Der bunte Kranz

Eine Auswahl aus deutscher
Dichtung und Bildkunst

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Vierte Auflage
Dritter Teil: Ein Lesebuch für das vierte Grundschuljahr
Verlag von Moritz Diesterweg in Frankfurt am Main
1926


Frühling kommt

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Frühlingsglocken.

Schneeglöckchen tut läuten!
Was hat das zu bedeuten?
Ei, gar ein lustig Ding!
Der Frühling heut' geboren ward,
ein Kind der allerschönsten Art;
zwar liegt es noch im weißen Bett,
doch spielt es schon so wundernett.
Drum kommt, ihr Vögel, aus
Dem Süd' und bringet neue Lieder mit!
Ihr Quellen all,
erwacht im Tal!
Was soll das lange Zaudern?
Sollt mit dem Kinde plaudern!

3

Maiglöckchen tut läuten!
Was hat das zu bedeuten?
Frühling ist Bräutigam,
macht Hochzeit mit der Erde heut'
mit großer Pracht und Festlichkeit.
Wohlauf denn, Nelk' und Tulipan,
Und schwenkt die bunte Hochzeitfahn'!
Du Ros und Lilie, schmückt euch fein!
Brautjungfern sollt ihr heute sein!
Ihr Schmetterling,
sollt bunt und flink
den Hochzeitreigen führen,
Vögel musizieren!

Blauglöckchen tut läuten!
Was hat das zu bedeuten?
Ach, das ist gar zu schlimm!
Heut' nacht der Frühling scheiden muß,
drum bringt man ihm den Abschiedsgruß,
Glühwürmchen ziehn mit Lichtern hell,
es rauscht der Wald , es klagt der Quell,
dazwischen singt mit süßem Schall
aus jedem Busch die Nachtigall
und wird ihr Lied
sobald nicht müd;
ist auch der Frühling schon so ferne -
sie hatten ihn alle so gerne!

[Robert Reinick ( 1805 - 1852 )]

Wilkommen!
Herbei, herbei zum Ringelreihn,
sollte alle meine Gespielen sein!
Wir wollen uns im Tanze drehn,
die Zöpfe fliegen, die Kleider wehn.
Schon steht der Wald im ersten Grün,
die Primeln und die Veilchen blühn.
Der junge Lenz zog wieder ein;
drum laßt uns singen und fröhlich sein!

4

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Wie ist doch die Erde so schön!

Wie ist doch die Erde so schön, so schön!
Das wissen die Vögelein;
Sie heben ihr leicht Gefieder,
und singen so fröhliche Lieder
in den blauen Himmel hinein.

Wie ist doch die Erde so schön, so schön!
Das wissen die Flüss' und Seen:
Sie malen im klaren Spiegel
die Gärten und Städt' und Hügel,
und die Wolken, die drüber gehn!

Und Sänger und Maler wissen es
und Kinder und andre Leut!
Und wer's nicht malt, der singt es,
und wer's nicht singt, dem klingt es
in dem Herzen vor lauter Freud!

[Text Robert Reinick (1805-1852), aus: Lieder (Berlin, 1844)]

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Frühlingslied.

Die Luft ist blau, das Tal ist grün,
die kleinen Maienglocken blühn
und Schlüsselblumen drunter;
der Wiesengrund
ist schon so bunt
und malt sich täglich bunter

Drum komme, wem der Mai gefällt,
und schaue froh die schöne Welt
und Gottes Vatergüte,
die solche Pracht
hervorgebracht,
den Baum und seine Blüte.

[Text - Ludwig Christoph Heinrich Hölty ((1744888-1776)
Melodie - Johann Friedrich Reichardt (1752-1840)]

Der frohe Wandersmann.

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt;
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Wald und Strom und Feld.

Die Trägen, die zu Hause liegen,
erquicket nicht das Morgenrot,
sie wissen nur von Kinderwiegen,
von Sorgen, Last und Not um Brot.

Die Bächlein von den Bergen springen,
die Lärchen schwirren hoch vor Lust;
was soll ich nicht mit ihnen singen
aus voller Kehl und frischer Brust?

Den lieben Gott laß ich nun walten;
der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd und Himmel will erhalten,
hat auch mein Sach aufs best bestellt!

[Joseph von Eichendorff, 1788-1857]

6

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Im Maien.

Nun bricht aus allen Zweigen
Das maienfrische Grün;
Die ersten Lerchen steigen,
Die ersten Veilchen blühn;
Und golden liegen Tal und Höhn -
O Welt, du bist so wunderschön
Im Maien!

Und wie die Knospen springen,
Da regt sich's allzumal;
Die muntren Vögel singen,
die Quelle rauscht ins Tal.
Und freudig schallt das Lustgetön:
O Welt, du bist so wunderschön
im Maien!

Wie sich die Bäume wiegen
im lieben Sonnenschein!
Wie hoch die Vögel fliegen,
ich möchte hinterdrein;
möcht jubeln über Tal und Höhn:!
O Welt, du bist so wunderschön
im Maien!

7

Durch Flur und Wald

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Ausflug.

So grün ist der Wald und die Wiese so bunt,
und Vogelsang schallt über blühendem Grund.

So eng ist die Stube, die Welt ist so weit,
nun, Mädel und Bube, nun macht euch bereit!

Der Morgen so hell strahlt über das Feld,
nun fahren wir schnell hinein in die Welt,
in den Wald, auf die Flur, auf die Berge.

Sommersonntag.
Die frühe Sommersonne lacht -
die Erde ist noch nicht aufgewacht;
noch liegen die Fluren im Schlafe.

Auf leisen Sohlen kommt geschwind
durch Gras und Kraut der Morgenwind
und weckt die Glockenblumen.



Da tönt ein Klingen durch die Luft;
den Kelchen entsteigt der Blütenduft:
Die Blumen grüßen den Morgen.

Die Käfer kommen trippeltrapp,
und klettern die Halme hinauf, hinab,
alle im Sonntagsröcklein.

Und Falter spielen in der Luft
und baden sich in Glanz und Duft
und freuen sich ihres Lebens.

Und heißer wird die Sonenglut -
die Biene, die sonst niemals ruht,
hält heut ein Mittagsschläfchen.

Kaum träumt sie ein halb Stündlein,
da stellen sich Musikanten ein:
ein Dutzend lustiger Grillen.

Die spielen keck das neuste Stück:
ein Lied von Käferlust und -glück
bei Sommersonntagwetter.<
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Libellen eilen dort zum Tanz
im Seidenkleid, aus Sonnenglanz
gewebt von der Frau Spinne.

So geht's, bis kühl der Abend weht,
und müd die Sonne zu Bette geht -
dann hat die Lust ein Ende.

Die Dämmerung breitet die Schwingen aus.
Leuchtkäferchen erhellt sein Haus,
und still wird's rings im Kreise.

Und langsam kommt aus seinem Tor
rot und rund der Mond hervor.

Rätsel
Es ritt ein Männchen über Land,
gewickelt und gewackelt,
hatt' ein Kleid von lauter Tand,
gezickelt und gezackelt.

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9

Marienwürmchen.

Marienwürmchen, setze dich
auf meine Hand, auf meine Hand,
ich tu dir nichts zuleide.
Es soll dir nichts zuleid geschehn,
will nur deine bunten Flügel sehn,
bunte Flügel, meine Freude.

