30 Jahre nach der Niederschlagung der Volksbewegung in Chile entwickeln sich
in verschiedenen Ländern Südamerikas wieder militante Massenbewegungen
- neben Peru, Kolumbien und Ecuador z.B. auch in Bolivien, Argentinien, Brasilien
und Venezuela. Sie erzwingen zum Teil weitgehende Reformen und stürzen
Regierungen, die sich der Bewegung entgegenstellen, aber die kommunisti- schen
Kräfte sind noch zu schwach, um die Bewegungen zur Revolution zu führen.
Wir haben Genoss/innen vom "Info-Verteiler" gebeten, einen Beitrag über
die aktuelle Situation in Venezuela zu schreiben, da sie kürzlich eine
Schwerpunkt-Nummer (Nr. 66) zu diesem Land herausgebracht haben, die wir unseren
Leser/innen empfehlen.
Jede/r Tourist/in, die nach Venezuela reist, fällt das kleine blaue Bücherl auf, das es an jeder Straßenecke zu kaufen gibt. Präsident Hugo Chávez zieht es bei jedem seiner öffentlichen Auftritte aus der Tasche. Die Taschenbüchleinausgabe der venezolanischen, bolivarischen Verfassung von 1999 ist ein Bestseller, der vom Volk auch intensiv studiert wird.
Im Wesentlichen betont die neue venezolanische Verfassung folgende Punkte:
Eine Verfassung ist aber nicht mehr als ein Katalog von hehren moralischen Anregungen, die erst durch zusätzliche, gesetzliche Bestimmungen konkreter werden. Am 13.12.2001 wurden 49 präsidiale Ermächtigungsgesetze erlassen, die diese Konkretisierung vorantrieben. Wir wollen hier nur einige dieser Gesetze kurz beschreiben:
Hatte die zutiefst reaktionäre venezolanische Opposition die Wahl von
Chávez zum Präsidenten und die Verabschiedung der Verfassung von
1999 noch hingenommen (als Indigener wurde er zwar gesellschaftlich geächtet),
so läuteten spätestens jetzt die Alarmglocken: die Gesetze tasteten
schließlich, wenn auch nicht wirklich radikal, so doch das "Recht
auf Eigentum", wie es die Bourgeoisie versteht, an. Dass nämlich
die ökonomisch Herrschenden alleinig befugt sind, sich jeglichen gesellschaftlichen
Reichtum anzueignen, Gesetze nach ihren Wünschen zu erlassen und Land
wie Leute als ihr eigen handhaben.
Hatte diese Opposition bis 2001 das "Geschwätz" des "populistischen" Präsidenten über
den bolivarischen Prozess und die partizipative Demokratie für leeres
Geschwätz gehalten, so sah sie sich nun in ihrer ökonomischen Herrschaft
gestört. Mit den Ausführungsgesetzen wurden erstmals ihre Privilegien
angegriffen.
Nur vier Monate benötigten die "Herren" Bourgeois, um in Abstimmung
mit der CIA einen Putschversuch zu planen, der dann am 11.4.2002 durchgeführt
wurde. Dieser Putsch zielte nicht nur auf die Absetzung des Präsidenten,
die Rücknahme der Ausführungsgesetze und der Verfassung ab. Er zielte
vor allem darauf ab, dass die Massen "diszipliniert" würden.
Kapitalisten brauchen keine "Untertanen", die sich der ungerechten
Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bewusst werden. Sie fürchten
die Menge, die sich ihrer eigenen Kraft bewusst wird. Genau das war aber das
Resultat von 3 Jahren Präsidentschaft von Hugo Chávez.
Unklar ist nachträglich, was den Volkszorn zunächst stärker
entfachte: die außer Kraft gesetzte Verfassung, die Entmachtung des gewählten
Präsidenten, oder die 12 ermordeten und Dutzenden verletzten, von der
Polizei aus dem Hinterhalt angeschossenen DemonstrantInnen vom 11.4. Jedenfalls
waren es vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten, die aus den
Armenvierteln, den barrios, zum Präsidentenpalast Miraflores strömten,
um sich gegen die Putschisten nach nur 48 Stunden schließlich durchzusetzen.
Ohne die Rebellion der Massen, die ihre Entschlossenheit bereits beim caracazo
1989 bewiesen hatten, dem mehrwöchigen Volksaufstand, der in einem Blutbad
mit über 1.000 Ermordeten erstickt worden war, ohne diese Rebellion wäre
der Putschversuch erfolgreich verlaufen. Erst dieser Aufmarsch, die Umzingelung
der Putschisten im Präsidentenpalast, erreichte ein Umdenken bei Teilen
des Militärs, die letztlich die Putschisten vertrieben oder verhafteten.
Im Winter 2002/2003 bewiesen die venezolanischen Massen erneut, dass sie sich von dieser Opposition nicht um den Finger wickeln lassen. Gegen die monatelange Aussperrung, die das wirtschaftliche Leben des Landes fast lahm legte, setzten sie auf den längeren Atem und auf gezielte Aktionen. Während die PDVSA die Treibstofflieferungen einstellte, die Tanker nicht mehr entladen wurden, feierte das Volk jede Schiffsbesatzung, die diese Blockade durchbrach. Obwohl die Menschen Lebensmittelverknappung und Lohnausfälle hinnehmen mussten, dachten sie zu keinem Zeitpunkt daran, vor den Putschisten in die Knie zu gehen. Im Gegenteil begannen sie, Lebensmittellager zu beschlagnahmen und vor allem enger zusammen zu rücken.
