| 05.01.06 |
Nach und nach kommt ans Licht, wie brutal eine Jugendbande zu Neujahr die Passagiere eines französischen Regionalzugs terrorisiert hat.

Von Hanns-Jochen Kaffsack

„Ich war kein menschliches Wesen mehr, ich war nur noch ein Objekt, das von einem zum anderen gestoßen wurde.“ Auch Tage nach der Horrorfahrt in dem südfranzösischen Zug weicht das Trauma der 20-jährigen Studentin aus Besançon nicht. 20 bis 30 junge Leute seien betrunken und aggressiv über sie hergefallen, hätten sie ausgeraubt, geschlagen sowie sexuell belästigt, berichtet die junge Frau. Derweil machten sich im Zug von Nizza nach Lyon Dutzende andere vor allem über verängstigte ältere Passagiere her, stießen Drohungen aus, entrissen Schmuck und nahmen sich dann das nächste Abteil vor.

„Es war wie ein Albtraum.“ So umschreiben Zeugen den beispiellosen Banden-Terror am Neujahrsmorgen in dem Corailzug TER 17430, der sie nach einer Silvesterfeier in der Côte-d´Azur-Metropole Nizza nach Hause bringen sollte. Und je weiter sich das Horrorerlebnis zeitlich entfernt, desto entsetzter und fassungsloser sind die Franzosen. „Die ganze Wahrheit über einen wahrhaftigen Skandal", so will das Pariser Boulevardblatt „Le Parisien“ am Donnerstag die noch immer erheblichen Wissenslücken über die Vorfälle schließen. „France-Soir“ weiß, wer verantwortlich ist für den „Höllenzug": „Die Polizei ist entgleist.“

Keiner will den Schwarzen Peter

Erst am Donnerstag ordnete die Polizei eine interne Untersuchung an. Derweil schieben sich die Bahngesellschaft SNCF, die Gendarmerie und das von Nicolas Sarkozy geleitete Innenministerium in Paris gegenseitig den Schwarzen Peter zu. In der Polizeibilanz über die „nur“ 425 in der Neujahrsnacht angezündeten Autos war das üble Treiben in dem Corail nicht aufgetaucht. Unter politischem Druck hat Sarkozy, Verfechter einer „Null-Toleranz“ in Sachen Gewalt, schon eine Notbremse gezogen – er will im Laufe des Jahres eine Zugpolizei von bis zu 1500 Beamten als Begleiter in den Regionalbahnen aufbauen.

Keine Vorfälle bis Saint-Raphaël

Müde von der Silvesterfeier hatten eigentlich alle der etwa 600 Passagiere ein bisschen im Zug auf der Fahrt gen Norden schlafen wollen. Die SNCF ordert jedoch nur drei Bahnpolizisten ab, um etwa 100 Jugendliche aus Marseille und Avignon in Schach zu halten, die bereits auf der Hinfahrt randaliert hatten. Und auch das Polizisten-Trio ist übermüdet, hatte die Nacht über Dienst geschoben und macht Überstunden. Sogar die Jugendlichen – Maghrebiner, Schwarzafrikaner sowie Weiße – scheinen zu schlummern. Um 06.52 Uhr verlassen die Beamten den Zug in Saint-Raphaël und melden keinerlei Vorfälle. Das ändert sich in den Minuten darauf gründlich.

Raubzug durch die Abteile

Les Arcs ist eine kleine, einsame Station bei Draguignan. Hier hält der Zugkontrolleur den Corail an. Dutzende junger Leute haben einen Erste-Klasse-Waggon verwüstet und dann einen Raubzug durch die Abteile begonnen. „Wer uns verpfeift, den mischen wir auf", drohen sie einer Pariserin, die den Kontrolleur rufen will. Der ist allein auf sich gestellt. Es dauert, bis er Verstärkung herbeigerufen hat. Warum so lange, das gehört noch zu den Rätseln dieser Neujahrsfahrt.

90 Minuten Angst und Schrecken

Eineinhalb Stunden lang sind die Passagiere in Angst und Schrecken versetzt. Manche flüchten in eine Bar nahe dem Bahnhof. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzt, sind 15 Gendarmen mit Hunden an Bord. Und doch können die meisten Täter fliehen, sie ziehen einfach 500 Meter vor dem Bahnhof Saint-Charles in Marseille – zum dritten Mal – die Notbremse und verschwinden über die Gleise. Es ist zwölf Uhr mittags. Die Fahrt endet, die das Land über Tage beschäftigen würde.

dpa