Wie frei sind wir wirklich?

Fortsetzung von Teil 1

Erst im Nachhinein mag ihr klar werden, was sie hier „ganz automatisch“ getan hat. Sie beginnt dann vielleicht damit, ihr Kind zurechtzuweisen, sich selbst Vorwürfe zu machen usw. Wichtiger als diese Denkarbeit aber war die Aktion, die Handlung.
Könnte man die Gehirnströme dieser Frau beobachten, so käme wohl abermals zutage, daß vorher die Impulse zur Bewegung da sind, und erst danach das gedankliche Bewußtsein über die Aktion folgt. Betrachtet man jedoch den gesamten Menschen, also nicht nur seinen Körper bzw. sein Gehirn, dann zeigt sich ein umfassenderes Bild: Der geistige Entschluß zur Handlung geht immer voran. Doch dieser Willensakt ist immateriell ­ und damit nicht direkt, sondern erst in seinen späteren gedanklichen Auswirkungen meßbar. Die körperliche Aktion beziehungsweise danach die bewußten Gedanken folgen also dem Entschluß ­ genau so, wie wir es ja auch subjektiv erleben.

Unser freier Wille hat also seinen Sitz im Geist. Er ist Ausdruck unserer Geistigkeit. Doch im täglichen Leben ist dieser Wille eingesponnen in das Wirken des Verstandes, der seinerseits nicht nur Impulse aus dem Geistigen, sondern auch aus dem Körperlichen verarbeitet ­ Sinneseindrücke, Gefühle, lebenserhaltende Triebe. Daher spiegeln sich in unseren Gedanken bzw. im Tagbewußtsein nicht nur die aus dem Geiste geborenen Willensakte, sondern vor allem auch die Ergebnisse des Verstandeswirkens: „Jetzt möchte ich etwas essen“, werden zum Beispiel die körperlichen Hungerimpulse in Klartext übersetzt. Oder: „Diese Frau finde ich aufregend!“ Oder: „Weil fünf mal vier zwanzig ist, ist auch vier mal fünf zwanzig!“

Leider haben sich heute sehr viele Menschen weitgehend verfangen in der vom Verstand geprägten Gedankenwelt, sie sind getrieben von Vorstellungen und Vorbehalten, Erfahrungen und Begierden sowie festgelegten Routinen. Diese Abhängigkeit vom eigenen Körper ist ihnen oft nicht bewußt, aber sie führt dazu, daß ihr an sich freier Wille zu einem abhängigen, also gebundenen Willen wurde. Und wenn Psychologen beobachten, wie sehr Menschen durch ihre Erlebnisse und Gedankenwelten „gesteuert“ sind, so sollte es nicht verwundern, wenn sie die Existenz eines freien Willens in Zweifel ziehen.

Doch dieses im Grunde traurige Sich-Ergeben in das eigene Verstandeswollen, das dem Schweineschnitzel, dem Nikotinkonsum oder dem Geplänkel mit dem Nachbarn Vorrang gegenüber dem Sinnvollen gewährt, müßte nicht sein. Der gebundene Wille kann, wenn auch vielleicht nur mit großer Mühe, wieder befreit werden ­ und im Hinblick auf unsere Verantwortung, die wir als Menschen zu tragen haben, sollten selbstauferlegte Grenzen nach dem Motto: „So bin ich halt, so ist es halt“ möglichst überwunden werden.  
 
Freier Wille und Verantwortung

Unser freier Wille bietet uns die großartige Möglichkeit, das eigene „Lebensschiff“ in die gewünschte Richtung zu steuern. Doch diese Fähigkeit des Entschlusses hat auch eine Kehrseite, die untrennbar zu ihr gehört, nämlich die Verantwortung. Das bedeutet: Wir sind frei in der Wahl, doch die Folgen dessen, wozu wir uns entschließen, haben wir zu tragen. Mit jedem Entschluß prägen wir Menschen ein Stück Wirklichkeit, und im Gesetz der Wechselwirkung antwortet das Leben auf das, was wir wollen, denken, tun. „Verantworten“ bedeutet demnach: die Antwort des Lebens erfahren, mit ihr umgehen, sie verwerten, durchleben müssen. Der Begriff „Verantwortung“ ist also alles andere als jene hohle Worthülse, zu der er heute ­ etwa in politischen Sonntagsreden ­ oft degradiert wird.

Richard Steinpach beschreibt in seinem Buch „Weshalb Gott das alles zuläßt“ (Verlag der Stiftung Gralsbotschaft, Stuttgart, 1991) den Zusammenhang zwischen unserem freien Willen und den Folgen, an die wir jeweils gebunden sind, mit dem wahrscheinlich einfachsten aller möglichen Gleichnisse: „Nehmen wir an, Sie kommen aus dem Haus und gehen nach links. Sie haben damit die Möglichkeit, die Richtung Ihres Weges zu bestimmen, genützt. Fällt Ihnen dann ein, daß Sie besser hätten nach rechts gehen sollen, so hindert Sie nichts, diese neue Entscheidung zu treffen. Das enthebt Sie aber nicht von der Notwendigkeit, die schon nach links gegangene Strecke zurückzugehen. Willensfreiheit und Gebundenheit bestehen also, wie Sie sehen, nebeneinander.“

Daraus folgt zum Beispiel, daß jemand, der einem Mitmenschen Schaden zugefügt hat, diese Tat sühnen muß. Das gehört zu seinem persönlichen Schicksal, das zu bestimmter Zeit einen Ausgleich erzwingt, ohne daß er willentlich etwas dagegen tun kann. Und so wandeln wir alle über unseren ureigenen Schicksalsteppich, oft in der Meinung, den Zwängen des Lebens hilflos ausgeliefert zu sein ­ und ahnen nicht, daß wir die Fäden zu diesem Teppich einst selbst geknüpft haben und unsere Handlungen nun als „handfeste Wirklichkeit“ verantworten müssen.