Marienwürmchen, fliege weg,
dein Häuschen brennt, die Kinder schrein
so sehre, ach so sehre.
Die böse Spinne spinnt sie ein,
Marienwürmchen, flieg hinein,
deine Kinder schreien sehre.

Marienwürmchen, fliege hin
zu Nachbars Kind, zu Nachbars Kind,
sie tun dir nichts zuleide!
Es soll dir da kein Leid geschehn,
sie wollen deine bunten Flügel sehn,
und grüß sie alle beide.

Kleiner blauer Schmetterling.

Kleiner blauer Schmetterling,
        Schmetterling
auf der roten Heide -
deine feinen Flüglein schwing,
        Flüglein schwing,
Flüglein zart wie Seide.

Kleines blaues Blümelein,
        Blümelein,
schwinge deine Glocke,
daß sie läutet hell und fein,
        hell und fein,
und den Bläuling locke.

Hei, da fliegt er her geschwind,
        her geschwind,
will sein Blümlein küssen;
doch ein rascher Wirbelwind,
        Wirbelwind
hat ihn fortgerissen.

Ach, nun fliegt er ganz allein,
        ganz allein
auf der weiten Heide.
Einsam steht das Blümelein,
        Blümelein,
Blümelein im Leide.

10

Das Ährenfeld

Ein Leben war's im Ährenfeld,
wie sonst wohl nirgends auf der Welt:
Musik und Kirmes weit und breit
und lauter Lust und Fröhlichkeit.

Die Grillen zirpten früh am Tag
und luden ein zum Zechgelag:
"Hier ist es gut, herein! herein!
Hier schenkt man Tau und Blütenwein!"

Der Käfer kam mit seiner Frau
trank hier ein Mäßlein kühlen Tau,
und wo nur winkt' ein Blümelein,
da kehrte gleich das Bienchen ein.

Den Fliegen ward die Zeit nicht lang,
sie summten manchen frohen Sang.
Die Mücken tanzten ihren Reihn
wohl auf und ab im Sonnenschein.

Das war ein Leben ringsumher,
als ob ewig Kirmes wär.
Die Gäste zogen aus und ein
und ließen sich's gar wohl dort sein.

Wie aber geht es in der Welt?
Heut ist gemäht das Ährenfeld,
zerstöret ist das schöne Haus,
und hin ist Kirmes, Tanz und Schmaus.

[Hoffmann von Fallersleben]

Die Roggenmuhme

Laß stehn die Blume!
Geh nicht ins Korn!
Die Roggenmuhme
zieht um da vorn!

Bald duckt sie nieder,
bald guckt sie wieder:
Sie wird die Kinder fangen,
die nach den Blumen langen!

[August Kopisch]

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Im Wald und auf der Heide

Rätsel

Der arme Tropf,
hat ein Hut und kein Kopf
und hat dazu
nur ein Fuß und kein Schuh!

Eichhörnchen
Eichhörnchen auf dem Tannengipfel,
es lugt hinauf, es lugt hinunter;
da wiegen sich im Wind die Wipfel,
auf einmal wird Eichhörnchen munter:
        und geschwind
        wie der Wind
schwingt es sich droben im luftigen Raum,
springt es hinüber zum andern Baum.
Von Zweig zu Zweig, von Ast zu Ast
        hüpft es
und schlüpft es
in fröhlicher Hast. -
        Nun sitzt es wieder
        zusammengeduckt,
        wiegt auf und nieder
        sein Köpfchen und guckt.
Schaukelt sich hin und schaukelt sich her,
schaukelt und gaukelt die Kreuz und die Quer.
Doch jetzt auf einmal hält es still
wie eins, das sich besinnen will;
und wieder klettert's flink und munter
den Baum hinauf, den Baum hinunter.
Einen Augenblick, weg ist's, husch, husch!
Dort sitzt es mitten im Haselbusch
und hält mit seinen niedlichen Füßchen
als wie mit Händen ein Haselnüßchen,
knarpelt und knuspert und zwickt und zwackt,
bis es die Schale hat aufgeknackt.
Da noch ein Nüßchen und dort noch eins,
nach und nach alle und ganz zuletzt keins.
Keines mehr hier und keines mehr dort,

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also muß Eichhörnchen gleich wieder fort.
        Hop, einen Schwung,
        hopp, einen Sprung
und hurtig geht's in geschlängeltem Lauf
den Eichbaum bis zum Wipfel hinauf.
Da droben ist Eichhörnchens heimliches Haus,
da schlupft es hinein, da guckt es heraus.
Und schaut geborgen in guter Ruh
da drunten dem Jägerburschen zu,
wie er die Büchse so ladet und spannt
und er listig lauscht und lauert
und neben ihn der Hund sich kauert,
bis Hirsch und Rehbock kommen gerannt.
Doch springt auch nur daher ein Hase,
Eichhörnchen hält gar gute Wacht,
und wirft dem Jäger auf die Nase
ne Eichel, eh die Büchse kracht.
Und wenn's auch fürchtig blitzt und knallt,
geht doch der ganze Schuß daneben. -
Eichhörnchen, Eichhörnchen im grünen Walt,
was führst du für ein lustiges Leben!

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14

Der Holzwurm
Der bunte Finke baut sein Nest
dem schönsten Waldbaum ins Geäst.
"Am Ersten soll die Hochzeit sein !
Der Baum ist mein."

Da kommt ein Mann im Jägerkleid
und misst den Baum, wie hoch, wie breit,
und gräbt dem Stamm ein Zeichen ein :
"Der Baum ist mein."

Ein kleiner Wurm, man sieht ihn kaum,
guckt mit dem Köpflein aus dem Baum
und lacht und spricht ganz leise :"Nein,
der Baum ist mein."
[Rudolf Baumbach]

Rätsel

Da steht was hinter meines Vaters Haus
und reckt eine glühende Zunge heraus.
*
Es ist die wunderschönste Brück,
darüber noch kein Mensch gegangen,
doch ist daran ein seltsam Stück,
daß über ihr die Wasser hangen
und unter ihr die Leute gehen
ganz trocken und sie froh ansehn,
die Schiffe segelnd durch sie ziehn,
die Vögel sie durchfliegen kühn;
doch stehet sie im Sturme fest,
kein Zoll noch Weggeld zahlen läßt.
*
Es ist so zierlich, zart und fein,
könnte keines Schmetterlings Wohnung sein.
Und es faßt doch und hält
schimmernd die ganze Welt.

15

Vom Abend zum Morgen

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Abendlied.
Langsam wird mein Kindchen müde,
leise kommt herbei die Nacht;
stille Wolken gehen am Himmel,
und der Mond ist aufgewacht.

Schaut mit seinen klaren Blicken
in des Kindes Kämmerlein,
streichelt es mit sanften Händen
in den schönsten Traum hinein.

Sandmännchen.
Die Blümelein all schlafen
schon lang im Mondenschein,
sie nicken mit den Köpfchen
auf ihrem Stengelein.
Es rüttelt sich der Blütenbaum,
er säuselt wie im Traum:
Schlafe, schlafe, schlaf du, mein Kindelein!

16

Die Vögelein, sie sangen
so süß im Sonnenschein,
sie sind zur Ruh gegangen
in ihre Nestchen klein;
das Heimchen in dem Ährengrund,
es tut allein sich kund.
Schlafe, schlafe, schlaf du, mein Kindelein!

