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War Goethe ein Muslim?

Der folgende Text beinhaltet ausschliesslich Teile aus einem Vortrag vom 30. April 1964, der von Dr. phil. habil. Katharina Mommsen, Privatdozentin an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Goethe-Gesellschaft  Stuttgart, auf Einladung der Ortsvereinigung Stuttgart gehalten wurde, ferner in Berlin, Kairo und Alexandria:

 

 

Das Verhältnis Goethes zum Islam und zu Mohammed [F.s.m.i.]*, seinem Begründer, hat so viel merkwürdig interessante Seiten, dass es sich sehr wohl lohnt, es genauer zu betrachten. Für den Islam hat Goethe eine ganz ungewöhnliche innere Anteilnahme gezeigt, mehr als für jede ausserchristliche Religion. Diese Anteilnahme bekundete sich zu den verschiedensten Zeiten seines Lebens. Schon als 23jähriger dichtete Goethe ein wundervolles Preislied auf den Propheten Mohammed (F.s.m.i.)*, und noch der 70jährige Dichter bekennt in aller Öffentlichkeit, dass er sich mit dem Gedanken trage, „ehrfurchtsvoll jene heilige Nacht zu feiern, wo der Koran vollständig dem Propheten von obenher gebracht ward". Dazwischen liegt ein langes Leben, in welchem der Dichter auf verschiedenartigste Weise dem Islam seine Verehrung bezeugt hat. Vor allem geschah dies in dem Werk, das uns heute, neben dem „Faust", als eins seiner wesentlichsten dichterischen Vermächtnisse gilt: im „West-östlichen Divan" . Eine von Goethe verfasste Ankündigung dieses Werkes enthält sogar den erstaunlichen Satz: der Verfasser des Buches lehne „den Verdacht nicht ab, dass er selbst ein Muselmann sei."[...] In Goethes Epoche zeichneten sich Bestrebungen ab, den Islam freier und unvoreingenommener zu betrachten. als es jahrhundertelang üblich gewesen war. [...] Was aber Goethe betrifft, so bestimmte sich seine Einstellung zum Islam - und dies ist das Entscheidende - von Anfang an nicht allein, nicht ausschliesslich aus der Haltung einer fortschrittlichen Aufklärung mit ihren Toleranzbestrebungen und ihren Bemühungen, Fehlurteile der Vergangenheit auszuräumen. Goethe trat vielmehr zu Mohammed (F.s.m.i.)* und seiner Religion in ein viel persönlicheres Verhältnis. Darum gehen seine Äusserungen über den Islam in ihrer provokatorischen Gewagtheit weit über alles bisher in Deutschland Dagewesene hinaus. [...] Schon früh erwachte in Goethe eine ausgeprägte Liebe für die Welt des Orients. Er suchte sich über diese zu informieren, soweit ihm das nur möglich war . Das erste uns erhaltene Zeugnis seiner Beschäftigung mit dem Islam stammt vom Juni 1772. Es findet sich in dem berühmten Brief an Herder [...]