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Die Flucht ins Ungewisse
USA 1988

Originaltitel: Running on Empty

Regie: Sidney Lumet; Drehbuch: Naomi Foner; Produzenten: Griffin Dunne, Amy Robinson; Kamera: Gerry Fisher; Musik: Tony Mottola; Schnitt: Andrew Mondshein; Darsteller: River Phoenix, Christine Lahti, Judd Hirsch, Martha Plimpton, Jonas Abry, Ed Crowley, L.M. Kit Carson, Steven Hill

"Ich hab' es doch oft gesagt, keiner darf aus der Reihe tanzen. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Wir sind eine Kette."

(Arthur Pope zu Danny in "Die Flucht ins Ungewisse")
 
Es gibt einfach Filme, die etwas ganz Besonderes haben. In seinem Buch Filme machen schreibt Regisseur Sidney Lumet: "In Wahrheit weiß nämlich niemand, worin diese magische Kombination besteht, die ein erstklassiges Stück Arbeit produziert. Ich bin nicht bloß bescheiden. Aus irgendeinem Grund können manche Regisseure erstklassige Filme machen, und anderen wird das nie gelingen. Aber wir können nichts weiter tun, als die Vorarbeit zu leisten, welche die »glücklichen Zufälle« einkalkuliert, die einen erstklassigen Film gelingen lassen."

In Sidney Lumets umfangreichem Werk finden sich viele außergewöhnliche Filme. Sein Debüt Die zwölf Geschworenen (1957) gehört zu den faszinierendsten Justizfilmen, die ich gesehen habe. In den sechziger Jahren zeichnete der Filmemacher für solch kraftvolle Dramen wie Long Day's Journey Into Night (1962), Der Pfandleiher (1964), Angriffsziel Moskau (1964) und Ein Haufen toller Hunde (1965) verantwortlich. Berühmt sind die intelligenten Polizeifilme Serpico (1973) und Prince of the City (1981), das Kriminaldrama Hundstage (1975), für Pauline Kael "einer der besten 'New-York'-Filme, die je gemacht wurden", und die mit vier Oscars ausgezeichnete Mediensatire Network (1976).

Sein 1988 uraufgeführter Film Die Flucht ins Ungewisse (Running on Empty) ist vielleicht nicht ganz so bekannt. Doch er ist so einfühlsam und unaufdringlich, dass man ihn mit gutem Recht als sein bewegendstes Werk ansehen kann.

Im Jahre 1971 verübten Arthur und Annie Pope (gespielt von Judd Hirsch und Christine Lahti) einen Bombenanschlag auf ein Napalmlabor, um dazu beizutragen, den Vietnamkrieg zu beenden. Ein Hausmeister wurde dabei verletzt. Jetzt befinden sich die Popes seit fünfzehn Jahren auf der Flucht vor dem FBI. Sie haben zwei Söhne, den 17-jährigen Danny (River Phoenix) und den 10-jährigen Harry (Jonas Abry), die sich dazu verurteilt sehen, das Schicksal ihrer Eltern zu teilen. In den Anfangsszenen von Running on Empty muss die Familie Pope wieder einmal ihr Zuhause und ihre Identität wechseln - wie schon oft zuvor. Nun verliebt sich Danny in Lorna Phillips, die Tochter seines Musiklehrers (Ed Crowley), der zudem Dannys musikalische Begabung entdeckt und ihn dazu ermuntert, sich für ein Studium an der Juilliard School zu bewerben. Doch das würde die Familie auseinander reißen. Danny gerät in einen inneren Konflikt. Da sind einerseits seine Liebe zu Lorna und sein Wunsch, ein eigenes Leben zu führen. Auf der anderen Seite liebt er auch seine Eltern und möchte bei ihnen bleiben. Als diese das Problem mitbekommen, wissen auch sie nicht, was zu tun ist ...

Mit Die Flucht ins Ungewisse kehrt Lumet zu Themen zurück, mit denen er sich bereits in seinem unterschätzten Daniel (1983) beschäftigte. Er und seine Drehbuchautorin Naomi Foner wollten keinen in erster Linie politischen Film machen. Sie wollten vielmehr zeigen, welche Auswirkungen die Aktivitäten von Eltern auf das Leben ihrer Kinder haben können, und darstellen, wie Danny Pope (wie schon Daniel Isaacson in Daniel) nach seinem Platz im Leben sucht. Darüber hinaus beschäftigt sich Die Flucht ins Ungewisse mit den Problemen von Familien, wenn die Kinder ihr Zuhause verlassen wollen.

Der Film ist durchweg fesselnd. Da sind die berührenden und realistischen Szenen zwischen Danny und Lorna und jene zwischen Dannys Eltern, die versuchen mit ihrem Dilemma zurechtzukommen und eine Lösung für ihre Kinder zu finden. Bei der Geburtstagsfeier der Mutter feiern alle die Einheit der Familie. Doch dann merken wir, dass gerade diese Einheit in Gefahr ist. Running on Empty behandelt das Familienthema auf vielschichtige Weise. Der Film betrachtet nicht nur das Verhältnis von Danny zu seinen Eltern, sondern auch jenes zwischen Annie und ihren Eltern, wodurch der Gegenstand aus einer anderen Perspektive beleuchtet wird. Besonders aufschlussreich ist die ungeheuer bittere Szene zwischen Annie und ihrem Vater im Restaurant.