Sandmännchen kommt geschlichen
und guckt durchs Fensterlein,
ob irgend ein Liebchen
nicht mag zu Bette sein;
und wo es nur ein Kindchen fand,
streut es ins Aug ihm Sand:
Schlafe, schlafe, schlaf du, mein Kindelein!

Sandmännchen aus dem Zimmer!
Es schläft mein Herzchen fein,
es ist gar fest verschlossen
schon sein Guckäugelein.
Es leuchtet morgen mir Willkomm
das Äugelein so fromm.
Schlafe, schlafe, schlaf du, mein Kindelein!

Beim Zubettegehn.
In unserm alten Apfelbaum
hat sich versteckt ein schöner Traum.

Er steigt herab, kommt an die Tür;
geschwind zu Bett! Er will zu dir.

Sieht er dich noch in Strümpfen stehn,
wird sacht er ein Haus weiter gehen.

17

Wiegenlied im Sommer
Vom Berg herabgestiegen
ist nun des Tages Rest;
mein Kind liegt in der Wiegen,
die Vöglein all im Nest;
nur ein ganz klein Singvögelein
ruft weit daher im Dämmerschein:
"Gut Nacht! gut Nacht!
Lieb Kindlein, gute Nacht!"

Das Spielzeug ruht im Schreine,
die Kleider auf der Bank,
ein Mäuslein ganz alleine,
es raschelt noch im Schrank,

und draußen steht der Abendstern
und winkt dem Kind aus weiter Fern:
"Gut Nacht! gut Nacht!
Lieb Kindlein, gute Nacht!"

Die Wiege geht im Gleise,
die Uhr pickt hin und her,
die Fliegen nur ganz leise,
die summen noch daher.
Ihr Fliegen, laßt mein Kind in Ruh!
Was summt ihr ihm so heimlich zu?
"Gut Nacht! gut Nacht!
Lieb Kindlein, gute Nacht!"

Der Vogel und die Sterne,
die Fliegen rings umher,
sie haben mein Kind schon gerne,
die Engel noch viel mehr.
Sie decken's mit den Flügeln zu
und singen leise: "Schlaf in Ruh!
Gut Nacht! gut Nacht!
Lieb Kindlein, gute Nacht!"
[Text: Robert Reinick (1805-1852) ]

18

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Die Ammenuhr.
Der Mond, der scheint;
das Kindlein weint;
die Glock schlägt zwölf;
daß Gott doch allen Kranken helf!

Gott alles weiß,
das Mäuslein beißt,
die Glock schlägt ein,
der Traum spielt auf dem Küssen dein.

Das Nönnchen läut
zur Mettezeit;
die Glock schlägt zwei;
sie gehn ins Chor in einer Reih.

19

Der Wind, der weht;
der Hahn, der kräht;
die Glock schlägt drei;
der Fuhrmann hebt sich von der Streu.

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Der Gaul, der scharrt;
die Stalltür knarrt;
die Glock schlägt vier;
der Kutscher siebt den Haber schier.

Die Schwalbe lacht;
die Sonn erwacht;
die Glock schlägt fünf;
der Wandrer macht sich auf die Strümpf.

Das Huhn gagackt;
die Ente quackt;
die Glock schlägt sechs,
Steh auf, steh auf, du faule Hex!

Zum Becker lauf,
ein Wecklein kauf;
die Glock schlägt sieben;
die Milch tu an das Feuer schieben!

20

Tu Butter nein,
und Zucker fein;
die Glock schlägt acht:
geschwind dem Kind die Supp gebracht!
[Achim von Arnim, Des Knaben Wunderhorn]

Morgenwind
Wenn noch kaum die Hähne krähen,
macht sich auf der Morgenwind,
feget aus mit starkem Wehen
Stadt und Flur und Wald geschwind,

Allen Bäumen in der Runde
schüttelt er die Locken aus,
weckt die Blümlein in dem Grunde,
lockt die Lerch' ins Tal hinaus.

Nebel, die an Bergen hangen,
jagt er ohne Gnade fort.
Kommt Frau Sonne dann gegangen,
find't sie sauber jeden Ort.

Will sie bei dem treuen Winde
sich bedanken in Person,
ist er, daß ihn keiner finde,
über alle Berge schon.
[Text: Paul Heyse]

Morgenlied.
Steht auf ihr lieben Kinderlein,
der Morgenstern mit hellem Schein
läßt sich sehn frei gleich wie ein Held,
und leuchtet in die ganze Welt.

Sei willkommen, du lieber Tag,
vor dir die Nacht nicht bleiben mag,
Leucht uns in unsre Herzen fein
mit deinem himmlischen Schein.
[Achim von Arnim, Des Knaben Wunderhorn]

21

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Herbst
Da steigt der Herbst frisch von den Bergen nieder!
Und wie er wandert durch den grünen Wald,
gefällt's ihm nicht, daß überall das Laub
dieselbe Farbe hat; er sagt: "Viel hübscher
ist`s rot und gelb, das sieht sich lustig an."
So spricht er, und gleich färbt der Wald sich bunt.
Und wie der Herbst drauf durch den Garten geht
und durch den Weinberg, spricht er: "Was ist das?
Der Sommer tat so groß mit seiner Hitze,
und Wein und Obst hat er nicht reif gemacht?
Schon gut, so zeig ich, daß ich's auch versteh!"
Und kaum gesagt, so haucht er Wein und Obst
mit seinem Atem an, und siehe da!
Die Äpfel und die Pflaumen und die Trauben,
zusehends reifen sie voll Duft und Saft.
Drauf kommt der Herbst zur Stadt und sieht die Knaben
in ihrer Schule sitzen voller Fleiß.
Da ruft er ihnen zu, "Grüß Gott ihr Buben!

22

Heut ist Sankt Michaelistag, da gibt
es lange Ferien. Kommt zu mir aufs Land!
Ich hab dem Wald sein Laub schön bunt geblasen,
ich hab dem Apfel rot gefärbt die Backen;
ich will euch klar und blank die Augen wehen,
und Eure Backen will ich tüchtig bräunen,
wie sich's für Buben schickt. Versteht ihr mich?"
So spricht der Herbst und jubelnd ziehn die Knaben
auf seinen Ruf durch Berg und Wald und Feld
und kehren heim mit neuer Lust zur Arbeit.
[Robert Reinik]

Einkehr
Bei einem Wirte wundermild,
da war ich jüngst zu Gaste;
ein goldner Apfel war sein Schild
an einem langen Aste.

Es war der gute Apfelbaum
bei dem ich eingekehret;
mit süßer Kost und frischem Schaum
hat er mich wohl genähret.

Es kamen in sein grünes Haus
viel leichtbeschwingte Gäste;
sie sprangen frei und hielten Schmaus
und sangen auf das Beste.

Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
auf weichen grünen Matten;
der Wirt, er deckte selbst mich zu
mit seinem kühlen Schatten.

Nun fragt ich nach der Schuldigkeit,
da schüttelt' er den Wipfel;
gesegnet sei er allezeit
von der Wurzel bis zum Gipfel!
[Ludwig Uhland, um 1817/18]

23

Das Liedlein vom Kirschbaum
Zum Frühling sagt der liebe Gott:
"Geh, deck dem Wurm auch seinen Tisch!"
Gleich treibt der Kirschbaum Laub um Laub,
viel tausend Blätter grün und frisch.