. Am Ende [...] steht dann der Satz: „Ich möchte beten wie Moses im Koran: Herr mache mir Raum in meiner engen Brust." Goethe zitiert damit die 20. Sure des Korans, was inhaltlich gemeint ist, wird verständlicher, wenn man die Fortsetzung jenes Spruches liesst, wie Goethe sie damals etwa gleichzeitig notierte in seinen Koran-Auszügen, von denen wir noch sprechen werden. Da heisst es: „O mein Herr mache mir Raum in meiner engen Brust. Mache mir auch mein Geschäft leicht. Löse auch das Band von meiner Zunge." [...] Goethe hatte ein sehr starkes Empfinden für die sprachliche Schönheit des Korans. Noch in hohem Alter pries er die Schönheit in den Noten und Abhandlungen zum Divan, wo er sagt: „Der Stil des Koran ist ... streng, gross, furchtbar, stellenweis wahrhaft erhaben." Wenn man Goethes Ausdrucksweise kennt, so weiss man, dass die Worte „wahrhaft erhaben" zu den höchsten Prädikaten gehören, mit denen er ein sprachliches Denkmal auszeichnen konnte. Dass der junge Goethe in jener Zeit den Koran gründlich studierte - er scheint damals auch erste Versuche in der Aneignung arabischer Sprache und Schrift unternommen zu haben - verraten uns eine Anzah1 von Blättern mit eigenhändigen Auszügen aus der Megerlinischen Übersetzung und aus dem lateinischen Koran des Maracci, die sich bis heute erhalten haben. Goethe schrieb hier eine grössere Anzahl von Versen nieder aus zehn verschiedenen Suren. Was er notiert, ist sehr aufschlussreich. Wir erkennen erstmals etwas von denjenigen Aspekten der islamischen Religionslehre, die Goethe als seinem eigenen Denken verwandt betrachtete. Zunächst ist hier zu erwähnen die ganz Goethesche Grundüberzeugung, dass Gott sich in der Natur offenbare. Zweifellos im Hinblick auf diese eigene Überzeugung notiert sich Goethe folgende Koran-Verse: „Gott gehöret der Aufgang und der Niedergang der Sonnen, und wohin ihr euch wendet, ist Gottes Angesicht da". „Er hat Zeichen genug seiner Einigkeit und Gütigkeit, vor die Völcker, so sie mit Aufmercksamkeit betrachten wollen." (Sure 2). In den letzten Worten spiegelt sich auch die Lehre von der Einheit Gottes wider, und vor allem dies ward nicht von ungefähr in Goethes Notizen festgehalten. Denn gerade das nachdrückliche Verkünden dieser Lehre hat der Dichter stets als ein besonderes Verdienst des Propheten Mohammed (F.s.m.i.)* angesehen. Davon werden wir noch zu sprechen haben.

