Kanadas fünfzehnter Premierminister

Playboy, Abenteurer, Philosoph, Reformer

von Theo Sommer (DIE ZEIT, 26. April 1968)

Bilder und Links: Nikolas Dikigoros

Das Zwanzig-Millionen-Volk der Kanadier nimmt Abschied von der Welt der Väter. Am vorigen Sonnabend wurde in Ottawa der jüngste Premierminister in der Geschichte des Landes auf sein Amt vereidigt, der erste, der in diesem Jahrhundert geboren ist, von dem 71jährigen Lester Pearson, der sich aufs Altenteil zurück zog, so verschieden wie John F. Kennedy von seinem Vorgänger Ike. Der neue Mann, noch keine 47 Jahre alt, heißt Pierre Elliott Trudeau und gehört gewiß zu den exotischen Exemplaren der Gattung Staatsmann. Seine Karriere, sein. Stil, sein Programm tragen alle Merkmale des Ungewöhnlichen und Unorthodoxen.

Am besten stellt man sich Pierre Trudeau als eine gelungene Kreuzung von Bobby Kennedy und Ralf Dahrendorf vor, dazu ein Schuß Dutschke und Gunter Sachs - und das ganze hinter der Maske eines heiter-gelösten Professors Barnard. Auf dem Fernsehschirm verstrahlt er ungeheuren Charme; im Kreuzfeuer der Reporter bewahrt er kühles Blut und - auf Französisch wie auf Englisch - eine flinke Zunge; bei alledem ist ihm stets noch ein Rest Distanz auch zu sich selber anzumerken.

Ein Hippie, wie manche abschätzig urteilen? Die eine Seite seines Wesens trifft das schon: den Politiker, der nichts dabei findet, mit Sandalen an den Füßen ins Unterhaus zu gehen; den Sportwagenfahrer, dessen Erkennungssignale der schwarze Ledermantel und grelle Ascot-Krawatten sind; den unverheirateten Verehrer schöner (und vieler) Blondinen. Genüßlich erzählt man sich in Ottawa die Antwort, die er einem Journalisten auf die Frage gab, ob er nun von seiner Liebe zu Mercedes lassen werde: "Meinen Sie den Wagen oder das Mädchen? Weder noch!" Und als sich die Presse erkundigte, wer denn als offizielle Gastgeberin ins Haus 24, Sussex Drive, einziehen werde, der Residenz des Premiers hoch über dem Ottawafluß, grinste er spitzbübisch: "Ich schau mir gern Freiwillige an..."

Ein unkonventioneller Lebenslauf hat diesem Bild des Playboys Trudeau die Dimension des unruhigen Abenteurers hinzugefügt. In der Tat hat es ihn, den Sohn eines reichen frankokanadischen Unternehmers, jahrzehntelang auf dem ganzen Erdball umhergetrieben. Im humanistischen Jesuiten-Gymnasium war er Klassenprimus, und sein Jurastudium absolvierte er 1943 an der Universität Montreal gleichfalls mit Auszeichnung. Aber danach brach er aus der engen heimatlichen Arena aus. Erst machte er seinen M. A. in Nationalökonomie an der Universität Harvard, dann ging er noch einige Semester an die Sorbonne, um die großen Philosophen zu lesen, schließlich landete er zu Füßen Harold Laskis an der London School of Economics. Und im Jahre 1948 machte er sich von England aus auf, die Welt zu entdecken.

Am Anfang hatte er noch sein Motorrad, eine Harley-Davidson 69, später nur noch Schuhe und einen Rucksack. Per Anhalter suchte er seinen Weg durch über 20 Länder in drei Kontinenten. In Istanbul durchschwamm er den Bosporus; in Palästina, kurz nach der Ermordung des Grafen Bernadotte, wurde er als Spion verhaftet; in Indien geriet er in den blutigen Bürgerkrieg zwischen Hindus und Moslems; in Burma schlängelte er sich zwischen den Fronten eines Aufstandes hindurch; in Vietnam erlebte er die erste Runde des Indochinakrieges; aus Schanghai nahm ihn ein amerikanischer Truppentransport gerade rechtzeitig mit, ehe Maos Volksbefreiungsarmee die Stadt besetzte. Auch später reiste er immer wieder. In Moskau ärgerte er 1952 die Russen, als er während einer Wirtschaftskonferenz Schneebälle auf eine Lenin-Statue warf; die Amerikaner, die ihm den Besuch dieser Konferenz verübelten, setzten ihn deswegen auf ihre schwarze Liste. Dann fuhr er kreuz und quer durch Afrika, und 1961 noch einmal nach China, wo er auch von Mao Tse-tung und Tschu En-lai empfangen wurde. Dazwischen kreuzte er auf wochenlangen Kanufahrten durch die kanadische Arktis.

Von 1949 bis 1952 diente Trudeau im Büro des Ministerpräsidenten als wirtschaftlicher Berater; danach ließ er sich in Montreal als Rechtsanwalt nieder und arbeitete vor allem für die Gewerkschaften; und in den 1950er Jahren machte er sich als streitbarer liberaler Essayist und Mitherausgeber der Zeitschrift Cite Libre, als Dozent und Buchautor einen Namen. Damals herrschte in der Provinz Quebec das reaktionäre, korrupte Regime Duplessis, gegen das sich nur langsam die „stille Revolution" durchsetzte. Eine Zeitlang stand Trudeau der sozialistischen Neuen Demokratischen Partei nahe, aber 1965 schlug er sich schließlich zu den Liberalen - die NDP war ihm zu doktrinär. Und 1965 hielt er auch seinen Einzug ins Parlament von Ottawa.