Das Würrnchen ist im Ei erwacht,
es schlief in seinem Winterhaus;
es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf
und reibt die blöden Augen aus.

Und darauf hat's mit stillem Zahn
an seinen Blätterchen genagt;
es sagt: "Man kann nicht weg davon;
was solch Gemüs' mir doch behagt!"-

Und wieder sagt der liebe Gott:
"Deck jetzt dem Bienchen seinen Tisch!"
Da treibt der Kirschbaum Blüt an Blüt,
viel tausend Blüten weiß und frisch.

Und's Bienchen sieht es in der Früh
im Morgensonnenschein und fliegt heran
und denkt: Das wird mein Kaffee sein;
was ist das kostbar Porzellan!

Wie sind die Täßchen rein gespült!"
Es steckt sein Züngelchen hinein,
es trinkt und sagt: Wie schmeckt das süß!
Da muß der Zucker wohlfeil sein!"

Zum Sommer sagt der liebe Gott:
"Geh, deck dem Spatzen seinen Tisch!"
Da treibt der Kirschbaum Frucht an Frucht,
viel tausend Kirschen rot und frisch.

24

Und Spätzchen sagt: "Ist's so gemeint?
ich setz' mich hin, ich hab' App'tit,
das gibt mir Kraft in Mark und Bein,
stärkt mir die Stimm zu neuem Lied."-

Da sagt zum Herbst der liebe Gott:
"Räum fort, sie haben abgespeist!"
Drauf hat die Bergluft kühl geweht,
und 's hat ein bissel Reif geeist.

Die Blätter werden gelb und rot,
eins nach dem andern fällt schon ab,
und was vom Boden stieg hinauf,
zum Boden muß es auch herab.

Zum Winter sagt der liebe Gott:
"Jetzt deck, was übrig ist, mir zu!"
Da streut der Winter Flocken drauf.
[nun danket Gott und geht zur Ruh'!]
[Johann Peter Hebe]

Lied von den grünen Sommervögeln

Es kamen grüne Vögelein
geflogen her vom Himmel
und setzten sich im Sonnenschein
im fröhlichen Gewimmel
all an des Baumes Äste
und saßen da so feste,
als ob sie angewachsen sei'n.

Sie schaukelten in Lüften lau
auf ihren schwanken Zweigen;
sie aßen Licht und tranken Tau
und wollten auch nicht schweigen;
sie sangen leise, leise,
auf ihre stille Weise
von Sonneschein und Himmelblau.

25

Wenn Wetternacht auf Wolken saß,
so schwirrten sie erschrocken;
sie wurden von dem Regen naß
und wurden wieder trocken;
die Tropfen rannen nieder
vom grünenden Gefieder,
und desto grüner wurde das.

Da kam am Tag der scharfe Strahl,
ihr grünes Kleid zu sengen,
und nächtlich kam der Frost einmal,
mit Reif es zu besprengen.
Die armen Vöglein froren,
ihr Frohsinn war verloren,
ihr grünes Kleid ward bunt und fahl.

Da trat ein starker Mann zum Baum
und hub ihn an zu schütteln,
vom obern bis zum untern Raum
mit Schauer zu durchrütteln;
die bunten Vöglein girrten
und auseinander schwirrten;
wohin sie flogen, weiß man kaum.
[Friedrich Rückert]


Sturmnacht
Hei! wie der Wind im Schornstein geigt!
Wie er um die Ecke streicht!
Wie er rüttelt an Türen und Scheiben!
Muß aber dennoch draußen bleiben.
Jag doch doch deine Wolken, Wind!
Im Bette liegt mein liebstes Kind,
das darfst du nicht erschrecken.

Der gute Mond auf seiner Bahn
sieht lächelnd sich das Treiben an.
Das aber will dem Wind nicht passen;
er faßt der Wolken, soviel er kann fassen,


26


und wirft sie dem Monde ins Gesicht.
Da löscht der Mond geschwind sein Licht,
da tobt der Wind im Dunkeln.

Huiii! wie der Wind im Schornstein geigt!
Wie er um die Ecke streicht!
Wie er rüttelt an Türen und Scheiben!
Muß aber dennoch draußen bleiben.
Jag doch doch deine Wolken, Wind!
Im Bette liegt mein liebstes Kind,
und willst du es erschrecken,
verkriecht sich's unter Decken.
[Emil Weber]


Kein trockenes Fleckchen im Garten mehr
Kein trockenes Fleckchen im Garten mehr,
und düster ist's in den Stuben.
Da sitzen am Fenster und langweilen sich sehr
die Mädel und die Buben.
Der Regen trommelt ans Fensterglas;
der Regen füllt das Regenfaß -
Wer sonst nichts lernt, der lernt doch das:
Wenn's regnet wird es naß.

Die Mädel und Buben schauen hinaus:
Wann kommt die Sonne wieder?
Dem armen Storch auf dem Nachbarhaus
verregnen Nest und Gefieder.
Kein Vogel, der die Luft durchmißt;
verschwunden die Falter, die vielen.
Nun weiß man erst, wie schön es ist,
im Sonnenschein zu spielen!

Kein trockenes Fleckchen im Garten mehr,
und düster ist's in den Stuben.
Es sitzen am Fenster und langweilen sich sehr
die Mädel und die Buben.
Der Regen trommelt ans Fensterglas;
der Regen füllt das Regenfaß -
Wer sonst nichtts lleeernt, der lernt doch das:
Wenn's regnet wird es naß.
[Emil Weber]

27

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Rätselecke

Hoppedihopp hat Laub getragen,
Hoppedihopp trägt's nimmermehr,
Hoppedihopp trägt Leib und Seel.

*

Verfertigt ist's vor langer Zeit,
doch meistenteils gemacht erst heut;
sehr schätzbar ist es seinem Herrn,
und dennoch hütet's niemand gern.

*

Ein braunes Hundchen geht alle Tage durch die Stube
und schnüffelt alle Ecken aus.

*

Der Herr von Bohnika
kommt aus Amerika;
dann geht er nach Brandenburg,
von Brandenburg nach Mühlheim;
dann kommt er aufs Wasser;
drauf fährt er mit Extrapost
von da nach Leipzig.

27

Sage mir, Kindchen,
wo ist das zu schaun:
es bellt ein rot Hündchen
durch 'nen knöchernen Zaun?

[Georg Scherer]

*

Ich schäme mich, meinen großen Rachen
wie einen Schnabel aufzumachen.
Leder, Leinwand und Papier,
das alles freß ich mit Begier.
Mich braucht Gelahrt und Ungelahrt.
Rat es recht,
oder ich beiße dich in den Bart.

*

Es geht nicht, dann geht es,
Es steht nicht, dann steht es,
Es frißt nicht, dann frißt es,
Es beißt nicht, dann beißt es.
Aber, wenn ich will, Rat, wer's kann !

*

Federn hat's, doch fliegt es nicht,
Beine hat's und läuft doch nicht.
Immer steht es mäuschenstill,
weil es nichts als Ruhe will.

*

Zu einem Loch schlüpft man hinein,
zu dreien wieder heraus.
Wer von euch mag so pfiffig sein,
daß er's gleich bringt heraus?
Besinnt nicht lang euch her und hin -
ihr steckt ja alle selber drin.

