Von Hanns-Jochen Kaffsack
„Ich war kein menschliches Wesen
mehr, ich war nur noch ein Objekt, das von einem zum anderen gestoßen wurde.“
Auch Tage nach der Horrorfahrt in dem südfranzösischen Zug weicht das Trauma der
20-jährigen Studentin aus Besançon nicht. 20 bis 30 junge Leute seien betrunken
und aggressiv über sie hergefallen, hätten sie ausgeraubt, geschlagen sowie
sexuell belästigt, berichtet die junge Frau. Derweil machten sich im Zug von
Nizza nach Lyon Dutzende andere vor allem über verängstigte ältere Passagiere
her, stießen Drohungen aus, entrissen Schmuck und nahmen sich dann das nächste
Abteil vor.
„Es war wie ein Albtraum.“ So umschreiben Zeugen den
beispiellosen Banden-Terror am Neujahrsmorgen in dem Corailzug TER 17430, der
sie nach einer Silvesterfeier in der Côte-d´Azur-Metropole Nizza nach Hause
bringen sollte. Und je weiter sich das Horrorerlebnis zeitlich entfernt, desto
entsetzter und fassungsloser sind die Franzosen. „Die ganze Wahrheit über einen
wahrhaftigen Skandal", so will das Pariser Boulevardblatt „Le Parisien“ am
Donnerstag die noch immer erheblichen Wissenslücken über die Vorfälle schließen.
„France-Soir“ weiß, wer verantwortlich ist für den „Höllenzug": „Die Polizei ist
entgleist.“
Keiner will den Schwarzen Peter
Erst am
Donnerstag ordnete die Polizei eine interne Untersuchung an. Derweil schieben
sich die Bahngesellschaft SNCF, die Gendarmerie und das von Nicolas Sarkozy
geleitete Innenministerium in Paris gegenseitig den Schwarzen Peter zu. In der
Polizeibilanz über die „nur“ 425 in der Neujahrsnacht angezündeten Autos war das
üble Treiben in dem Corail nicht aufgetaucht. Unter politischem Druck hat
Sarkozy, Verfechter einer „Null-Toleranz“ in Sachen Gewalt, schon eine Notbremse
gezogen – er will im Laufe des Jahres eine Zugpolizei von bis zu 1500 Beamten
als Begleiter in den Regionalbahnen aufbauen.
Keine Vorfälle bis
Saint-Raphaël
Müde von der Silvesterfeier hatten eigentlich alle der
etwa 600 Passagiere ein bisschen im Zug auf der Fahrt gen Norden schlafen
wollen. Die SNCF ordert jedoch nur drei Bahnpolizisten ab, um etwa 100
Jugendliche aus Marseille und Avignon in Schach zu halten, die bereits auf der
Hinfahrt randaliert hatten. Und auch das Polizisten-Trio ist übermüdet, hatte
die Nacht über Dienst geschoben und macht Überstunden. Sogar die Jugendlichen –
Maghrebiner, Schwarzafrikaner sowie Weiße – scheinen zu schlummern. Um 06.52 Uhr
verlassen die Beamten den Zug in Saint-Raphaël und melden keinerlei Vorfälle.
Das ändert sich in den Minuten darauf gründlich.
Raubzug durch die
Abteile
Les Arcs ist eine kleine, einsame Station bei Draguignan.
Hier hält der Zugkontrolleur den Corail an. Dutzende junger Leute haben einen
Erste-Klasse-Waggon verwüstet und dann einen Raubzug durch die Abteile begonnen.
„Wer uns verpfeift, den mischen wir auf", drohen sie einer Pariserin, die den
Kontrolleur rufen will. Der ist allein auf sich gestellt. Es dauert, bis er
Verstärkung herbeigerufen hat. Warum so lange, das gehört noch zu den Rätseln
dieser Neujahrsfahrt.
90 Minuten Angst und
Schrecken
Eineinhalb Stunden lang sind die Passagiere in Angst und
Schrecken versetzt. Manche flüchten in eine Bar nahe dem Bahnhof. Als sich der
Zug wieder in Bewegung setzt, sind 15 Gendarmen mit Hunden an Bord. Und doch
können die meisten Täter fliehen, sie ziehen einfach 500 Meter vor dem Bahnhof
Saint-Charles in Marseille – zum dritten Mal – die Notbremse und verschwinden
über die Gleise. Es ist zwölf Uhr mittags. Die Fahrt endet, die das Land über
Tage beschäftigen würde.
dpa