einwohner/innen. Die SDAPÖ hatte 670.000 Mitglieder, die Freien Gewerkschaften 770.000. Eine Vielzahl von Massenorganisationen, Arbeitersportler/innen, Naturfreund/innen, Freidenker/innen usw. organisierten die Arbeiter/innen-Klasse zu 90%.
Eine der herausragendsten unter diesen Massenorganisationen war der Republikanische
Schutzbund. Der Schutzbund, 1923 gegründet, war eine paramilitärische
Organisation zum Schutz der Republik. Er war einheitlich uniformiert,
in Kompanien, Bataillonen und Regimentern gegliedert und gut mit Infanteriewaffen
ausgerüstet. 1928 organisierte er v.a. in den Industriezentren 80.000
Personen. Der Schutzbund wurde im März 1933 von der Regierung Dollfuß aufgelöst,
bestand aber illegal weiter und spielte im Februar 1934 eine hervorragende
Rolle. In der Führung des Schutzbundes bestanden zeitweise verschiedene
militärpolitische Konzeptionen. Vor allem Julius Deutsch und Alexander
Eifler legten auf den möglichst unpolitischen Charakter des Schutzbundes
wert. Ihr Ideal war die Kopie einer konventionellen bürgerlichen
Armee ähnlich dem Bundesheer, nur nicht in christlich-sozialer Hand.
Dagegen setzte Theodor Körner, General a.D., ein bemerkenswertes Guerillakonzept,
womit er damals außerhalb des staatstragenden austromarxistischen
Rahmens fiel. Körner ging davon aus, dass der Schutzbund, wenn er
Erfolg haben wolle, nicht einfach reguläre Truppen nachahmen kann: „Noch
niemals in der Geschichte hat das Volk einen wirklichen Sieg über
das Militär im Straßenkampf errungen! Immer haben andere Umstände
mitgewirkt, die das Versagen der regulären Gewalt eines Staates bei einer
Revolution verursachten. Offener Straßenkampf irregulärer Kräfte
mit organisierter regulärer Gewalt ist daher von Haus aus auszuschalten!
Immer wird es sich im Bürgerkrieg, im Kampf gegen das Militär oder
gegen gut organisierte reaktionäre Gewalten darum handeln, die Truppen
zu zermürben." „ Nur wenn alle in der Arbeiterschaft schlummernden
Kräfte freigemacht werden und den reaktionären militärischen
Aktionen etwas ganz anderes, verblüffendes, nicht ganz verständliches
gegenübertritt, dann kann man auf den Sieg der Arbeiterklasse bei gewaltsamen
Auseinandersetzungen rechnen, selbst bei einem Staatsstreich, wo die Staatsgewalt
mit den Putschisten ginge." Körner hatte genaue Vorstellungen
vom Partisanenkrieg. Er stützte sich auf die Erfahrungen der russischen
Revolutionär/innen von 1905, deren Grundsätze er auch für
die österreichische Arbeiter/innen-Bewegung als beispielhaft betrachtete:
„1. Die erste Regel ist, handelt nicht in Massen! Handelt in kleinen
Gruppen von drei bis vier Personen, nicht darüber hinaus. Diese Gruppen
müssen recht zahlreich sein und jede von ihnen muß rasch angreifen
und ebenso rasch verschwinden. Die Polizei sucht mit einer Hundertschaft
Kosaken eine tausendköpfige Menge zu treffen und zu morden. Ihr aber stellt
den Kossaken nur ein bis zwei Schützen entgegen. Eine Hundertschaft läßt
sich leichter treffen, wie ein einzelner Mann, besonders wenn dieser unerwartet
feuert und unbekannt wohin verschwindet.
2. Ferner, Genossen, nehmt keine befestigten Stellungen ein. Weder Häuser
noch Barrikaden. Schließlich wird das Militär sich dennoch
ihrer bemächtigen oder sie einfach mit Kartätschen fortfegen.
Unsere Festungen seien die durchgehenden Höfe und alle jene Orte, wo man
leicht schießen und wieder verschwinden kann. Wird ein solcher Ort eingenommen,
so findet man dort niemand, hat aber dabei große Verluste."
Das genaue Gegenteil wurde vom Schutzbund im Februaraufstand praktiziert.