Andere Verse des Korans, die Goethe sich damals aufschrieb, beziehen sich auf ein Thema, das vor allem den jungen Goethe viel beschäftigte: nämlich dass Gott nicht durch einen, sondern durch viele Mittler zur Menschheit gesprochen hat und weiter spricht. (Sure 3) „So ist auch Mahomed*** unter euch nichts als ein Gesandter, und sich auch schon viele Gesandte vor ihm gestorben. Wenn er nun auch sterben sollte: wolltet ihr desswegen auf euern Fersen zurücktreten?" „Gott ist auch nicht geneigt, dass er auch bekannt mache, was ein Geheimnis ist, sondern er erwählt einige von seinen Gesandten, welche er will: dass sie, (die Menschen), glauben und an seinen Gesandten."

Goethes Koranauszüge verraten aber des weiteren ein besonderes Interesse des Dichters an der Wirkungsweise Mohammeds [F.s.m.i.]* und an seiner Stellung innerhalb eines bestimmten Volkes. So notiert sich Goethe folgende Worte des Korans (aus Sure 29): „Zeichen stehen bey Gott, ich binn nur ein offenbaarer Prediger"; und aus Sure 13: „Weiter sagen einige Ungläubige von dir: Ist dann nicht ein Wunderzeichen von seinem Herrn über ihn herabgeschickt worden. Doch du bist nur ein Prediger und ist in einem jeden Volk sein Lehrer zur Unterweisung gegeben worden." Für diesen letzten Koran-Vers hat Goethe nachweislich zeitlebens eine besondere Vorliebe gehabt. Er zitiert ihn noch 1819 in einem Brief an einen jungen Gelehrten. „Es ist wahr, was Gott im Koran sagt: Wir haben keinem Volck einen Propheten geschickt, als in seiner Sprache!" Und in einem Brief an Carlyle vom Jahre 1827 wird abermals dies Koran-Zitat angeführt,wenn es dort heisst: „Der Koran sagt: Gott hat jedem Volcke einen Propheten gegeben in seiner eignen Sprache." Dieselben Worte wiederholt Goethe auch in einem Aufsatz aus dem Jahre 1828. [...] Die Koranstudien des Jahres 1772 hatten nun aber eine ausserordentlich wichtige Folge. Sie inspirierten Goethe dazu, ein grosses Projekt zu einer Tragödie ins Auge. zu fassen, deren Titel „Mahomet" sein sollte. Dieser Tragödienplan ist zwar nicht zur Ausführung gekommen, doch hat Goethe einige Kernpartien niedergeschrieben, die wir noch heute besitzen. Schon bezüglich dieser Partien ist aber zu sagen, dass sie die bedeutsame Huldigung darstellen, die jemals ein Dichter in Deutschland dem Begründer des Islam dargebracht hat. Im Zusammenhang unserer Betrachtungen sind diese Tragödienfragmente von Wichtigkeit, weil bereits in ihnen Wesentliches wirklich sichtbar wird von dem, was Goethe persönlich am Islam so stark interessiert hat. Zwei Aspekte treten hier sehr deutlich hervor.

Einmal war es die Gestalt des Propheten Mohammed [F.s.m.i.] selbst, zum anderen eine der von ihm ausgesprochenen Lehren, wodurch Goethes Anteilnahme schon jetzt in der Jugend geweckt wurde.

[...] Innerhalb der erhaltenen Fragmente war es besonders das berühmte Preislied "Mahomets Gesang" (ursprünglich gedichtet als Wechselgesang zwischen Ali und Fatima), das die Anteilnahme an der Gestalt Mohammeds [F.s.m.i.] zum Ausdruck brachte. Goethe schrieb es im Frühjahr 1773 nieder, nachdem er alle nur erreichbare Literatur über Mohammed [F.s.m.i.] studiert hatte. In diesem Preislied stellt Goethe das Wesen des Religionsstifters, eines geistigen Führers der Menschheit, darunter dem Bilde des Stroms. Das Gleichnis dient ihm zur Schilderung der von kleinsten Anfängen ausgehenden, dann ins Riesenhafte wachsenden geistigen Macht, ihrer Ausweitung und Entfaltung, mit dem glorreichen Abschluss der Einmündung in den Ozean, der hier zum Symbol der Gottheit wird. Dabei liegt. dem Bild vor allem die Vorstellung zugrunde: der religiöse Genius nimmt die anderen Menschen als seine Brüder mit, er reisst sie mit sich fort, wie der grosse Strom die kleineren Bäche und Flüsse auf seinem Wege zum Meer mit sich führt. Gerade dies Motiv ist mit besonderem Nachdruck. ausgestattet.

[...] Auf die Lehre von der Einigkeit Gottes hat der Dichter immer den grössten Wert gelegt, und wenn wir von seinem Verhältnis zum Islam sprechen, so werden wir in der Einheitslehre einen Hauptpfeiler zu erkennen haben, auf dem seine Sympathie mit dem Islam beruhte.

[...] Halten wir fest: einmal die gesamte Gestalt des Propheten, zum anderen seine Lehre von der Einheit Gottes haben Goethe vor allem am Islam interessiert, seit er in der Jugend mit dem Plan einer Mahomet-Tragödie umging.

[...] „Alles was das Genie über die Menschen vermag" - diese Worte zeigen nochmals, wie sehr für Goethe das ihm wichtige Phänomen des geistigen Erziehers, des auf Menschen einwirkenden religiösen Führers mit der Persönlichkeit Mohammeds [F.s.m.i.] verbunden war.

