Aus: Veit Valentin, Weltgeschichte. Band I. München/Zürich [1965], pp. 80-82.

Aus dem Kapitel: Das Griechentum. ... Tragödie 81 ...

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Das Leben der Griechen behielt immer etwas merkwürdig Unbürgerliches. Das Weib war entweder als Ehegattin und Kindergebärerin im Haus verborgen, gefangen von der Sitte und vom Alltag, oder es teilte als befreite Gefährtin, als Tänzerin und musische Künstlerin, oder auch nur als liebende heitere Gespielin das Dasein des Mannes, ohne geheiligte Bindung, von den einzelnen verehrt, von der Gemeinschaft übersehen. Das Leben auf dem Marktplatz, im Theater, auf dem Areopag, auf den Speilplätzen und in der Schlacht war männlich durch und durch. Die Frau zu Hause mußte leiden und dulden, dienen und gehorchen, arbeiten und schweigen; sicher tat sie es ungern und sehnte sich nach befreienden

[p.81] Mysterien. Die Gefährtin außerhalb des Hauses wurde genossen und verbraucht; nur selten erhielt sie sich durch besonderen Geist dauernd ihren Herrn - wie Aspasia den Perikles. Die Männer waren unter sich auch durch die Sinne verbunden: die gleichgeschlechtliche Freundschaftsbeziehung macht in den meisten Griechenstädten erst Politik, Lebensform, Kunst, Erziehung, Weisheitslehre voll verständlich; das bedeutete, von unserem Standpunkt aus gesehen, Entartung; es war aber auch, von der dortigen Entwicklung aus gesehen, Sublimierung. Schwelgeriche Selbstbejahung der Sine war dem Griechen natürlicher Lebensausdruck; erst die letzte Erfüllung entspannte die Körperlichkeit und ließ den Geist, leidend und genießend, zur vollen Höhe seiner Schöpferkraft gelangen. Nur überwundene Leidenschaft ermöglichte auch die Herbheit und den Ernst der Tragödie.

Der große Gott Dioynsos wurde von alters durch den Rausch singender Chöre, durch die mimischen Bocksprünge und polternden Scheltreden dämonischer, halbtierischer Gesellen gefeiert, die die Zeugungskraft der Natur aufs Handgreiflichste zur Darstellung brachten. Leben und Tod des Gottes, sein Kampf mit den Gegnern, die mystische Vereinigung seiner Anhänger mit ihm, die Erlösung durch ihn - das war der Inhalt dieser derb komischen, aber auch magisch sinnvollen Spiele. Der Orphiker Aischylos gab ihnen Hoheit, Spannung, schicksalsmäßige Gewalt. Dramatische Kunstform hatte sich schon in Sizilien entwickelt, in Athen hat sie die volle Auswirkung erfahren. Da sah man nun Frevel, Unheil, Fluch und Leidenschaft - die Erlebnisse des Mythos gefaßt als einen Streit des Wortes mit dem Worte, des Menschen mit dem Menschen, erschütternd um des Menschlichen willen und dadurch zur Anteilnahme zwingend: dies mitlebende Mitleiden führte dann ganz im Sinne des Kultus die Läuterung herbei. Sophokles gelang es, die Handlung zu verlebendigen, den Dialog zu verfeinern, die Motive zu adeln, Bild und Schicksal zu bereichern - zu einer wohlausgeglichenen Kunstwirkung; er war eine Persönlichkeit von beherrschender Fruchtbarkeit, Stilsicherheit und Anmut des Gefühls. Viele, viele dramatische Autoren rangen um Ebenbürtigkeit und Nachfolge mit dem klassisch heiteren Meister. Der große Euripides war der einzige, der ihn zugleich fortsetzte und überwand: denn hier gab es nun seelische Zerklüftung, den Sturm brutaler Leidenschaftlichkeit, die schuldhafte Verstrickung des Verfolgten, Belasteten, Verblendeten, Geschlagenen, die Not des Gewissens und die Qual von Zweifel, Mißtrauen und Rachsucht.

Tragödien wurden nur einmal im Jahr und zuerst nur in Athen gespielt; was hier Dichter, Schauspieler und Publikum zusammenfügte, war die religiös-künstlerische Erbauung und natürlich, wie in Griechenland immer, der Gedanke des Wettkampfes um die höchste Leistung das Satyr-

[p.82] spiel, das der Tragödie zu folgen pflegte,nahm seine eigene Entwicklung zur Komödie; sie war der Protest des Alltags gegenüber dem Pathos, der derben Sinnlichkeit gegenüber seelischen Konflikten, des blutvolen Lebensgenusses gegenüber dem Ringen um ethische Werte und um Läuterung - überhaupt der Protest des ewig Alten, Trivialen, Vitalen und Beharrenden gegenüber all diesen Neuerungen in Lebensart und Politik, die sich so ernst nahmen. Aristophanes gab der Komödie die höchste Form: es steckte Posse, Witzblatt, Operette und Revue in ihr - nun wurde sie mehr als dies: die Bekenntnisform eines spottsüchtig aristokratischen Künstlertums, metaphysisch frech, aus gläubiger Bitterkeit frivol, schwelgerich in Ungehemmtheit, von bösen Einfällen, verwegenem Wortwitz, nihilistischer Laune strotzend, unglücklich und unheimlich im Grunde, aber sich und den Hörer betäubend durch den tosenden Strom unvergleichlicher Verse.
Freilich, der griechische Geist konnte auf seiner Bahn nicht aufgehalten werden, weder durch Gemeinheit noch durch Unheil, noch durch ein Genie. Je mehr man die Belastungen begreift, die in seinem eigenen Wesen lagen, desto stärker wird das Staunen über seine Lebenskraft. Der Reichtum des griechischen Gefühlslebens, die Gestaltungskraft der griechischen Phantasie waren unvergleichlich; zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung, zwischen Hybris und Verzweiflung, zwischen den Polen aller denkbaren Gegensätzlichkeit bestand hier die vibrierende Spannung eines unendlichen schöpferischen Lebensgefühls.

Aus: Veit Valentin, Weltgeschichte. Band I. München/Zürich [1965], pp. 80-82.


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