Körners Konzept widersprach ganz grundsätzlich dem Wesen
des Austromarxismus. „Es ist also eine ganz bestimmte gewalttechnische
Schulung notwendig, die keinesfalls rein militärisch ist, um das
Proletariat zur letzten, äußersten Entscheidung vorzubereiten." (Körner)
Aber mit der „ letzten, äußersten Entscheidung" hatte
der Austromarxismus in Wirklichkeit nie etwas im Sinn. (Alle Zitate zu Körners
Schutzbundkonzept nach: Andreas Rasp, Körner und Clausewitz,
der Streit Nr. 38, Wien 1990)
Um den von den sozialdemokratischen Führern gewollten staatstragenden
Charakter des Schutzbundes zu unterstreichen, wurden Komunist/innen und
andere revolutionäre Arbeiter/innen gezielt hinausgeworfen.
Die Kämpfe des Jahres 1934 rührten nicht aus der Initiative einer
zielklaren revolutionären Arbeiter/innen-Partei, sie rührten
aus der revolutionären Tradition der österreichischen Arbeiter/innen-Klasse,
die damals noch nicht zur Gänze verschüttet war. Der Zweck des Austromarxismus
bestand darin, die Arbeiter/innen-Klasse zu zähmen, ja sie mit der bürgerlichen
Klassendiktatur auszusöhnen. Am Ende des Habsburgerreichs, am Beginn der
Ersten Republik standen große Streiks und Aufstände. In Nachbarländern
wurde die Diktatur des Proletariats errichtet (Ungarn, Bayern). In Italien
standen Fabriks- und Landbesetzungen durch Industrie- bzw. Landarbeiter/innen
und Kleinbauern auf der Tagesordnung.
Aus dieser günstigen Situation heraus tat der Austromarxismus alles Erdenkliche,
um die Machtpositionen der österreichischen Bourgeoisie wiederherzustellen,
anstatt sie endgültig zu entmachten. Im Februar 1934 stellten sich die
fortgeschrittensten Teile der Arbeiterinnen-Klasse nicht nur der mit Hilfe
des deutschen und italienischen Faschismus rasch vordringenden Reaktion
mit Waffengewalt entgegen, sie versetzten zugleich den reformistischen
Luftschlössern des Austromarxismus einen empfindlichen Schlag. Als
die Februarkämpfe losbrachen waren unter den ersten Fahnenflüchtigen
austromarxistische Führer. „Dritte Wege" sind immer gefährliche
Illusion. In modernen Klassengesellschaften gibt es nur den Weg der Bourgeoisie
der in den 1930er Jahren zu zahlreichen faschistischen Diktaturen geführt
hat oder den Weg des Proletariats, wie ihn die russische Oktoberrevolution
gewiesen hat.
Nach dem Februar 1934 traten Tausende ihrer reformistischen Illusionen beraubte
Kämpfer/innen in die damals noch revolutionär-kommunistische
KPÖ ein. Viele enttäuschte Sozialdemokraten schlossen sich aber
auch - getrieben aus blindem Hass gegen den austrofaschistischen Ständestaat
- der NSDAP an.
Selbstverständlich hat die Bourgeoisie aus dem Bürgerkrieg in Österreich
konterrevolutionäre Lehren gezogen. Trotz der schweren Zerrüttung,
die die Herrschaft des grünen und des braunen Faschismus hinterlassen
hat, wurden einzelne Strukturelemente dieser Herrschaftsform ins
postfaschistische Österreich der Zweiten Republik hinübergerettet.
Deutlichster Ausdruck dieser Tatsache ist die institutionalisierte „ Sozialpartnerschaft" wie
sie nach 1945 in Österreich etabliert wurde.
In seinem Brief an die österreichischen Arbeiter/innen von März/April 1934 benannte Georgi Dimitroff klipp und klar den Hauptfehler der Februarkämpfe: „Nein nicht der Kampf der österreichischen Arbeiterklasse war ein Fehler. Der Fehler bestand darin, daß dieser Kampf nicht organisiert war und nicht auf revolutionäre, bolschewistische Weise geführt wurde. Die Hauptschwäche des Februarkampfes der österreichischen Arbeiter bestand darin, daß sie infolge des schädlichen Einflusses der Sozialdemokratie nicht begriffen, daß es nicht genügt, sich gegen den Angriff des Faschismus zu verteidigen, sondern sie ihren bewaffneten Widerstand in einen Kampf zum Sturz der Bourgeoisie und für die Machtergreifung durch das Proletariat verwandeln müssen. Der bewaffnete Widerstand des österreichischen Proletariats gegen den Faschismus ging nicht in einen tatsächlichen bewaffneten Aufstand über. Darin besteht der Hauptfehler."
„Im Jahre 1928 zeigte mir einer der Führer der österreichischen
Sozialdemokratie die Häuser, die von der Gemeinde Wien erbaut waren.