[...] Ich möchte mich jetzt noch einem anderen Gebiet zuwenden, auf dem sich eine besonders enge Verknüpfung zwischen Goethes eigener Weltanschauung und dem Islam feststellen lässt. Bekanntlich eignete Goethe eine starke Hinneigung zum Determinismus. Dies hatte zur Folge, dass er mit einer der Hauptlehren der muslimischen Religion übereinstimmte: der Lehre von dem eigentlichen "Islam", der Ergebung in den Willen Gottes. Der Muslim ja an die Vorherbestimmung seines Schicksals durch Gott, er erachtet es als ein Gebot der Frömmigkeit, sich nicht gegen den Willen Gottes aufzulehnen.

[...] Es lässt sich nun beobachten, dass Goethe, besonders in späteren Jahren, von seiner Schicksalsergebenheit gern sprach unter Berufung des Islam. Hierfür einige Beispiele.

Während des Feldzuges in Frankreich (1792), an dem Goethe auf Wunsch seines Landesherrn teilnahm, geriet er zuweilen in Lebensgefahr. Über sein Verhalten in solchen Situationen erzählt der Dichter in der „Campagne in Frankreich": „Mir stellte sich, sobald die Gefahr gross ward, der blindeste Fatalismus zur Hand, und ich habe bemerkt, dass Menschen, die ein durchaus gefährlich Metier treiben, sich durch denselben Glauben gestählt und gestärkt fühlen. Die Mohammedanische Religion gibt hievon den besten Beweis."

Als im Jahre 1820 Goethes Schwiegertochter gefährlich erkrankte, schrieb der Dichter an einen Freund aus der gleichen Haltung heraus: „Weiter kann ich nichts sagen, als ich auch hier mich im Islam zu halten suche." Ähnlich äussert sich Goethe, als im Jahre 1831 die Cholera um sich gegriffen hatte. Er schreibt einer Rat suchenden Freundin folgendermassen: "Hier kann niemand dem andern raten; beschliesse was tun ist jeder bei sich. Im Islam leben wir alle, unter welcher Form wir uns auch Mut machen."

Und vier Wochen vor seinem Tod noch schreibt der 82jährige Dichter - als wiederum die Cholera die Menschen erschreckt: Hier am Orte und im

Lande ist man sehr gefasst, indem man das Übel abzuwehren für unmöglich hält. Alle dergleichen Anstalten sind aufgehoben. Besieht man es genauer, so haben sich die Menschen, um sich von der furchtbaren Angst zu befreien, durch einen heilsamen Leichtsinn in den Islam geworfen und vertrauen Gottes unerforschlichen Ratschlüssen."

Wir erkennen hier, dass Goethe bewusst nach einer der Grundlehren des islamischen Glaubens wirklich gelebt hat, und dass er seine Freunde ausdrücklich auf diese Lehren hinwies.

[...] In Eckermanns Gesprächssammlung begegnen wir einem besonders aufschlussreichen und ausführlichen Lob des Islam. Goethe stellt hier wiederum die Determinationslehre heraus, als das Bedeutsamste, geht dann aber noch - dies ist ganz singulär - auf die dialektische Schulung der Muslimi[e]n** ein, um auch an ihr die Vorzüge des Islam aufs höchste zu preisen.

[...] Lebendige Eindrücke während der Befreiungskriege gegen Napoleon trugen viel dazu bei, Goethe in seiner Achtung gegenüber der Muslimi[e]n** zu bestätigen und seine Gedanken auf eine mögliche Annäherung der Religionen zu lenken. Damals kamen unter den verbündeten russischen Truppen auch muslimische Soldaten und Offiziere nach Weimar. Goethe benutzte die Begegnung mit ihnen zu persönlichen Kontakten. Er freute sich, wie er an seinen Freund Trebra schreibt, ihrer „besonderen Gunst". Man tauschte Geschenke untereinander und wiederholt verzeichnet das Tagebuch muslimische Gäste in seinem Haus.

