Keine Kunstgattung scheint konservativer als die Oper. Sie sperrt sich
sowohl durch das musikalische Material als auch durch ihren Zweck, der
Erbauung, Selbstverständigung und Selbstvergewisserung des Bürgertums zu
dienen, gegen Neuerungen. Die Oper als Konsumgut des Bürgertums aber war
auch nie frei vom Imperialismus der Warenwelt, der durch die Anpassung an
den Geschmack des Publikums und durch subtile Anpassung an den Zeitgeist
in sie hineinregiert.
Bei der deutschen Oper, einst spät erfunden zum Zwecke der Verdrängung
der als zu leicht und nicht tiefsinnig genug empfundenen italienischen,
legte das Publikum schon im 19. Jahrhundert allerdings nicht nur Wert
darauf, daß am Schluß auch geheiratet werde und sich damit die Tragödie
oder Komödie auch moralisch lohnte, sondern auch darauf, daß deutsches
Wesen ergründet werde.
Beides bieten die "Meistersinger" von Richard Wagner in der neuen
Inszenierung von Harry Kupfer an der Deutschen Staatsoper Unter den
Linden. Das tradierte Gegenspiel von Kultur und Zivilisation, das es den
frühen sich als Deutsch denken wollenden leichter machte, sich ohne Staat
als Nation zu denken, erlaubte der deutschen Nationalkultur des 19.
Jahrhunderts weit unvermitteltere Griffe ins mythische Repertoire als der
ausländischen Konkurrenz.
Richard Wagner ist ein klassisches Beispiel für diese Verschlingung von
nationalistischer Mythologie und marktkonformer Produktion, lohnte sich
für den konformistischen Rebellen und Staatsmusikanten seine Tätigkeit des
Komponierens doch erst dann so richtig, nachdem er sich von seinem
jüdischen Förderer Meyerbeer "emancipirt" und sich gleichzeitig dem
kulturellen Werden des deutschen Staates verschrieben hatte. Da wird der
Antisemitismus leicht zur "normalen Pathologie".
Unter dem Tagungsmotto "Was deutsch und echt ... - Mythos, Utopie,
Perversion" tagte begleitend zur Aufführung und der benachbarten
Ausstellung zu den "Mythen der Nationen" (Jungle World, Nr.14/98) in der
Staatsoper Unter den Linden an drei Tagen der ersten April-Woche ein
wissenschaftliches Symposium. Der Anklang an Richard Wagners
"Meistersinger" im Titel war gewollt, eignet sich doch Wagner wie sein
ungleicher Zwillingsbruder Nietzsche bestens dazu, mythologischen Schwulst
und den für die Oper notwendigen Bezug zum Mythos, utopistische
Bildergewalt und utopischen Gehalt akademisch sauber zu sondieren. Aktuell
ist er allemal: in der Opernwelt jagt als deutsches kulturelles
Exportprodukt von New York über Tokio und verschiedene europäische Städte
eine "Ring"-Inszenierung die andere.
Für das Jahr 2002, pünktlich zum Umzug der letzten
Regierungsabteilungen nach Berlin, muß es dann der komplette Wagner sein.
Auch die deutsche Opernwelt ist nach dem 1989 ausgerufenen "Ende der
Geschichte" von neuer nationaler Sinnsuche erfüllt, und dies in einem
internationalen Kontext. Deutsche Tiefe und deutsches Wesen als neuer
Exportschlager der Außenhandelsmacht Nr. eins in einem Zeitalter der
ökonomischen, politischen und kulturellen Internationalisierung? Da muß
eine Exportbürgschaft her, die beglaubigt, daß Deutsches und Echtes nicht
unbedingt nur reaktionär und rückschrittlich, sondern auch modern und
universal sein kann.
Vernünftig die Forderung, den nationalistischen und antisemitischen
Gehalt Wagnerscher Werke nicht an ihnen alleine und ihrer Genese zu
untersuchen, sondern auch an ihrer Wirkung und Rezeption, wie es Thomas S.