*

Ich bin am dunkelsten, wenn es am hellsten ist,
am wärmsten, wenn es am kältesten ist,
am kältesten, wenn es am wärmsten ist.

29

Ein Baum hat zwölf Äste,
Und jeder Ast hat vier Nester,
in jedem Nest sind sieben Junge.

*

Wir Brüder, ihrer mehr als dreißig,
vom Morgen bis zum Abend fleißig,
wir treiben emsig dies und das
und alles unter deiner Nas.
Bald singen wir,bald sprechen wir,
bald schlingen wir, bald zechen wir.
Machst du vergnügt uns auf das Haus,
so lachen wir zum Fenster raus
und stehn in Front im weißen Rock
Zu ebner Erd, im ersten Stock.
Ist einer krank, zuck dir sein Weh
vom Kopf hinab bis zu der Zeh,
und geht dann einer von uns fort,
sst dir's doch allemal ein Tort.
Drum glücklich, wenn wir sind gesund
einhundert Jahr und eine Stund.
[FriedrichGüll]

*

Hinten und vorn krumm geraten
Und recht schön in der Butter gebraten,
Und schreibt man das mit drei Buchstaben?

[Bild]

Klimpermann und Klappermann
liefen beide den Berg hina.,
Klappermann lief noch so sehr,
Klimpermann kam doch noch eher.

*

30

Zwei Köpfe und zwei Arme,
sechs Füße, zehn Zehen:
wie soll ich das verstehen?

*

Es liegt darnieder hat hundert Glieder
als wie gebrochen, und keine Knochen.

*

Zwei kleine mit zwei großen
laufen auf allen Straßen;
laufen die großen noch so sehr,
die kleinen kommen doch noch eher.

*

Wie wohl das Par heißt? sie tun es zusammen
Er schlägt und sie beißt; in Gluten und Flammen

*

Auf ihren Köpfen stehen sie
und recken in die Höh die Zeh.
Mit dir spazieren sie
im Sommerklee, im Winterschnee.
[FriedrichGüll]

*

Es sind viele, viele Brüder,
einer gibt dem andern zu trinken,
der letzte läßt's fallen.

*

Spiegel blink, Spiegel blank
geht die ganze Straß entlang.

*

Ich wandle mit dir Tag und Nacht
im Sonnen- und im Mondenschein.
Auf leichten Sohlen schleich ich sacht
bald vor dir her, bald hintendrein:
hinab ins Tal, hinan den Berg,
bald wie ein Ries', bald wie ein Zwerg..
[FriedrichGüll]

31

Die Rätsel der Elfen

Die Elfen sitzen im Felsenschacht,
vertreiben mit Reden die lange Nacht.

Sie legen sich lustig Rätsel vor,
die, wenn sie nicht Gold sind, doch klingen im Ohr.

Und wie ein Windzug dazwischen geht,
so sind samt der Elfen die Rätsel verweht. -

Welch Gold entstammt dem Erdschacht nicht?
Ich hörte vom goldenem Sonnenlicht.

Wer borgt sein Silber von fremdem Gold?
Der Mond, der ob unsern Häuptern rollt.

Wo quillt die Trän aus härtester Brust?
Der Quell im Fels ist mir wohl bewußt.

Wo strömt ein Strom, da kein Strombett ist?
Der Regenstrom, der in Lüften fließt.

Wo ist auf dem Fluß die breiteste Brück?
Das Eis ist gebaut aus einen Stück.

Die Flut, die im stetesten Takt sich bewegt?
Das Blut, daß im Herzen des Menschen schlägt.

Wer trauert in seinem buntesten Kleid?
Das ist der Baum zu des Herbstes Zeit.

Wer hat tausend Augen und sieht sie nicht?
Der Strauch, der sie treibt und weiß es nicht.

Wer sah nie von innen sein eigenes Haus?
Die Schnecke - und kommt doch niemals heraus.

Wo hat man den Kleinsten zum König gemacht?
Der Zaunkönig wird ausgelacht.

Wo tritt der Schwache den Starken nieder?
Den Erdboden des Menschen Glieder.

32

Was ist stärker als der Erdengrund?
Das Eisen, dass es macht ihn wund.

Was ist stärker als Eisen und Stahl?
Das Feuer schmelzt sie allzumal.

Was ist stärker als Feuersglut?
Die feuerlöschende Wasserflut.

Was ist stärker als Flut im Meer?
Der Wind, der sie treibt hin und her.

Und was ist stärker als Wind und Luft?
der Donner; sie zittern, wenn er ruft.

Wer ist mächtiger als der Tod?
Wer da kann lachen, wenn er droht.

Und wer, wenn die Erde bebt, kann stehn?
Wer nicht fürchtet unterzugehn.

Warum fließt das Wasser den Berg nicht hinauf?
Weil's bergunter hat leichteren Lauf.

Warum trägt Kürbse der Eichbaum nicht?
Daß sie dir nicht fallen aufs Angesicht.

Wozu hat der Gaul viel Füße empfahn?
Damit er mit vieren stolpern kann.

Und warum sind die Fische stumm?
Weil sie sonst würden reden dumm.

Wer löset alle Rätsel auf?
Wer immer was weiß, was sich reimet drauf.

Und warum schweig ich jetzo still?
Weil ich nichts weiter hören will.
[Friedrich Rückert]


[Bild]

33

Der Winter ist ein rechter Mann

[Bild]

Ein Lied, hinterm Ofen zu singen

Der Winter ist ein rechter Mann,
kernfest und auf die Dauer;
sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an;
er scheut nicht süß noch sauer.

34

War je ein Mann gesund wie er?
Er krankt und kränkelt nimmer;
er trotzt der Kälte wie ein Bär
und schläft im kalten Zimmer.

Er zieht sein Hemd im freien an
und läßt´s vorher nicht wärmen;
und spottet über Fluß im Zahn
und Kolik in Gedärmen.

Aus Blumen und aus Vogelsang
weiß er sich nichts zu machen,
haßt warmen Trank und warmen Klang
und alle warmen Sachen.

Doch wenn die Füchse bellen sehr,
wenn´s Holz im Ofen knittert,
und an dem Ofen Knecht und Herr
die Hände reibt und zittert,

wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
und Teich und Zehen krachen:
das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
dann will er tot sich lachen.

Sein Schloß von Eis liegt weit hinaus
beim Nordpol an dem Strande;
doch hat er auch ein Sommerhaus
im lieben Schweizerlande.

Da ist er denn bald dort, bald hier,
gut Regiment zu führen,
und wenn er durchzieht, stehen wir
und sehn ihm nach und frieren.
[Matthias Claudius]

35

Rätsel.

Es geht eine Brücke über den Bach;
sie ist gewirkt in einer Nacht,
kein König hätt das je gedacht!
Kommen zwei die Brücke brechen:
kein Wort sie sprechen;
den einen sah man, hört ihn nicht,
den anderen hört man, sah ihn nicht.

Ganz allein.

Ich bin ganz allein in Hause,
Mutter ging zum Weihnachtsmann!
Hat ihm viel heut zu erzälen,
was sie mir nicht sagen kann.

Kätzchen schläft beim warmen Ofen,
und es träumt und schnarcht und spinnt,
leise tickt die alte Wanduhr,
und ich wieg mein Puppenkind.