[...] Goethe nahm persönlich an einem muslimischen Gottesdienst in Weimar teil. Von diesem Gottesdienst ging nicht nur auf den Dichter, sondern auch auf viele Menschen in seiner Umgebung eine grosse Wirkung aus. Goethe berichtet, dass im Anschluss daran sich mehrere religiöse Damen von der Bibliothek den Koran erbaten. Über das Ereignis selbst schreibt er im Januar 1814 an Trebra: „Da ich von Weissagungen rede, so muss ich bemerken, dass zu unserer Zeit Dinge geschehen, welche man keinem Propheten auszusprechen erlaubt hätte. Wer durfte wohl vor einigen Jahren verkünden, dass in diesem Hörsaale unseres protestantischen Gymnasiums mahometanischer Gottesdienst werde gehalten und die Suren des Korans würden hergemurmelt werden, und doch ist es geschehen, wir haben der baschkirischen Andacht beigewohnt, ihren Mulla geschaut, und ihren Prinzen im Theater bewillkommt."

Goethe hatte sich gerade einige Monate zuvor wieder einmal mit dem Koran befasst, nachdem ihm Weimarische Soldaten aus dem Krieg in Spanien ein handschriftliches Blatt eines arabischen Kodex mitgebracht hatten. Er liess es sich von Lorsbach, einem Orientalisten der Universität Jena, übersetzen: es war die 114., die letzte Sure des Korans. Der Dichter versuchte. Das schöne Blatt zu kopieren. Mehrere solcher Versuche von seiner Hand sind erhalten geblieben.

Kurz darauf entstanden die ersten Gedichte des „West-östlichen Divan", des Werks, das nun ganz und gar hineingestellt ist, in die Gedankenwelt und die Atmosphäre des Islam. Es mag uns jetzt deutlich geworden sein, dass dies Werk gar nicht hätte entstehen können ohne jenes positive Verhältnis Goethes zum Islam, wie es sich seit den Jugendjahren des Dichters herausgebildet hatte.

[...] Im übrigen ist der „West-östliche Divan" auch unmittelbar sehr stark beeinflusst durch erneute Beschäftigung des Dichters mit der Persönlichkeit des Propheten. Denn neben den vielen sonstigen orientalischen Quellenwerken, die Goethe zu seinen Gedichten anregten, stehen mit an vorderster Stelle: der Koran, die Sunna, d.h. die mündliche Überlieferung des Prophetenworts, sowie verschiedene Mohammed [F.s.m.i.]- biographien.

Einige Beispiele seien hier angeführt. Eine Stelle des Koran liegt dem folgenden, besonders bekannten Divan Vierzeiler zugrunde:

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Occident!

Nord-südliches Gelände

Ruht im Frieden seine Hände."

Dies Gedicht leitet die Gruppe der „Talismane" ein, die im „Buch des Sängers" steht. Noch ein weiterer Vierzeiler dieser Gruppe beruht auf dem Koran, und zwar auf der 1. Sure:

Mich verwirren will das Irren;

Doch du weisst mich zu entwirren.

Wenn ich handle, wenn ich dichte,

Gib Du meinem Weg die Richte."

Einen Vers aus der 16. Sure des Koran nachgebildet sit ein weiteres Spruchgedicht aus dem „Buch des Sängers":

„Er hat uns die Gestirne gesetzt

Als Leiter zu Land und See;

Damit ihr euch daran ergetzt,

Stets blickend in die Höh."

Aus allen diesen Gedichten klingt bereits mehr oder weniger offenkundig heraus das Thema von der Leitung unseres Schicksals durch den Willen Gottes, das für die Goethe eine so grosse Bedeutung für Goethe hatte, wie wir sahen. Immer wieder wird im „West-östlichen Divan" auf diese religiöse Überzeugung angespielt. So z.B. in den Versen eines Gedichts aus dem „Buch der Sprüche":

„Der Herr der Schöpfung hat alles bedacht.

ein Loos ist gefallen, verfolge die Weise,

Der Weg ist begonnen, vollende die Reise."