Grey, Musikwissenschaftler an der Stanford University anhand der
Bühnenbilder zu Wagners "Meistersingern" herausstellte. Deutlich wird, daß
bereits bei Wagner, nicht nur in der Rezeption, die Frage, was deutsch
sein soll, auf "Feindseligkeit gegen andere" gegründet ist. Die häufig als
Karikatur des Jüdischen interpretierte Figur des Beckmesser im 3. Akt der
"Meistersinger" sei allerdings nicht antisemitisch, selbst auf dem
Nürnberger Parteitag der NSDAP sei in Leni Riefenstahls Inszenierung der
"Meistersinger" die Figur nicht antisemitisch, d.h. als Jude dargestellt
worden.
Für Nike Wagner, die derzeit in der FAZ die Wagnersche
Familiengeschichte publiziert, dient die deutsche Ideologie bei Wagner
eher als "Gleit-und Schmiermittel", um Geld von Förderern zu akquirieren
und um eigene ästhetische Interessen durchzusetzen. Wagner habe eher auf
deutschen Geist als auf den deutschen Staat gesetzt, er sei ideologisch
einfach ein Opportunist gewesen. Nach der Eröffnung des Nibelungentheaters
in Bayreuth 1876 erst habe sich die ideologisch-nationalistische Grundlage
bei Wagner verselbständigt. Aufklärung wurde bei ihm nun als
Gegen-Aufklärung mit den Mitteln des Mythos betrieben, nur eine
konsequente "Entdeutschung" Wagners nach 1945 habe sein Werk als weiterhin
aufführbar retten können.
Der Theaterwissenschaftler Dieter Borchmeyer wehrte sich am
vehementesten gegen eine weitere Entdeutschung Wagners, dieser müsse
vielmehr als konkreter Utopist und als Neuerer der deutschen Kultur, als
radikaler Gestalter einer "ästhetischen Weltordnung", gerade in den
"Meistersingern" und im "Ring", wieder angeeignet werden. Das
entscheidende Problem für Wagner sei, daß es Politik überhaupt gebe,
behauptete dagegen Udo Bermbach, Politikprofessor in Hamburg. Die
"Meistersinger" forderten eine Ästhetisierung der Politik aus dem
Volksgeist heraus, eine "Gefühlswerdung des Verstandes", das schillere
politisch in den Faschismus hinüber.
Edward W. Said, Orientalist an der Columbia University, wollte statt
dessen den "Diskurs über die Nation" vom Nationalismus trennen und meinte,
Wagner sei mißinterpretiert worden. Seine Frage: "Was ist deutsch?", die
suchend mit Ähnlichkeit und Differenz spiele, sei in der Rezeption
beantwortet worden mit: "Das ist deutsch!" Wagner selber habe allerdings
den Fehler gemacht, ohne Auseinandersetzung mit anderen Kulturen die Frage
nach dem Deutschen gestellt zu haben. Damit habe er die falsche Antwort
auf die Frage präformiert. Eine Hybridität der Kulturen sei mit Wagner
nicht denk- und erfahrbar, dieser sei in Text und Musik
nationalistisch.
In der Abschlußdiskussion des Symposiums war es Edward Said, der die
Unsinnigkeit der Identitätssuche des professoralen Bürgertums - nationale
Identität sei "einfach nötig" (Borchmeyer); die Frage, was deutsch sei,
sei harmlos (Danuser); Gespräch über Nation sei wichtig, Nation als
Selbstwahrnehmung problematisch (Münkler) - aufzeigen konnte. Er habe
viele Identitäten, gerade im Kulturellen sei es widersinnig, weiterhin
eurozentristisch oder gar deutsch-nationalistisch von Nationalkulturen zu
reden. Das Bemühen seiner Kollegen ging in die Gegenrichtung: dem
Nationalen in der Kultur, insbesondere in der Musik, wurde von Borchmeyer,
Daniel Barenboim und Herfried Münkler eine Unbedenklichkeitsbescheinigung
ausgestellt.
Nichtdeutsche Kunst in der Figur des Beckmesser wird der deutschen,
modernen Kunst in Gestalt des Dichter-Schusters Hans Sachs in den
"Meistersingern" gegenübergestellt. Mit dem Arrangement der Schlußszene
plädiert Regisseur Kupfer für die eigene deutsche Kunst im Zeitalter der
Internationalisierung. Kupfer meint, daß die Deutschen es nicht mehr nötig
hätten, sich für die "Meistersinger" zu entschuldigen, der ganze Wagner
soll es sein, da darf der Beckmesser, der Gegenspieler des
modernisierungswilligen Hans Sachs, auch eine krumme, bucklige Gestalt
sein, eine Brille tragen und die Nase eingeschlagen bekommen vom deutschen
Volk, bevor er endgültig aus seinem Kreise ausgestoßen wird und am Ende
alleine vor dem fallenden Vorhang und der Rampe steht.