Die Macht des Wollens

Aber selbst im Zwang des Erleidens und Ertragens kann uns die Macht des Wollens von unschätzbarer Hilfe sein, denn sie zieht wie ein Magnet gleichartige Kräfte an, ist wie eine Linse, die unsichtbare Strömungen aus der Schöpfung sammelt und auf Bestimmtes konzentriert.

Mit der Macht des Wollens könnte uns in kürzester Zeit eine innere Umkehr, ein Aufschwung und Neubeginn gelingen ­ würden wir unseren freien Willen zur Nächstenliebe, Selbstüberwindung, Veredelung und Vervollkommnung betätigen. Aber statt diesen aufbauenden, fördernden Weg des Guten aktiv zu gehen, sind wir heute durchweg daran gewöhnt, uns gehen zu lassen, also in die Passivität, die Geistesträgheit zu versinken. Und deshalb scheinen wir wie hilflose Marionetten in den Fäden unseres Schicksalsnetzes zu baumeln, nach Wohlstand und Genüssen strebend, aber unfrei im Inneren.

Deshalb muß es für die meisten Menschen auch ein Geheimnis verbleiben, welche Macht der unerkannte, nicht betätigte freie Wille in Bezug auf ihr eigenes Schicksal ausüben könnte. Denn in Wirklichkeit sind wir nicht nur im Entschluß frei, sondern können auch mit darüber bestimmen, in welcher Art uns Rückwirkungen früheren Denkens und Handelns treffen.

Ein Übeltäter, der sich zu einer gründlichen inneren Wandlung aufrafft, verändert damit die Schwingung seiner Seelenwelt. Die schicksalhaften Auslösungen, die ihn treffen müssen, finden folglich in ihrer Schwingung keinen gleichartigen Boden. Sie treffen den gebesserten Menschen dadurch nicht mehr in voller Wucht, sondern „streifen“ sein Leben lediglich. Das heißt, er gelangt in eine Situation, die ihm das „Erlebensthema“, das für ihn in der Rückwirkung ansteht, zwar bewußt macht, ihn aber nicht existentiell belastend trifft. Die schicksalhaften üblen Strömungen finden keine ihnen entsprechende Resonanz mehr-­ein ähnlicher Vorgang wie in der Physik, wo man von „Interferenz“ spricht, wenn zwei unterschiedliche Schwingungen aufeinander treffen und sich aufheben, weil Wellenberg und Wellental einander gegenüberstehen.

Mit unseren Willensentschlüssen können wir also bis zu einem bestimmten Grad selbst das beeinflussen, was für uns aufgrund früherer Entscheidungen in der Rückwirkung „vorgesehen“, unabwendbar ist. Somit brauchen wir auch keine Angst vor dem Schicksal zu haben. Bedenken sind immer nur im Hinblick auf uns selbst angebracht ­ denn erfahrungsgemäß leben wir lieber unfrei wie Automaten auf vorgeprägten Schienen dahin, als uns zu wirklicher geistiger Regsamkeit und Eigenständigkeit aufzuraffen.-

Der Schöpfer hat uns das Leben geschenkt, damit wir Bewußtsein entwickeln können. Wir durchleben einen umfassenden Lern- und Reifeprozeß, dürfen Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln, wozu notwendigerweise auch die Möglichkeit gehört, frei und selbstverantwortlich zu entscheiden ­ und Fehler zu machen. Wir sollten uns dieses unermeßlichen Geschenkes, durch Erfahrung Bewußtsein entwickeln zu dürfen, würdig erweisen. Leider aber führen uns Menschen Unverstand und Lebensferne sehr leicht in gedankliche Sackgassen. Man hört dann bisweilen sogar Äußerungen wie: „Gott ist doch schuld, wenn ich Böses tun kann. Er hat mich so erschaffen!“ Es wird klar sein, daß ein solcher Vorwurf undankbar und leichtfertig ist. Man kann nicht leben und bewußt sein wollen, aber zugleich das, was untrennbar zum menschlichen Leben gehört ­ nämlich die Selbstverantwortung ­ ablehnen. Nützen wir die uns geschenkten Möglichkeiten doch einfach zum Guten ­ dann wird auf Dauer die Lebensfreude überwiegen, und wir erfahren ­ ohne viel darüber nachzugrübeln ­ das Wunder des Bewußtwerdendürfens als die unverdiente Gnade, die es ist!

Was „gut“ ist, das empfindet jeder Mensch bis in seine Fingerspitzen. Es ist immer das, was ebenso aufbauend, fördernd, zielorientiert wirkt wie die Gesetze dieser Schöpfung, die ihrerseits der Ausdruck des vollkommenen Gotteswillens sind. Die Lebensgesetze wirken wie ein mächtiger Strom. Wenn wir mit ihm schwimmen, sich also unser eigenes Wollen ebenso aufbauend und gut gestaltet, dann werden wir von ihnen getragen, gefördert, beglückt; schwimmen wir aber gegen den Strom, so erleben wir Widerstand ­ und werden irgendwann zur Umkehr gezwungen, sofern wir nicht auf dem falschen Weg beharren, bis unsere Kräfte erlahmen und wir untergehen müssen.

Die weitreichenden Möglichkeiten, die unsere Willenskraft bietet, sind uns heute, da die Existenz des freien Willens immer häufiger bestritten wird, zumeist nicht einmal im Ansatz bewußt. Leider, denn die Kraft des Wollens ist der Schlüssel zu allen unseren Gedanken und Handlungen, zu Schicksal und Lebensglück.


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