[...] Angeregt durch die 2. Sure des Koran sind die folgenden Verse, die wiederum einen Lieblingsgedanken Goethes ausdrücken: dass Gott sich in den Naturerscheinungen spiegele, dass er ihnen erkennbar sei:

„Sollt´ ich nicht ein Gleichnis brauchen

Wie es mir beliebt?

Da uns Gott des Lebens Gleichnis

In der Mücke gibt."

Das wird dann wiederum abgewandelt in:

„Sollt´ ich nicht ein Gleichnis brauchen

Wie es mir beliebt?

Da mir Gott in Liebchens Augen

Sich im Gleichnis gibt."

Im Vierzeiler aus dem „Buch des Sängers" wird Gott abermals als der Eine, Einzige gepriesen, sowie als der Schicksalbestimmende. Dann aber erscheint hier noch ein weiterer, für Goethe gleichfalls bedeutsamer Aspekt:

„Er der einzige Gerechte

Will für jedermann das Rechte.

Sei, von seinen Hundert Namen,

Dieser hochgelobet! Amen."

Kenner des Divan werden sich erinnern, dass auch eins der grossen Suleika-Gedichte mit einer Anspielung auf diese hundert Namen Allahs schliesst:

Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,

Mit jedem klingt ein Name nach für dich."

[...] Ausser der Determinationslehre und der islamischen Gottesauffassung war es - so hätten wir festgestellt - die Persönlichkeit des Propheten Mohammed [F.s.m.i.] selbst, für die sich Goethe erwärmte. Auch dafür bietet der „West-östliche Divan" reichlich Zeugnisse. Hier wäre vor allem das gesamte „Buch des Paradieses" zu nennen, worin die Gestalt des Propheten ja in vielfältiger Weise beleuchtet wird.

Sehr ausgiebig befasste Goethe sich aber auch in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans" mit Mohammed [F.s.m.i.]. Ähnlich wie schon in seiner Jugend beschäftigt ihn wiederum das Wesen des Religionsstifters, des Propheten als solchem. Ähnlich und doch ganz anders.

[...] Aber auch auf jene andere Lehre von der Ergebung in den Willen Gottes lenkt Goethe immer wieder die Aufmerksamkeit. Wenn er z.B. im Kapitel „Künftiger Divan" andeutet, wie er sein ihm noch „unvollkommen" erscheinendes Werk zu erweitern beabsichtigt, so charakterisiert er eine bestimmte noch zu beschreibende Gattung von Gedichten wie folgt: Sie sollten darstellen „die wunderbaren Führungen unf Fügungen, die aus erforschlichen Ratschlüssen Gottes hervorgehen; sie würden „lehren und bestätigen den eigentlichen Islam, die unbedingte Ergebung in den Willen Gottes, die Überzeugung, dass niemand seinem einmal bestimmten Loose ausweichen könne." Wir sehen: der Dichter hatte das Gefühl, von diesem ihm so lieben Thema des „eigentlichen Islam" noch zu wenig gesagt zu haben. Auf diesem Gebiet konnte er sich offenbar nie genug tun. [...]

Weitere Beispiele zu diesem Thema finden wir in der Broschüre „War Goethe ein Muslim? - Unbekannte Überzeugung des deutschen Dichters", herausgegeben vom „Islamischen Zentrum für Da´wa und Information":

Gott ist nur Einer!: In Anlehnung an Sure 112 verneint Goethe in aller Klarheit die Sohnschaft Jesu [F.s.m.i.] und berührt den Glaubensinhalt des Qur´an, indem er schrieb:

„Gott ist nur Einer,

Ein einziger, reiner,

Hat nicht gezeugt,

Und ihn gezeugt hat keiner."