Im Grunde wäre es vorstellbar gewesen, eine derartige Geschichte vor einem nicht politischen Hintergrund zu erzählen. Aber in Lumets Film geht es auch um Idealismus, ein weiterer Punkt, der das Werk mit dem von 1983 verbindet. Die politischen Aspekte stellen eine Bereicherung dar und stimulieren uns Zuschauer zu einer Diskussion über den Konflikt zwischen politischem Engagement und privater Verantwortung. Die verschiedenen Lebensanschauungen von Linken in der amerikanischen Gesellschaft werden klar, wenn Arthur und Annie mit Gus, einem befreundeten Radikalen, diskutieren.

Lumet und Foner interessieren sich wirklich für die Figuren, die sie beschreiben. Ihr gleichermaßen komplexes wie unterhaltendes Meisterstück ist nicht zuletzt eine ganz eigene Studie über die Gefühle dieser Menschen, die sich auf der Flucht befinden ohne ein eigentliches Ziel sehen zu können.

Ein intelligenter Kommentator bemerkte:

»[...] Ich werde nie das Bild vergessen, als Christine Lahtis Annie sich an einem leise-schönen kleinen Duett mit ihrem Sohn im Musikraum der Schule beteiligt. Anstelle einer schwülstigen emotionalen Szene entscheiden sich Sidney Lumet und Autorin Naomi Foner für einen Moment ganz ohne Dialog. So viele Szenen wie diese bevölkern den Film - Szenen, die beschwert sind von so viel Schmerz, so viel Bedauern, so vielen Geheimnissen und so wenig Lärm. [...]« (Jeff-182 in The Internet Movie Database)

Durch seine ruhige und sensible Inszenierung erzeugt Sidney Lumet eine hohe innere Spannung. Alle Schauspieler sind exzellent. River Phoenix' wunderbar nuancierte, außergewöhnlich bewegende, Oscar-nominierte Leistung und Christine Lahtis ebenso brillante Interpretation der Annie Pope muss man einfach gesehen haben. Ebenfalls hilfreich sind die lebendige Musikauswahl (wer sieht River nicht gerne Beethovens Pathétique-Klaviersonate und Mozarts Fantasie in c-moll spielen?) und der wohlüberlegte Schnitt, der sich durch einen beispielhaften Umgang mit Überblendungen und Cuts auszeichnet.

Optisch ist der Film weniger düster als einige der Werke, die Lumet mit Kameramann Andrzej Bartkowiak gemacht hat (Prince of the City, The Verdict - Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit). Die Kameraarbeit in Die Flucht ins Ungewisse, die übernommen wurde von Gerry Fisher (der ein besonders gutes Auge für die Poesie der Nacht besitzt), wirkt auf den ersten Blick recht natürlich, ist aber auch bestimmt durch einen hintergründigen Einsatz ungewöhnlicher Kameraperspektiven und Einstellungsgrößen. Dieses stilistische Konzept steht mit der Tatsache im Einklang, dass die Popes versuchen ein relativ "normales" Leben zu führen, was andererseits sehr erschwert wird durch die Situation, in der sie sich befinden. In diesem Zusammenhang empfehle ich einen Artikel in dem Buch Sidney Lumet von Jay Boyer, der folgende Beobachtung macht:

»[...] Und während man argumentieren könnte, dass die Kameraeinstellungen dem, was wir sehen, eine unauthentische Qualität verleihen, unterstreicht diese Unauthentizität einen zentralen Sachverhalt des Films. Man betrachte die Geburtstagsparty. Die Kamera scheint so nahe an den Figuren zu sein, die um den Tisch herum sitzen, dass sie sie nicht als Gruppe im Blick behalten kann. Wenn Figuren vom Tisch aufstehen und sich bewegen, scheinen sie im Begriff zu sein, miteinander oder mit den Möbeln zusammenzustoßen. Das kleine Esszimmer wirkt unnatürlich flach. Unser Blick auf die Figuren kann auf ungeschickte Weise durch eine andere Figur oder verschiedentliche Partyverzierungen verunklart werden; Figuren am Rand von Lumets Bild laufen Gefahr, vollständig aus dem Bild zu rutschen. Nichts scheint ausgeglichen. [...] In dem Film ist sicherlich ein Gefühl der Unauthentizität zu finden, aber ob dies auf ein fehlendes Geschick Lumets als Regisseur zurückzuführen ist, bleibt zu diskutieren. Nichts im Haushalt der Popes ist real. Alles kann jeden Moment abgeworfen werden. [...]«

Im Falle von Running on Empty sind all die "glücklichen Zufälle" eingetreten... So ist einer der schönsten Filme entstanden, die ich kenne.

Während andere sich auf Sensationen und Explosionen konzentrieren, interessiert sich Lumet für Menschen, deren Stärken und Schwächen und deren Verhalten in Situationen, die ihren und unseren Geist, ihr und unser Gewissen herausfordern.


Karl Rackwitz, Klein Köris, 1997-2004

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