Deutlich wird, auch musikalisch effektiv untermalt, daß ein neues
geläutertes Deutschland diejenigen ausgrenzen muß und darf, die sich
seiner Erneuerung in den Weg stellen.Gemeckert werden darf eben nicht bei
der Erneuerung der deutschen Kunst, die sich für nichts mehr entschuldigen
muß, weil sie als deutsch und echt gegen die Amerikanisierung steht. Da
darf sich auch am Schluß das Volk donnernd zu seinen Führern bekennen.
Intendant Georg Quander zeigt ganz unironisch, wohin die Reise gehen soll:
"Wir haben diesen Standort mitten im Regierungsviertel" - diesen will er
für ein neues "Großbayreuth" nutzen.
Nicht nur das unkritische Touristenpublikum fühlte sich angesprochen.
"Der tosende Applaus, dem man immer noch etwa nach den 'Meistersingern'
begegnen kann; die Selbstbestätigung des Publikums, die es aus Wagner
heraushört, hat immer noch etwas von dem alten virulent Bösen" des
Wagnerschen Nationalismus und Nationalsozialismus, schrieb Adorno
anläßlich der Aufführung von "Tristan und Isolde" bei den Berliner
Festwochen 1963. Anläßlich der Festwochen 1998 hätte er sich wohl
deutlicher ausgedrückt: Vor nationaler Begeisterug trampelnde und
verzückte kurzrasierte Burschenschaftler in der Uraufführung sind Ausdruck
davon, daß Fans der deutschen Oper wieder unvermittelt zu deren deutschem
Gehalt stehen wollen.
Eine seit Nietzsche bekannte Kritik an der Leitmotivtechnik Wagners,
speziell im "Ring", die parallel zum Bühnengeschehen auf Vergangenheit und
Zukunft verweist, und die Nietzsche in die Worte faßte, diese Musik drücke
aus, die Deutschen seien von vorgestern und von übermorgen, hätten aber
noch kein Heute, trifft auch gleichsam negativ auf die Aufführung der
"Meistersinger" in Berlin und deren Rezeption zu.
Die "Meistersinger" werden als das positive, utopische, demokratische
Werk und damit als Gegenstück zu der pessimistischen Tetralogie des "Ring
des Nibelungen" rezipiert, das mit der "Götterdämmerung" im Untergang der
Menschheit endet. Nicht nur Regisseur Harry Kupfer, der gleichzeitig an
der komischen Oper Wagners "Rienzi" inszeniert, das
im Nationalsozialismus problemlos als Allegorie des Aufstiegs
der NSDAP und als Vergottung des Volkstribuns Hitler inszeniert werden
konnte und seitdem berechtigt in den
Archiven verstaubte, will dafür sorgen, daß das Nationale wieder positiv
besetzt werden kann und deutsche Kultur eine Zukunft hat.
Mit Gewalt will man sich nun ein deutsches Heute schaffen, positiv zu
einer weichgespülten Form der Nation im globalen Kulturkampf stehen. Guter
Europäer, dienstbarer Untertan der neuen effektiveren Souveränität will
man sein und gleichzeitig auf sein nationales Erbe nicht verzichten,
bietet dieses doch für die neue nationale Elite die Legitimation für ihren
Anspruch, auch in Europa eine beherrschende Rolle zu spielen. Daß in
Berlin eine neue Wagner-Welle begonnen hat, daß nun wieder der ganze
Wagner einschließlich der von der Verbindung mit dem Nationalsozialismus
nicht mehr zu trennenden Opern gespielt wird, zeigt die Sehnsucht des
Bürgertums nach Schicksal und Tiefe, nach einer durchgängig positiv
besetzten Nationalkultur und nach innerer Einheit. Der behäbige
Opernbetrieb will seinen Beitrag zur deutschen Behauptung im Zeitalter der
"Globalisierung" - so das von den meisten Teilnehmern am Symposium fast
mit Ekel gebrauchte Wort - leisten.
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