Langsam sinkt die Nacht vom Himmel,
da erglänzt der erste Stern. --
Peitschen knallen, Mädchen singen,
Räder rollen in der Fern.

Drüben auf der andern Seite
unsrer Straße steht ein Haus,
darin stöhnen Dampfmaschinen,
Menschen gehen ein und aus.

Aus dem hohen Schornstein fliegen
helle Funken in die Nacht. --
Ei, wer kommt? -- Es ist die Mutter!
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --- ---- -- -- -- --
Hast Du mir was mitgebracht?

36

Christkindleins getreuer Knecht.

Von grünen Tannen dicht umstellt,
liegt still ein Haus am End der Welt.
Darinnen haust auf seine Art
ein alter Mann mit langem Bart.
Wenn's Winter wird, da gibt's zu tun;
nicht mal am Abend kann er ruhn.
Und wenn's die ersten Flocken schneit,
dann schmunzelt er: Bald ist's so weit.
Und eines Abends schwebt ganz sacht
ein Engel nieder durch die Nacht.
Er schwebt, umglänzt von goldnem Schein,
aufs Häuschen zu und geht hinein.
"He Alter!" ruft er, "sei bereit;
Dezember ist's und Weihnachtszeit!"
Der Alte streicht den langen Bart
und spricht: "Ich bin bereit zur Fahrt."
Längst fertig sind die Sachen all,
der Esel wartet schon im Stall.
Der gute Graue, dick vom Ruh'n
bekommt nun tüchtig was zu tun.
Zwei große Säcke, bis zum Rand
gefüllt, so geht's ins Menschenland.
Drei Tage drauf klopft's bei euch an;
du kriegst 'nen Schreck: -- der Weihnachtsmann!
[Emil Weber]

Pelzemärtel.

Es wird schon finster um und um.
Der Pelzemärtel geht herum,
und sucht nun auf die Kinder.
Da will ich sehen, wie's euch geht,
wenn er vor unsrer Türe steht
und schaut ins Eck so hinter!

Doch seid nicht bang und nicht besorgt,
ihr habt ja immer gern gehorcht,


37

das soll euch nicht gereuen!
Stellt euch nur um den Vater her,
und brummt er wie ein alter Bär,
Es wird euch doch erfreuen!

Doch horcht! Was schlürft denn vor dem Haus?
Ich meine gar, jetzt ist er drauß'
und streift sich ab die Füße.
Da hör ich so ein Knick und Knack!
Das ist bestimmt der weite Sack
voll großer, weißer Nüsse!

Es schellt und gellt, das Haus geht auf.
Er geht die Stiege schon herauf
mit seinen großen Socken.
Das kollert und bollert -
und stolpert;
doch seid nur nicht erschrocken!

Die Kinder schauen
voll Angst und Grauen,
und wagen keinen Schnauf.
Pelzmärtel trappt,
die Klinke schnappt,
die Stubentür geht auf!

Da steht er denn im Zottelrock
mit einem ungeheuren Stock,
und hat von fürchterlicher Art
gar einen langen, langen Bart!

Schleppt auch zwei Säcke mit sich her,
den einen voll, den andren leer,
der ist geschnallt an seinen Gurt.
Jetzt aber murmelt er und schnurrt:

"Weil in die Stuben ich zu dir komm,
sag', sind die Buben auch brav und fromm?" -

"Kann sie loben!" -

"Sitzen sie am Schreibetisch,
immer fleißig, immer frisch?
Sitzen sie in ihrer Schul'
droben auf dem ersten Stuhl?" -

"Alle droben!" -

quot;Führen die Mädchen Nadel und Fädchen?
Stricken sie, sticken sie?
Sind sie zu der Arbeit flink
auf der Mutter ersten Wink?
Hören sie in einem fort
auf des Vaters erstes Wort?" -

"Sie hören gerne und gehorchen,
und machen uns nur wenig Sorgen!" -

Plumps! Da tut's einen Fall.
Pumps! Da tut's einen Knall.
Offen ist der große Sack,
und da geht es: Knick, knack, knack!
Und die Nüsse kriegen Füße,
Rudeln und hudeln
da hinaus und dort hinaus,
und wackeln die ganze Stube aus!

Und die Kinder springen hinter
und packen,
und sacken,
und haschen
und klauben
in Taschen und Hauben!

Das freut den Pelzemärtel sehr,
er sagt: "Nun geb' ich Euch noch mehr!"
Und wirft auch noch in jedes Eck
einen großen, großen Märtelsweck',
bestreut mit Zucker und mit Mohn,
Und spricht mit freundlichem Ton:

"Fürchtet Euch nicht vor meinem Gesicht,
bin jedem Kinde gut, das nichts Böses tut!
Gebt mir einen Patsch!
Platsch!
Das freut mich heut, ihr kleinen Leut'!

Nun Kinder, seid mir ja recht fromm,
dann bring ich, wenn ich wiederkomm',
Daß ihr Euch nicht verwundert,
Nüsse, mehr als hundert!
Und einen Weck', so groß wie ich.
Ade ihr Kinder, denkt an mich!"

Nun rollt es, und trollt es,
die Stiegen hinunter,
wollt' einer erschrecken und sich verstecken,
es wär' kein Wunder!

Wer aber brav ist ohn' Unterlaß,
dem ist das alles nur ein Spaß!
Der fürchtet nicht den Zottelrock,
und nicht den ungeheuren Stock!

Der zappelt nicht als wie ein Fisch
und krabbelt nicht gleich untern Tisch!
Der kann sich auf den Märtel freuen,
den alle bösen Kinder scheuen!

[Friedrich Güll]


40

[Bild]

Weihnachten.

Ein Bäumlein grünt im tiefen Tann,
das kaum das Aug erspähen kann;
dort wohnt es in der Wildnis Schoß
und wird gar heimlich schmuck und groß.

Der Jäger achtet nicht darauf,
das Reh springt ihm vorbei im Lauf;
die Sterne nur, die alles sehn,
erschauen auch das Bäumlein schön.

Da, mitten in des Winters Graus,
erglänzt es fromm im Elternhaus.
Wer hat es hin mit einem Mal
getragen über Berg und Tal?

Das hat der heilge Christ getan.
Sieh dir nur recht das Bäumlein an!
Der unsichtbar heut eingekehrt,
hat manches Liebe dir beschert.
[Martin Greif]

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[Bild]

Winterrose.


Es ist ein Ros entsprungen
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen
Von Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter
Wohl zu der halben Nacht

Das Röslein was ich meine
Davon Jesaias sagt:
Hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd
Aus Gottes ew'gen Rat
Hat sie ein Kind geboren
Wohl zu der halben Nacht

[Michael Praetorius nach einem alten Marienliede]

Die heilige Nacht.

Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe mit lockigem Haar,
schlaf in himmlischer Ruh!

Stille Nacht, heilige Nacht!
Hirten erst kund gemacht.
Durch der Engel Halleluja
tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter ist da!

Stille Nacht, heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Lieb aus deinem holdseligen Mund,
da uns schlägt die rettende Stund,
Christ, in deiner Geburt!


[Joseph Mohr]

O du fröhliche Weihnachtszeit!

O du fröhliche, o du selige
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Himmlische Heere
jauchzen dir Ehre:
Freue, freue dich, o Christenheit!
[gekürzt, Johannes Falk]

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Blumensagen

[Bild]

Das Vergißmeinnicht.

