Ich glaube, angefangen hat alles mit Carlos. – Carlos war weder Halb-Brasilianer, Koch in einem mexikanischen Restaurant noch unliebsamer Gastarbeiter. Er war zwölf Jahre alt und ging in meine Grundschulklasse. Seine Haarpracht war nicht blauschwarz, nicht einmal hellbraun, sondern sonnenblumengelb, und auch die Hautfarbe ähnelte der einer Albino-Kellerassel im Winterurlaub. Mit ihm erlebte ich die ersten zaghaften ernstgemeinten Küsse und den Zauber einer unschuldigen Liebesbeziehung. Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, als er mir seine Liebe zu der Musik von Sandra und dem Schauspieler Richard Grieco aus der schlimmen Fernsehserie Booker, gestand. Ich belächelte dies, schließlich gehörte mein Herz schon seit langem Bruce Willis. Das ist normal in der frühen Jugend, daß man Menschen verehrt, die man aus Film und Fernsehen kennt, dabei ist nichts verwerfliches. Ich war jedenfalls zu jener Zeit fest dazu entschlossen, für Bruce Willis jeden Kerl zu verlassen, er brauchte nur zu klopfen. Leider hat er das bis heute nicht getan. Ich wußte zu dem Zeitpunkt nicht, daß es Carlos mit Richard Grieco ähnlich ging und er wirklich nur die Musik von Sandra gut fand. Ist man bereits in der Grundschule fest liiert, so zieht man einerseits das Gelächter der Lehrerschaft auf sich, zum anderen aber, und das zählt mehr, den grenzenlosen Neid der Mitschüler. Ganz plötzlich fand eine jede, daß Carlos schon immer ihr Traumjunge schlechthin gewesen sei, und Intrigen wurden gesponnen und gelästert wurde, ohne daß ein Ende abzusehen war. Wollte man bösen Gerüchten glauben, so war ich eine betrügerische Heiratsschwindlerin, die es nur auf seine Micky Maus – Sammelkarten und die seltenen Überraschungseierfiguren abgesehen hatte. Wie eine Spinne in ihr Netz hatte ich den armen, gutgläubigen Carlos in meine bösartigen Absichten eingesponnen, aus denen er sich nur schwer wieder hätte befreien können, bestochen mit Richard Grieco Aufklebern aus der Bravo, war er naiv genug gewesen, mir im Tausche seine Seele zu vermachen. In Wirklichkeit sah alles anders aus. Ein paar nasse Kinderküsse, unterbrochen von inhaltlosem Geschwätz über Klassentratsch, stellten den einzigen Inhalt unserer Beziehung dar. Nach außen hin ein Traumpaar, beneidet, gefürchtet, berüchtigt. Genauer betrachtet allerdings nur ein Produkt aus der Suche nach einem besten Freund und der Feststellung, daß wir unterschiedlichen Geschlechts waren. Nach zwei Wochen war dann Schluß. Ich weiß auch nicht mehr, wer von uns der Sache ein Ende bereitet hat, aber die Tatsache, daß ich mich nicht mehr daran erinnern kann, läßt vermuten, daß es Carlos war. Wir gingen dann getrennte Wege. Ich verliebte mich in Martin und, na ja, Carlos in Elisa Stulpe. Sie war zwar nicht Halb - Brasilianerin, dafür Halb – Bulgarin. Mein erstes Erlebnis mit ihr war, als sie, ein Jahr jünger als ich, auf dem Mädchenklo an besagter Grundschule mich zur Seite stieß mit den Worten „Darf ich mal!“ und ihr Geschenkpäckchen in den klobigen Mülleimer warf. Ich war entsetzt. Zum einen, daß dieses Mädchen mit den Mysterien des Frauwerdens so sorglos und unbeschwert umging, zum anderen, weil ich durch sie ausgebootet worden war. Sie hatte das gewisse Nichts, einen weißen Pulli, eine Rosa Schleife im Haar – alles sprach gegen sie. Das sollte meine Nachfolgerin sein? Die ersten Selbstzweifel machten sich in meiner früher noch so selbstüberzeugten Seele breit. Ich überlebte es und widmete mich fortan den schönen Künsten, um Martin zu beeindrucken. Das Problem war nur, daß er mich nicht beachtete. Was ich auch anstellte, alles was er mir zu geben bereit war, war ein überhebliches Nicken, wenn er morgens den Klassenraum betrat und das gleiche Nicken, wenn der Unterricht vorbei war. Im Nachhinein kann ich sagen, daß es gar nicht mir im besonderen galt, sondern allen bereits im Klassenraum anwesenden. Sehr deprimierend. Früher dachte ich aber, daß es für mich bestimmt war und daraus