Im April vorigen Jahres wurde er Justizminister - und beeindruckte das Land mit seinem Reformdrang. Das Scheidungsrecht, die Strafbestimmungen über Homosexualität, das Strafrecht wurden modernisiert. Der liberale Junggeselle Trudeau befand: „In den Schlafzimmern der Nation hat die Obrigkeit nichts zu suchen." Man wurde auf ihn aufmerksam. Freilich, daß er Regierungschef werden könnte, galt noch vor vier Monaten weithin als Witz. Er war selber auch keineswegs versessen auf das Amt und bewarb sich erst am 16. Februar. Aber dann begann die Trudeau-Dampfwalze zu laufen, und sie ließ sich nicht mehr aufhalten. Im vierten Wahlgang erhielt er beim Parteitag der Liberalen 1203 Stimmen, alle acht Mitbewerber weit hinter sich lassend. Die 30.000 Trudeau-Buttons, die orange gekleideten Minirock-Brigaden der Jubelmädchen, die mit Kennedy'scher Präzision funktionierende Parteitags-Organisation machten sich bezahlt.

Der Nonkonformist aus Montreal ist Kanadas fünfzehnter Premierminister. Schwere Aufgaben warten auf ihn. Die allerschwerste: den von zwei „Nationen" gebildeten Staat Kanada zusammen zu halten. Ob ihm das gelingt, steht noch völlig dahin. Denn obwohl er zu drei Vierteln franko-kanadischer Abstammung ist und aus Quebec kommt, ist gerade dort seine Anhängerschaft am schwächsten. Er ist gegen jeden „Sonderstatus" für Quebec. Er will die Franko-Kanadier nicht auf das „Wigwam" ihrer Kernprovinz einengen, sondern will ihnen in ganz Kanada eine Heimat schaffen. Er ist gegen Sezession, aber auch gegen die amerikanische Methode des Schmelztiegels; vielmehr möchte er den Vielvölkerstaaten Afrikas und Asiens in Kanada das Modell eines multinationalen Staatswesens vorführen, den „Prototyp" der Zukunft. Weil er kein Volkstums-Nationalist sein wollte, ist er zum Verfechter eines pluralistischen Zentralismus geworden.

Auf de Gaulle wird er dabei nicht allzu viel Rücksicht nehmen, obwohl er nach seiner Nominierung erklärte, er würde sich gern mit dem General treffen. Aber er hat unlängst auch mit beißendem Spott gesagt, de Gaulles Forderung nach einer neuen Verfassung für Kanada klinge sehr merkwürdig, da sie aus einem Lande komme, das in 180 Jahren 17 Verfassungen verschlissen habe. Und keiner hat nach dem Abbruch der kanadischen Beziehungen zu Gabun deutlicher gesagt als Trudeau, wenn Paris die Provinz Quebec als souveränen Staat zu behandeln gedenke, müßten auch die Beziehungen zwischen Ottawa und Paris abgebrochen werden.

Weniger Sorgen bereitet ihm der riesige Nachbar im Süden - die Vereinigten Staaten, die Kanada wirtschaftlich zu schlucken drohen. Trudeau sieht die Gefahr, doch ebenso den Vorteil, daß das Einfließen amerikanischen Kapitals Kanadas Wirtschaft florieren läßt. Er denkt auch hier pragmatisch. Ihm liegt mehr an einer Lenkung als einer Drosselung der ausländischen Investitionen - und daran, daß nicht aus wirtschaftlichem Angewiesensein politische Abhängigkeit erwächst.

Kanadas Rolle in der Welt will der neue Premier von Grund auf überprüfen. Die NATO, so sagt er, habe die Sicherheit Europas verbürgt. Aber Europa prosperiere längst wieder und könne nun selber für sich sorgen. Nicht, daß er den Nordatlantikpakt verlassen möchte - das schon deswegen nicht, weil Kanada den USA nicht allein gegenüber sitzt, solange es innerhalb des Bündnisses bleibt. Doch meint Trudeau, daß die kanadische Garnison in der Bundesrepublik - vier Starfighter-Geschwader und eine Brigidegruppe - heute vermindert, ja ganz abgezogen werden kann. Ähnlich neue Töne schlägt er an, wenn er auf den kanadischen Beitrag zu den "Friedens-Operationen" der Vereinten Nationen zu sprechen kommt. Auch da möchte er kurz treten. Er sieht sein Land ungern in der Rolle des UN-Hilfsbüttels. Nach seiner Ansicht liegen die Aufgaben Kanadas vor allen Dingen in Kanada selber: im Bau einer "gerechten Gesellschaft".

Wird Pierre Trudeau diese Aufgaben bewältigen? Manche seiner Landsleute sind skeptisch. Aber viele bauen auf ihn: nicht, weil er der neue Premier ist, sondern weil er einen ganz neuen Schlag von Premier verkörpert. Was ihm an Erfahrung mangelt, mag er durch Frische und Unvoreingenommenheit wettmachen. Im Juni will er Parlamentswahlen abhalten lassen. Dann wird sich zeigen, ob auch das breite Publikum seine unkonventionellen Eigenschaften zu würdigen weiß.