Wir müssen dabei bedenken, dass die Medienlandschaft in Venezuela verheerender
ist als in Österreich. Faktisch alle kommerziellen Zeitungen, Radio- und
TV-Sender hetzen täglich, stündlich gegen die Regierung, gegen den
Präsidenten, gegen jede Initiative von unten. Dagegen stehen der Regierung
und den organisierten Gruppen lediglich lokale Sender und Zeitungen in kleiner
Auflage zur Verfügung. Diese alternativen Medien entwickeln sich allerdings
sehr rasch, sowohl was ihre Menge betrifft, als auch was ihre Inhalte betrifft.
Debattiert werden hier lokale Probleme ebenso wie geopolitische, die Verschönerung
des Parks im Grätzl genauso wie die Macht der multinationalen Konzerne
oder die imperialistischen Aggressionen in der ganzen Welt.
Hierzulande hören wir über Venezuela fast ausschließlich zweierlei:
wir hören über den Präsidenten und über die wirtschaftliche
Krise. Weder hören wir über die Ursachen dieser Krise, die vor allem
den Sabotageakten der Opposition zu verdanken ist - noch hören wir über
das Krisenmanagement durch die Massen. Wenn die Opposition einige zehntausend
Menschen auf die Straße bringt, was oft mit üblen Methoden wie falschen
Versprechungen geschieht, so sehen wir diese "Massen" im Fernsehen.
Wenn die Regierungsanhänger Millionen mobilisieren, wie vor wenigen Wochen
wieder in Caracas, so sehen wir - nichts davon.
Vor allem ist die Berichterstattung auf Hugo Chávez zugeschnitten, der
gegenüber dem US-Imperialismus ketzerische Reden hält. Wer auf diese
Berichterstattung hereinfällt, weiß nichts über die tatsächlichen
Verhältnisse im Land.
Präsident Chávez wird von den meisten Venezolanern bedeutend profaner
betrachtet. Sie haben ihn gewählt, er ist ihr Sprachrohr, ihr Schutzschild
gegen die Opposition. Ein schwacher Schutzschild, den sie bereits mehrmals
aus der Patsche herausholen mußten, wie oben bereits skizziert. Aber
immer noch besser als die 40 Jahre währende große Koalition aus
sozialdemokratischen Arbeiterverrätern und christdemokratischen Putschisten.
Die Geschichte in Venezuela schreiben die Massen selbst. Ein venezolanischer
Genosse erläuterte das in etwa so: Es handelt sich um einen revolutionären
Prozess, der nicht linear verläuft. Auf das IWF-Diktat und den neoliberalen
Kurs der 80er Jahre folgte der Volksaufstand 1989, auf die Niederschlagung
des caracazo die völlige Verarmung von 80% der Bevölkerung. Aber
diese 80% ließen sich nicht unterkriegen, sie wählten die Großkoalitionäre
erstmal ab. Mit der Regierung Chávez ging eine enorme Politisierung
einher.
Die Menschen organisieren sich zu Millionen, sei es in den bolivarischen
Zirkeln, sei es in anderen, autonomen Gruppen. Sie agitieren, mobilisieren,
bilden sich weiter. Sie lassen sich nicht mehr so viel gefallen, besetzen auch
schon mal Fabriken und Produktionsanlagen. Sie liefen der korrupten, gelben
Gewerkschaft CTV zu Tausenden davon und gründeten neue Gewerkschaften.
Sie bilden Zirkel von Frauen, die sich gegen die Gewalt der Männer und
für bessere Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten engagieren. Sie gründen
Guerillaverbände, um gegen den nächsten Putsch besser gewappnet zu
sein. Sie greifen die Medien der Bourgeoisie an, greifen korrupte Politiker
an, und sie machen Gebrauch von ihren verfassungsmäßig garantierten
Rechten.
Wir glauben, dass Venezuela derzeit das Land ist, in dem die Menschen am genauesten über
ihre Rechte Bescheid wissen, und auf diese ihre Rechte auch pochen. Der Präsident
ist da nicht so wichtig, viele sagen: solange er für uns ist, ist es gut.
Sobald er gegen uns ist, werden wir auch ihn verjagen. Und in Ermangelung einer
starken kommunistischen Partei mit einer ausgereiften Strategie und Taktik
greifen die Massen zur Verfassung. Sie ist ihnen ihr Programm, das sie umsetzen.
Die venezolanischen Massen betrachten derzeit die Verfassung als ihr Werkzeug,
um den revolutionären Prozess voranzutreiben. Solange ihnen dieses Werkzeug
passt, sollten wir gegenüber eurozentristischen Vorbehalten vorsichtig
sein.
Bestellen könnt ihr den Info-Verteiler: A-1070 Wien, Stiftgasse 8. (2 Euro plus Porto beilegen)