schöpfte ich auch den Mut, ihm endlich einen Brief zu schreiben. Zusammen mit meiner damaligen kurzzeitig besten Freundin Elisabeth schrieb ich dann die Zeilen, die mein Leben verändern sollten, es aber nicht taten. Ich schrieb, daß ich ihn ganz toll fand und in wieweit ich mich denn verändern müsse, damit ich ihm gefalle. In diesem Moment schien die ganze Frauenbewegung aufzuschreien. Ich hatte den Gedanken der Emanzipation in ihren Grundfesten angenagt. Den Brief legte ich dann vor der Hofpause unter seine Federtasche. Die Stunden danach: keine Reaktion. Ich überlegte, ob ich ihm noch einen schreiben sollte – inhaltlich etwa so: „Ich habe familiäre Probleme. Deswegen hat mir der Psychologe Tabletten verordnet, die mich manchmal Dinge tun lassen, die ich gar nicht so gemeint habe. Vergiß den Brief. Ich mag dich nicht.“ Am nächsten Tag ging ich mit zitternden Knien zur Schule. Martin war nicht da – ich vermutete, daß er sich in ein fernes Land abgesetzt hatte, fernab von lüsternen Mitschülerinnen, die nur das eine wollten – ihn. Ich kam von der Hofpause hoch zum Matheunterricht und war übelster Laune. Ich hatte nicht nur meinen Stolz mit Füßen getreten, sondern auch noch den schönsten Jungen der Schule zum Auswandern gebracht. Ich griff nach meinem Bleistift, als plötzlich ein zusammengeknüllter Brief unter meiner Federtasche zum Vorschein kam. Ich drehte mich um, da saß Martin, der, unbemerkt, zur dritten Stunde gekommen war. Auf dem Brief stand mit schöner Schrift „An Karoline“. Ich las die Zeilen: „Bleib wie du bist so gefällst du mir am besten denn du gefällst mir am besten von unseren Mädchen.“ Mein Herz machte einen Sprung und ich konnte mich glücklich schätzen, den ersten Schritt gewagt zu haben. Die beziehungsähnliche Freundschaft hielt länger als drei Monate. Er schenkte mir einen Plüschhasen zu Ostern, schrieb mir Briefe und hatte etwas gemeinsam mit mir, was uns eng zusammenschweißte: sein Onkel war der erste Freund meiner Mutter gewesen, als sie 18 Jahre oder etwas älter war. So was verbindet, wir waren geradezu prädestiniert dazu, später zu heiraten und ganz viele kleine Martins uns Karolines in die Welt zu setzen. Aber zunächst müßte man sich erst einmal küssen. Ich will ja nicht sagen, daß ich stürmisch war oder zu allem bereit, aber mir kam es seltsam vor, daß er nicht einmal die kleinste Anstalt machte, mir seine Lippen aufzudrücken. War es mein eher männliches Aussehen, das ihn davon abhielt, den ersten Schritt zu wagen? War es reine unschuldige Unerfahrenheit? Angst? Ich war fest dazu entschlossen, den ersten Schritt zu wagen. Am besten dort, wo uns keiner sehen konnte. Auf meinem Kahn, wenn wir mal auf dem Wochenendgrundstück waren, das schien mir der perfekte Ort zu sein, Martin zu zeigen, daß mehr in mir steckt als eine Poetin, eine Musikantin oder Malerin. Als ich ihn soweit hatte, daß er ahnungslos in meinen Kahn stieg, tat er mir fast ein bißchen leid. Wir ruderten, ruderten, ruderten... um die Kurve, aus dem Sichtbereich meiner Mutter... hinein in einen Kanal, wo nur die Bäume und Vögel und Fische Zeuge waren dessen, was folgen sollte... Ich saß also da, rutschte etwas näher an Martin heran und lächelte mein unwiderstehlichstes Lächeln. Er lächelte zurück. „Weißt du, was dich so besonders macht?“ sagte er. „Du bist eine der wenigen, die ich kenne, die einen nicht sofort küssen möchte, sondern die ganze Sache etwas langsamer angeht.“ Ich überlegte, ob ich meinen Plan durchziehen sollte oder so tun, als wäre nichts. Ich hielt mir die Option offen, einfach über Bord zu springen. Die nächste Zeit passierte nicht viel zwischen uns, wir führten hoch intellektuelle Gespräche und hielten Händchen. Ich hatte mich damit abgefunden. Inzwischen rückten die Sommerferien immer näher und damit nicht nur die Trennung von Martin, sondern auch die endgültige Trennung unserer Klasse, denn nach den Ferien sollte der Ernst des Lebens beginnen. Eine neue Schule, die 7. Klasse.