Als der liebe Gott die Blumen geschaffen hate, standen sie alle fröhlich da. Sie beschauten vergnügt ihre Füßchen, auf denen sie fest und aufrecht stehen konnten. Dann betrachteten sie ihre grünen Blätter, die so fein und zierlich gestaltet waren, und sie bewegten dieselben im Morgenwinde wie Flügel. Die meiste Freude aber machte ihnen die zierliche Krone, die der Schöpfer jeder Blume aufgesetzt hatte. Der einen malte er das Krönlein weiß, der andern schön blau, einer dritten rot oder gelb. Zuletzt gab er jeder Blume noch einen Namen und wies ihr einen Ort an, wo sie fortan wachsen und blühen sollte.

Nun gingen die Blumen auseinander und freuten sich sehr über ihr schönes, farbiges Kleid und über den Namen, den sie erhalten hatten. Die eine ging in den Garten oder auf die Wiese, andere stellten sich auf das Feld. Viele wanderten in den Wald und stiegen sogar auf den hohen Berg hinauf. So hatten alle Blumen zuletzt ein hübsches

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Plätzchen gefunden und blühten jetzt fröhlich im warmen Sonnenschein. Nur ein Blümchen, klein und zart, mit einer himmelblauen Blüte, stand betrübt am Bache und weinte; denn es hatte seinen Namen vergessen.

Als der Herr am Abend durch Feld und Wiesen ging, um zu sehen, wie es den Blumen ginge, da kam er auch an den Bach und sah das weinende Blümchen. Und er sprach zu ihm: „Warum weinst du?“ Das Blümchen erzählte nun, es sei so froh gewesen über sein schönes Kleidchen; dann habe es mit den Wellen des Baches gespielt und dabei seinen Namen vergessen. - Der Herr sprach: „Mein Blümchen, warum bist du nicht zu mir gekommen? Ich weiß die Namen aller Blumen. Damit du aber weder mich noch deinen Namen wieder vergissest, sollst du von nun an „Vergißmeinnicht“ heißen!“
[Henniger u. Harten]



Die Wegwarte.


Als Gott noch auf Erden wandelte, kam er einmal an ein Haus, aus dem ein stolzes Mädchen herausschaute. Der Durst plagte ihn und er bat um einen Trunk Wasser. Aber spöttisch wies sie ihn von der Tür und sagte: „Troll dich vom Fenster weg, denn ich sehe nach meinem Bräutigam aus und du versperrst mir die Ausicht!" Da warf der Herr einen schmerzlichen Blick gen Himmel und ging zum Nachbarhause weiter. Als aber kurze Zeit darauf der Bräutigam an das Haus des schönen Mädchens kam, fand er sie nicht mehr. Doch vor ihrer Tür am Wege stand eine schlanke, hartstengelige Blume, wie er sie nie zuvor gesehen und schaute ihn gar seltsam traurig mit ihrem blauen Blumenauge an. Das war die hartherzige Jungfrau. Sie muß am Wege warten, bis der Herr der Welt einst wiederkommen und sie erlösen wird, und die Menschen nennen sie Wegwarte.
[Ernst Weber]

Der Tabak.

Den Tabak hat der Teufel erfunden, ...

...

...

...


72

Die Gänsemagd

Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl schon lange Jahre gestorben, und sie hatte eine schöne Tochter. Wie die erwuchs, wurde sie weit über Feld an einen Königssohn versprochen. Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden sollten und das Kind in das fremde Reich abreisen mußte, packte ihr die Alte gar viel köstliches Gerät und Geschmeide ein, Gold und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was nur zu einem königlichen Brautschatz gehörte, denn sie hatte ihr Kind von Herzen lieb. Auch gab sie ihr eine Kammerjungfer bei, welche mitreiten und die Braut in die Hände des Bräutigams überliefern sollte, und jede bekam ein Pferd zur Reise, aber das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen. Wie nun die Abschiedsstunde da war, begab sich die alte Mutter in ihre Schlafkammer, nahm ein Messerlein und schnitt damit in ihre Finger, daß sie bluteten; darauf hielt sie ein weißes Läppchen unter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen, gab sie der Tochter und sprach: "Liebes Kind, verwahre sie wohl, sie werden dir unterwegs not tun."

Also nahmen beide voneinander betrübten Abschied: das Läppchen steckte die Königstochter in ihren Busen vor sich, setzte sich aufs Pferd und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen Durst und sprach zu ihrer Kammerjungfer: "Steig ab, und schöpfe mir mit meinem Becher, den du für mich mitgenommen hast, Wasser aus dem Bache, ich möchte gern einmal trinken." -- "Wenn Ihr Durst habt," sprach die Kammerjungfer, "so steigt selber ab, legt Euch ans Wasser und trinkt, ich mag Eure Magd nicht sein." Da stieg die Königstochter vor großem Durst herunter, neigte sich über das Wasser im Bach und trank, und durfte nicht aus dem goldenen Becher trinken. Da sprach sie: "Ach Gott!" da antworteten die drei Blutstropfen: "Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen." Aber die Königsbraut war demütig, sagte nichts und stieg wieder zu Pferde. So ritten sie etliche Meilen weiter fort, aber der Tag war warm, die Sonne stach, und sie durstete bald von neuem. Da sie nun an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch einmal ihrer Kammerjungfer: "Steig ab und gib mir aus meinem Goldbecher zu trinken;" denn sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die Kammerjungfer sprach aber noch hochmütiger: "Wollt Ihr trinken, so trinkt allein, ich mag nicht Eure Magd sein." Da stieg die Königs=

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tochter hernieder vor großem Durst, legte sich über das fließende Wasser, weinte und sprach: "Ach Gott!" und die Blutstropfen antworteten wiederum: "Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen." Und wie sie so trank und sich recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin die drei Tropfen waren, aus dem Busen und floß mit dem Wasser fort, ohne daß sie es in ihrer großen Angst merkte. Die Kammerjungfer hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Gewalt über die Braut bekäme; denn damit, daß diese die Blutstropfen verloren hatte, war sie schwach und machtlos geworden. Als sie nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada, sagte die Kammerfrau: "Auf Falada gehör ich, und auf meinen Gaul gehörst du"; und das mußte sie sich gefallen lassen. Dann befahl ihr die Kammerfrau mit harten Worten, die königlichen Kleider auszuziehen und ihre schlechten anzulegen, und endlich mußte sie sich unter freiem Himmel verschwören, daß sie am königlichen Hof keinem Menschen etwas davon sprechen wollte; und wenn sie diesen Eid nicht abgelegt hätte, wäre sie auf der Stelle umgebracht worden. Aber Falada sah das alles an und nahm's wohl in acht.