Es waren wunderbare Gebäude, voll Licht und Luft. Sie waren umgeben
von jungen Bäumen, Rasenplätzen und Blumenbeeten. Ich sah alles:
auch die Kinderspielplätze, die Badeanstalten und die Kaffeehäuser.
Befreit aus den stinkenden Elendshöhlen des alten Wien tummelten
sich die Arbeiterkinder auf den hellgrünen Plätzen. Die Häuser
trugen die Namen, auf die die Arbeiterklasse der ganzen Welt stolz ist, Karl
Marx, Engels, Liebknecht. Es waren ganze Städte, errichtet von den besten
Architekten Europas. In ihnen lebten zehntausende Arbeiter und Angestellte.
Wenn man auf die Häuser blickte, konnte man die Wirklichkeit vergessen:
daß in den Kaffeehäusern am Ring ungeduldige Offiziere sitzen,
daß aufgedunsene Bischöfe in violetten Soutanen die Vernichtung
der Ungläubigen fordern, daß jüdische Bankiers, sich
erinnernd, daß es einen einzigen Gott gibt, Schecks auf den Namen christlich-sozialer
Pogromhelden ausstellen, daß ganz Wien im Grunde nur eine starke Karte
auf einem grünen Tisch ist, und daß die gerissenen Spieler
- Italiener, Deutsche, Franzosen, Tschechen - hier bluffen, lachen,
verspielen und gewinnen. Ja, blickte man auf diese Springbrunnen
im Karl-Marx-Hof, auf die Lesesäle und Sportplätze, so konnte man
die harte Wahrheit vergessen. Jedoch diese Wahrheit blickte hinter jeder
Ecke hervor. Neben dem festlichen Springbrunnen sank ein vom Hunger gefällter
Arbeitsloser zu Boden. Viele der städtischen Fassaden erinnerten an
den stürmischen Juli des Jahres 1927. Wenn die Söhne der Tiroler
Großbauern auf die Fassaden der städtischen Bauten fluchten, fluchten
sie: ,Lange genug hat uns das Gesindel ausgesaugt.' Ich sagte damals
zu meinem Begleiter: ,lhr habt tatsächlich schöne Häuser gebaut.
Noch einmal habt ihr der Welt gezeigt, daß die Arbeiter weit mehr Geschmack,
Gefühl für Einfachheit und für Lebensfreude haben als
die zweifelhaften Ästheten von der Ringstraße. Aber scheint
es ihnen nicht selbst, daß diese Häuser auf fremder Erde gebaut
sind? Nach der Erfahrung unseres Landes wissen wir, daß der Arbeiter
jeden Fuß breit des von ihm erkämpften Landes mit Blut bezahlen
mußte. Wir mußten zuerst nicht wenig zerstören. Zerstören
um nach dem Siege aufzubauen. Ihr habt nicht mit den Gewehren begonnen, sondern
mit Zirkel und Lineal. Wie wird das bei euch enden? ...' Mein Begleiter lächelte:
,Das Ende wird ein friedlicher Sieg des Sozialismus sein. Vergessen Sie nicht,
daß bei den letzten Wahlen sechzig Prozent der Bevölkerung
Wiens für uns gestimmt haben.'
Nun sah ich diese wunderbaren Häuser wieder, an einem schweren
Februartag. In dichten Flocken fiel der mitleidige Schnee, als ob er das
niedrige Werk der Menschen zu verdecken begehre. Doch auch unter dem Schnee
klafften die von Granaten geschlagenen Löcher, noch rochen vom Pulverdampf
die verbrannten Häuser von Floridsdorf und auf den Anlagen machte sich
häßlicher Schutt breit. Da und dort aus den Fenstern waren Fetzen
von Leintüchern oder Taschentüchern herausgestreckt - die
weißen Flaggen der Kapitulation, hinter denen man Lachen braunen, geronnenen
Blutes fühlte. Die Menschen flüsterten einander zu, daß hinter
den Trümmern noch ungeborgene Leichen lägen. Auf den Dächern
der zerschossenen Häuser wehten die weiß grünen Fahnen
der Heimwehr, und unten im Schnee, im Schmutz, in Not und Niederlage drängten
sich schüchtern Frauen, Kinder und Greise. Sie durften nicht in ihre
demolierten, zertrümmerten Wohnungen zurückkehren. Polizisten
in Helmen hielten die Passanten an und wie Schakale streiften die feigen
Helden der Heimwehr durch die Höfe. Fürst Starchemberg rief, den
Becher zum Sieg erhebend, bald ,Hoch', bald ,Eviva'. Das Wien der Arbeiter
schwieg. Das war der 'friedliche Sieg des Sozialismus."