Unpolitische Fachleute

Die deutschen Archivare erforschen in Stutt-
gart die Rolle der Zunft im Dritten Reich

von Sven Felix Kellerhoff
(Die Welt, 30.09.2005)

Deutschlands Archivare waren konsterniert: Zum vierten Mal hatte Adolf Hitler sich Anfang August 1939 geweigert, das fertige "Archivschutzgesetz" zu unterschreiben - gegen den Rat von Göring, Hess und Himmler sowie beinahe aller Fachleute. Die Begründung des Reichskanzlers: Das geplante Gesetz greife zu stark "in die rein private Sphäre der Familien" ein. Eine überraschende Argumentation für Hitler, dem sonst Privatsphäre, Wohlergehen und Leben anderer Menschen gleichgültig waren. Das bereits in den 1920er Jahren konzipierte Gesetz hätte dem Reichsarchiv die Kontrolle über private, kommunale und kirchliche Sammlungen eingeräumt; in der Fassung von 1939 lag es ideologisch wie praktisch völlig auf der Linie des totalitären NS-Staates. Warum also lehnte Hitler, der sonst Vorlagen meist kommentarlos unterschrieb, ausgerechnet diesen Gesetzentwurf ab?

Vielleicht, weil er auf Heinrich Glasmeier hörte. Der frühere Verwalter westfälischer Adelsarchive hatte im Januar 1933 Hitlers Wahlkampf im Kleinststaat Lippe organisiert, den die NSDAP (übrigens zu Unrecht) zum "Durchbruch" auf dem Weg zur Macht stilisierte. Seither war Glasmeier ein Schützling Hitlers, der unter anderem zum Reichsrundfunk-Intendanten befördert wurde. Schon 1932 hatte Glasmeier scharf das von den meisten seiner Kollegen befürwortete Gesetz kritisiert; sieben Jahre später, so vermutete Norbert Reimann, Chef des Westfälischen Archivamtes, jetzt auf dem 75. Deutschen Archivtag in Stuttgart, könnte er seinen Einfluß auf Hitler genutzt haben, um das Vorhaben seiner Kollegen scheitern zu lassen.

Zum ersten Mal beschäftigte sich der Verband der bundesrepublikanischen Archivare umfassend mit der traurigen Rolle der eigenen Zunft im Dritten Reich. Sieben Jahren sind vergangen, seit auf dem Historikertag in Frankfurt am Main 1998 die Verstrickung der Geschichtswissenschaft in den Nationalsozialismus unter heftiger Aufregung erstmals breit thematisiert wurde. Seither war klar, daß zahlreiche Archivare mindestens schuldhaft verstrickt in die NS-Verbrechen waren - etwa durch die Plünderung west- und osteuropäischer Sammlungen im Zweiten Weltkrieg und die Unterstützung des Rassenwahns.

Trotzdem gelang den meisten ein "weitgehend unbeschadeter Übergang" über die Zäsur 1945 hinweg, so Astrid M. Eckert (Washington). Nur wenige mußten nach der Kapitulation ihr Amt aufgeben - im Westen sogar noch weniger als in der Sowjetischen Besatzungszone: Sie stellten sich als "unpolitische Fachleute" dar. Bestraft wurden nur sehr wenige, etwa Georg Tessin, einst "Hofhistoriker" des mecklenburgischen Gauleiters, der "eher zufällig", so Matthias Manke (Schwerin), für drei Jahre im sowjetischen Speziallager Neubrandenburg interniert wurde - und danach in der Bundesrepublik als Militärarchivar reüssierte.

Vorauseilender Gehorsam hatte bereits im Frühjahr 1933 vielen Archivaren die Anpassung " erleichtert". Albert Brackmann, Chef der preußischen Archivverwaltung, gab damals als neues Selbstverständnis der Archivare aus, sich als "Herold der nationalen Sache" zu betätigen. Unliebsame Kollegen wie der linksliberale Historiker Eckhard Kehr wurden binnen weniger Wochen nach der Machtetablierung Hitlers entlassen, wie Susanne Brockfeld (Berlin) zeigte.

Verglichen mit dem Historikertag 1998 hielten sich die Emotionen jetzt in Stuttgart in Grenzen - trotz der Schatten, die auf die deutschen Archivare der Jahre 1933-1945 fielen. Tatsächlich gibt es bei den heute aktiven Archivaren erheblich weniger persönliche Schüler-Beziehungen zu NS-belasteten Kollegen als noch vor sieben Jahren bei den Historikern. Hinzu kommt, daß heute die Archive weit weniger politisiert sind als in der Zwischenkriegszeit - nicht zuletzt dank ihrer föderalen Struktur. An der sich die deutschen Archivare übrigens 1946 mehrheitlich ebenso störten wie ein Jahrzehnt zuvor.

Der erste Nachkriegsarchivtag jedenfalls hatte versucht, das von Hitler abgelehnte Archivgesetz erneut der Politik zu verkaufen. Ausgerechnet Georg Winter, Autor des von Hitler gestoppten Entwurfs und ab 1952 erster Präsident des Bundesarchivs, widersprach: Was man an Kontrolle über private und kommunale Archive in der Diktatur nicht erreicht habe, sei auch in der Demokratie nicht anzustreben.


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