Die Kammerfrau stieg nun auf Falada und die wahre Braut auf das schlechte Roß, und so zogen sie weiter, bis sie endlich in dem königlichen Schloß eintrafen. Da war große Freude über ihre Ankunft, und der Königssohn sprang ihnen entgegen, hob die Kammerfrau vom Pferde und meinte, sie wäre seine Gemahlin; sie ward die Treppe hinaufgeführt, die wahre Königstochter aber mußte unten stehen bleiben. Da schaute der alte König am Fenster und sah sie im Hof halten und sah, wie sie fein war, zart und gar schön; ging alsbald hin ins königliche Gemach und fragte die Braut nach der, die sie bei sich hätte und da unten im Hofe stände, und wer sie wäre. "Die hab ich mir unterwegs mitgenommen zur Gesellschafe; gebt der Magd was zu arbeiten, daß sie nicht müßig stehe." Aber der alte König hatte keine Arbeit für sie und wußte nichts, als daß er sagte: "Da hab ich so einen kleinen Jungen, der hütet die Gänse, dem mag sie helfen." Der Junge hieß Kürdchen (Konrädchen), dem mußte die wahre Braut helfen Gänse hüten.

Bald aber sprach die falsche Braut zu dem jungen König: "Liebster Gemahl, ich bitte Euch, tut mir einen Gefallen." Er antwortete: "Das will ich gerne tun." -- "Nun, so laßt den Schinder rufen und da dem Pferde, worauf ich hergeritten bin, den Hals abhauen, weil es

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mich unterwegs geärgert hat." Eigentlich aber fürchtete sie, daß das Pferd sprechen möchte, wie sie mit der Königstochter umgegangen war. Nun war das so weit geraten, daß es geschehen und der treue Falada sterben sollte, da kam es auch der rechten Königstochter zu Ohr, und sie versprach dem Schinder heimlich ein Stück Geld, das sie ihm bezahlen wollte, wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiese. In der Stadt war ein großes finsteres Tor, wo sie abends und morgens mit den Gänsen durch mußte, unter das finstere Tor möchte er dem Falada seinen Kopf hinnageln, daß sie ihn doch noch mehr als einmal sehen könnte. Also versprach das der Schinderknecht zu tun, hieb den Kopf ab und nagelte ihn unter das finstere Tor fest.

Des Morgens früh, da sie und Kürdchen unterm Tor hinaustrieben, sprach sie im Vorbeigehen:

da antwortete der Kopf: Da zog sie still weiter zur Stadt hinaus, und sie trieben die Gänse aufs Feld. Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß sie nieder und machte ihre Haare auf, die waren eitel Gold, und Kürdchen sah sie und freute sich, wie sie und wollte ihr ein paar ausraufen. Da sprach sie: Und da kam ein so starker Wind, daß er dem Kürdchen sein Hütchen wegwehte über alle Land, und es mußte ihm nachlaufen. Bis es wiederkam, war sie mit dem Kämmen und Aufsetzen fertig, und er konnte keine Haare kriegen. Da war Kürdchen bös und sprach nicht mit ihr; und so hüteten sie die Gänse, bis daß es Abend ward, dann gingen sie nach Haus.
Den andern Morgen, wie sie unter dem finstern Tor hinaustrieben, sprach die Jungfrau:

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Falada antwortete: Und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an, ihr Haar auszukämmen, und Kürdchen lief und wollte danach greifen, da sprach sie schnell: Da wehte der Wind und wehte ihm das Hütchen vom Kopf weit weg, daß Kürdchen nachlaufen mußte; und als es wiederkam, hatte sie längst ihr Haar zurecht, und es konnte keins davon erwischen; und so hüteten sie die Gänse, bis es Abend ward.
Abends aber, nachdem sie heim gekommen waren, ging Kürdchen vor den alten König und sagte: "Mit dem Mädchen will ich nicht länger Gänse hüten." -- "Warum denn?" fragte der alte König. "Ei, das ärgert mich den ganzen Tag." Da befahl ihm der alte König zu erzählen, wies ihm denn mit ihr ginge. Da sagte Kürdchen: "Morgens, wenn wir unter dem finsteren Tor mit der Herde durchkommen, so ist da ein Gaulskopf an der Wand, zu dem redet sie da antwortet der Kopf Und so erzählte Kürdchen weiter, was auf der Gänsewiese geschähe, und wie es da dem Hut im Winde nachlaufen müßte.
Der alte König befahl ihm, den nächsten Tag wieder hinauszutreiben, und er selbst, wie es Morgen war, setzte sich hinter das finstere Tor und hörte da, wie sie mit dem Haupt des Falada sprach; und dann ging er ihr auch nach in das Feld und barg sich in einem Busch auf der Wiese. Da sah er nun bald mit seinen eigenen Augen, wie die Gänsemagd und der Gänsejunge die Herde getrieben brachte, und wie nach einer Weile sie sich setzte und ihre Haare losflocht, die strahlten von Glanz. Gleich sprach sie wieder:

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Da kam ein Windstoß und fuhr mit Kürdchens Hut weg, daß es weit zu laufen hatte, und die Magd kämmte und flocht ihre Locken still fort, welches der alte König alles beobachtete. Darauf ging er unbemerkt zurück, und als abends die Gänsemagd heim kam, rief er sie beiseite und fragte, warum sie dem allem so tät? "Das darf ich Euch nicht sagen, und darf auch keinem Menschen mein Leid klagen, denn so hab ich mich unter freiem Himmel verschworen, weil ich sonst um mein Leben gekommen wäre." Er drang in sie und ließ ihr keinen Frieden, aber er konnte nichts aus ihr herausbringen. Da sprach er: "Wenn du mir nichts sagen willst, so klag dem Eisenofen da dein Leid," und ging fort. Da kroch sie in den Eisenofen, fing an zu jammern und zu weinen, schüttete ihr Herz aus und sprach: "Da sitze ich nun von aller Welt verlassen, und bin doch eine Königstochter, und eine falsche Kammerjungfer hat mich mit Gewalt dahingebracht, daß ich meine königlichen Kleider habe ablegen müssen, und hat meinen Platz bei meinem Bräutigam eingenommen, und ich muß als Gänsemagd gemeine Dienste tun. Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leib tät ihr zerspringen." Der alte König stand aber außen an der Ofenröhre, lauerte ihr zu und hörte, was sie sprach. Da kam er wieder herein und hieß sie aus dem Ofen gehen. Da wurden ihr königliche Kleider angetan, und es schien ein Wunder, wie sie so schön war. Der alte König rief seinen Sohn und offenbarte ihm, daß er die falsche Braut hätte: die wäre bloß ein Kammermädchen, die wahre aber stände hier, als die gewesene Gänsemagd. Der junge König war herzensfroh, als er ihre Schönheit und Tugend erblickte, und ein großes Mahl wurde angestellt, zu dem alle Leute und guten Freunde gebeten wurden. Obenan saß der Bräutigam, die Königstochter zur einen Seite und die Kammerjungfer zur andern, aber die Kammerjungfer war verblendet und erkannte jene nicht mehr in dem glänzenden Schmuck. Als sie nun gegessen und getrunken hatten und gutes Muts waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Rätsel auf, was eine solche wert wäre, die den Herrn so und so betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte: "Welches Urteils ist diese würdig?" Da sprach die

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falsche Braut: "Die ist nichts Besseres wert, als daß sie splitternackt ausgezogen und in ein Faß gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist; und zwei weiße Pferde müssen vorgespannt werden, die sie Gasse auf, Gasse ab zu Tode schleifen." -- "Das bist du," sprach der alte Köl;nig, "und hast dein eigen Urteil gefunden, und danach soll dir widerfahren." Und als das Urteil vollzogen war, vermählte sich der junge König mit seiner rechten Gemahlin, und beide beherrschten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.
[Brüder Grimm]


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