Die Allmacht Allahs: Goethe bekräftigt ebenfalls ohne Herumrederei den grossen Sinn des Qur´an Verses 42:49 (gelesen: Sure 42, Vers49) durch folgende wenige Worte (aus dem „Buch des Unmuts":

Hätt´Allah mich bestimmt zum Wurm,

So hätt´er mich als Wurm geschaffen."

Das Buch der Bücher!: Auch folgende Zeilen zeigen deutlich, dass Goethe einen ziemlich weiten Überblick über den Qur´an hatte. In Übereinstimmung mit dem Qur´an-Vers 5:48 sagte er (in „das Schenkenbuch"):

„Ob der Koran von Ewigkeit sei?

Darnach frage ich nicht!...

Dass er das Buch der Bücher sei

Glaub´ ich aus Mosleminen-Pflicht."

Gottergebenheit:

Islam ist das arabische Wort für Gottergebenheit und ist in zahlreichen Suren anzutreffen. Ob Goethe arabische Sprachkenntnisse oder ein klares Verständnis des Buches Allahs hatte, zeigen folgende gereimte Zeilen (aus dem „Buch der Sprüche":

„Närrisch, dass jeder in seinem Falle

Seine besondere Meinung preist!

Wenn Islam Gott ergeben heisst,

Im Islam leben und sterben wir alle."

Jesu Wille!:

Die qur´anischen Angaben betonen die menschliche Natur Jesu und seiner Mutter, Friede sei auf beiden. Im Sinne der beiden Qur´an-Verse 3:59 und 5:116 verfasste Goethe folgende Zeilen aus dem Nachlass- Gedicht „Süsses Kind, die Perlenreihen":

„Jesus fühlte rein und dachte

Nur den Einen Gott im Stillen;

Wer ihn selbst zum Gotte machte

Kränkte seinen heiligen Willen.

 

Und so muss das Rechte scheinen

Was auch Mahomet gelungen;

Nur durch den Begriff des Einen

Hat er alle Welt bezwungen."

Es gibt viel mehr Beispiele, um Goethes islamische Denken zu illustrieren. Dazu möchte ich einige Textstellen aus dem „West-östlichen Divan" zitieren. Im „Buch des Unmuts" finden wir in der letzten Strophe des Gedichts „Wanderers Gemütsruhe" folgende Worte":

„Sonst, wenn man den heiligen Koran citierte,

Nannte man die Sure, den Vers dazu,

und jeder Moslem, wie sich´s gebührte,

Fühlte sein Gewissen in Respekt und Ruh."

Erneut finden wir den Ausdruck „heiliger Koran". Das zeigt, dass Goethe den Qur´an als Wort Gottes akzeptiert hat. Mit diesem Gedicht schildert er die Vorgehensweise beim Qur´an-Zitat.

Zum Thema der zahlreichen Überlieferungen des Evangeliums schreibt der Dichter folgende Verse aus dem „Buch der Parabeln":

„Vom Himmel steigend Jesus bracht´

Des Evangeliums ewige Schrift,

Den Jüngern las er sie Tag und Nacht;

Ein göttlich Wort, es wirkt und trifft.

Er stieg zurück, nahm´s wieder mit;

Sie aber hatten´s gut gefühlt,

Und jeder schrieb, so Schritt vor Schritt,

Wie er´s in seinem Sinn behielt,

Verschieden."

 

* „Friede sei mit ihm" - arabische Lobpreisungsformel für Propheten. Die Muslime setzen diesen Kürzel hinter die Namen der Propheten.

** „Muslimien" ist der Plural von „Muslim"; die Autorin schreibt „Muslimin". Aber diese Schreibweise kann man mit der femininen Form „die Muslimin" verwechseln. Daher fügt der Redakteur ein „e" hinzu, um Missverständnisse zu unterbinden.

[...] wegen Platzgründen gekürzte Textstellen. Das Original der Rede ist um einiges umfangreicher.

***„Mahomet" ist die damals gebräuchliche frz. Form von „Muhammed".

Hüseyin Yücel

 

 

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