Erst im Nachhinein mag ihr klar werden, was sie hier „ganz automatisch“
getan hat. Sie beginnt dann vielleicht damit, ihr Kind zurechtzuweisen,
sich selbst Vorwürfe zu machen usw. Wichtiger als diese Denkarbeit aber
war die Aktion, die Handlung.
Könnte man die Gehirnströme dieser Frau beobachten, so käme wohl
abermals zutage, daß vorher die Impulse zur Bewegung da sind, und erst
danach das gedankliche Bewußtsein über die Aktion folgt.
Betrachtet man jedoch den gesamten Menschen, also nicht nur seinen
Körper bzw. sein Gehirn, dann zeigt sich ein umfassenderes Bild: Der
geistige Entschluß zur Handlung geht immer voran. Doch dieser
Willensakt ist immateriell und damit nicht direkt, sondern erst in
seinen späteren gedanklichen Auswirkungen meßbar. Die körperliche
Aktion beziehungsweise danach die bewußten Gedanken folgen also dem
Entschluß genau so, wie wir es ja auch subjektiv erleben.
Unser freier Wille hat also seinen Sitz im Geist. Er ist Ausdruck unserer
Geistigkeit. Doch im täglichen Leben ist dieser Wille eingesponnen in
das Wirken des Verstandes, der seinerseits nicht nur Impulse aus dem
Geistigen, sondern auch aus dem Körperlichen verarbeitet
Sinneseindrücke, Gefühle, lebenserhaltende Triebe.
Daher spiegeln sich in unseren Gedanken bzw. im Tagbewußtsein nicht nur
die aus dem Geiste geborenen Willensakte, sondern vor allem auch die
Ergebnisse des Verstandeswirkens: „Jetzt möchte ich etwas essen“,
werden zum Beispiel die körperlichen Hungerimpulse in Klartext
übersetzt. Oder: „Diese Frau finde ich aufregend!“ Oder: „Weil fünf mal
vier zwanzig ist, ist auch vier mal fünf zwanzig!“
Leider haben sich heute sehr viele Menschen weitgehend verfangen in der
vom Verstand geprägten Gedankenwelt, sie sind getrieben von
Vorstellungen und Vorbehalten, Erfahrungen und Begierden sowie
festgelegten Routinen. Diese Abhängigkeit vom eigenen Körper ist ihnen
oft nicht bewußt, aber sie führt dazu, daß ihr an sich freier Wille zu
einem abhängigen, also gebundenen Willen wurde. Und wenn Psychologen
beobachten, wie sehr Menschen durch ihre Erlebnisse und Gedankenwelten
„gesteuert“ sind, so sollte es nicht verwundern, wenn sie die Existenz
eines freien Willens in Zweifel ziehen.
Doch dieses im Grunde traurige Sich-Ergeben in das eigene
Verstandeswollen, das dem Schweineschnitzel, dem Nikotinkonsum oder dem
Geplänkel mit dem Nachbarn Vorrang gegenüber dem Sinnvollen gewährt,
müßte nicht sein.
Der gebundene Wille kann, wenn auch vielleicht nur mit großer Mühe,
wieder befreit werden und im Hinblick auf unsere Verantwortung, die
wir als Menschen zu tragen haben, sollten selbstauferlegte Grenzen nach
dem Motto: „So bin ich halt, so ist es halt“ möglichst überwunden
werden.
Unser freier Wille bietet uns die großartige Möglichkeit, das eigene „Lebensschiff“ in die gewünschte Richtung zu steuern. Doch diese Fähigkeit des Entschlusses hat auch eine Kehrseite, die untrennbar zu ihr gehört, nämlich die Verantwortung. Das bedeutet: Wir sind frei in der Wahl, doch die Folgen dessen, wozu wir uns entschließen, haben wir zu tragen. Mit jedem Entschluß prägen wir Menschen ein Stück Wirklichkeit, und im Gesetz der Wechselwirkung antwortet das Leben auf das, was wir wollen, denken, tun. „Verantworten“ bedeutet demnach: die Antwort des Lebens erfahren, mit ihr umgehen, sie verwerten, durchleben müssen. Der Begriff „Verantwortung“ ist also alles andere als jene hohle Worthülse, zu der er heute etwa in politischen Sonntagsreden oft degradiert wird. Richard Steinpach beschreibt in seinem Buch „Weshalb Gott das alles zuläßt“ (Verlag der Stiftung Gralsbotschaft, Stuttgart, 1991) den Zusammenhang zwischen unserem freien Willen und den Folgen, an die wir jeweils gebunden sind, mit dem wahrscheinlich einfachsten aller möglichen Gleichnisse: „Nehmen wir an, Sie kommen aus dem Haus und gehen nach links. Sie haben damit die Möglichkeit, die Richtung Ihres Weges zu bestimmen, genützt. Fällt Ihnen dann ein, daß Sie besser hätten nach rechts gehen sollen, so hindert Sie nichts, diese neue Entscheidung zu treffen. Das enthebt Sie aber nicht von der Notwendigkeit, die schon nach links gegangene Strecke zurückzugehen. Willensfreiheit und Gebundenheit bestehen also, wie Sie sehen, nebeneinander.“ Daraus folgt zum Beispiel, daß jemand, der einem Mitmenschen Schaden zugefügt hat, diese Tat sühnen muß. Das gehört zu seinem persönlichen Schicksal, das zu bestimmter Zeit einen Ausgleich erzwingt, ohne daß er willentlich etwas dagegen tun kann. Und so wandeln wir alle über unseren ureigenen Schicksalsteppich, oft in der Meinung, den Zwängen des Lebens hilflos ausgeliefert zu sein und ahnen nicht, daß wir die Fäden zu diesem Teppich einst selbst geknüpft haben und unsere Handlungen nun als „handfeste Wirklichkeit“ verantworten müssen. Die Macht des Wollens
Aber selbst im Zwang des Erleidens und Ertragens kann uns die Macht des
Wollens von unschätzbarer Hilfe sein, denn sie zieht wie ein Magnet
gleichartige Kräfte an, ist wie eine Linse, die unsichtbare Strömungen
aus der Schöpfung sammelt und auf Bestimmtes konzentriert. zurück zu Der Wille zur Macht |