Jenseits von Autonomie und Widerstand
oder: Was ist eine politische Tat?

Weibliches Begehren und Weltveränderung

von Antje Schrupp

»Sie sind also die kleine Frau, die diesen großen Krieg verursacht hat« – so soll Präsident Abraham Lincoln gegen Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, der die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten der USA brachte, einmal die Schriftstellerin Harriet Beecher-Stowe begrüßt haben. Ein merkwürdiges Bild: Eine kleine Frau verursacht einen großen Krieg. Ein Bild, das zunächst einmal schockiert – eine Frau ist die Ursache für so etwas Schreckliches ? Das kann doch nicht wahr sein!

Auf der anderen Seite bringt mich das Bild aber auch zum Schmunzeln: Der amerikanische Präsident, einer der mächtigsten Männer der Welt, gesteht ein, dass eine kleine Frau etwas erreicht hat, was er selbst nicht vermochte. Da werde ich schon ein bisschen neidisch. Auch ich möchte manchmal einen großen Krieg auslösen, also etwas tun, das auch wirklich eine Wirkung zeigt. Damit sich etwas verändert, damit endlich Schluss ist mit den vielen Ungerechtigkeiten der Welt. Aber wie lässt sich die Sehnsucht nach einer anderen Welt, einer Welt ohne Ungerechtigkeit und Leid, mit dem Realismus verbinden, der solche Träumereien immer wieder ›auf den Boden der Tatsachen‹ zurückholt? Mit der Angst, die Gewaltspirale könne sich nur sinnlos weiterdrehen? Woher weiß ich überhaupt, was für die Welt ›gut‹ ist? Wie lässt es sich für eine bessere Welt kämpfen, ohne dass man dabei Machbarkeitsphantasien aufsitzt oder größenwahnsinnig wird?

Harriet Beecher-Stowe scheint das gelungen zu sein. Mit ihrem Buch »Onkel Toms Hütte«, in dem sie Geschichten »aus dem Leben der Negersklaven« erzählt (so der Untertitel des 1851/1852 erschienenen Fortsetzungsromans) hatte sie die amerikanischen Gemüter aufgeschreckt. Schon im ersten Jahr wurden 300.000 Exemplare des Buches verkauft, das – so ein Rezensent – »zur Kampfschrift der Nordstaaten gegen die Südstaaten« wurde. Und so hat also eine kleine Frau, die sich abends, wenn Mann und Kinder versorgt waren, an den Schreibtisch setzte und Geschichten aufschrieb, die Welt verändert.

Wie konnte ihr das gelingen? Vielleicht ist es von Bedeutung, dass sie kein politisches Manifest geschrieben hat, kein gelehrtes Werk, sondern eine Erzählung, einen Roman. Dieser Gedanke kam mir, als ich einen Aufsatz von Luisa Muraro las, in dem sie sich mit der Wirksamkeit politischer Interventionen von Frauen beschäftigt. Über die spanische Mystikerin Teresa von Avila schreibt sie: »In der Ausarbeitung ihres Denkens richtete sie sich nach der Vorgabe der Unterordnung unter die Gelehrten, wenn es um die Interpretation der Doktrinen ging, während sie sich selbst die Wahrheit der Erzählung von ihren Erfahrungen und die der Manifestation des Glaubens in Form von Gebeten vorbehielt«. Teresa ließ sich also nicht auf die gelehrten Dispute der Scholastik ein, sondern beanspruchte für sich andere Methoden: Die Erzählung und das Gebet. So hat sie ihr Frausein – diesen sozialen Nachteil – zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht, und es ist ihr gerade dadurch gelungen, etwas zu verwirklichen. Ein ähnliches Verhalten, so Luisa Muraro, habe sie auch schon an sich selbst beobachtet: »Manchmal spürte ich die Notwendigkeit, das Gespräch, das ich gerade führte, zu unterbrechen, um eine Begebenheit aus meinem Leben zu erzählen, die mir zuweilen als Beispiel diente, öfter aber als Vehikel für eine Idee, die ich nicht anders ausdrücken konnte«.

Das Mittel der Erzählung ist für Muraro eine Manifestation des »weiblichen Subjektivismus« – wenn eine Frau eine Geschichte erzählt, dann verhindert sie damit, in die Debatten über die Theorien anderer hineingezogen werden. Sich auf persönliche, »subjektive« Erfahrungen zu beziehen, wäre also eine Möglichkeit, nicht länger das Denken von Männern zu kommentieren, sondern selbst zu sprechen. Was aber ist ein weibliches Subjekt?

In der westlich-modernen Denktradition zeichnet sich das Subjekt durch Autonomie aus – Subjektivität wird mit Selbstbestimmung gleichgesetzt. Im Bereich der Philosophie, der Psychologie und der Soziologie ist allerdings die Idee, es gebe ein »autonomes« Subjekt, durch dekonstruktivistische Ansätze inzwischen ad acta gelegt. Den Bereich der politischen Theorien jedoch scheint diese Diskussion nicht zu berühren. Ein Blick in den Politikteil der Zeitung, wo es von »Autonomiebestrebungen« aller möglichen Nationen, Gruppen und Institutionen nur so wimmelt, macht das deutlich. Die positive Konnotation des Begriffes »Autonomie« hat im Bereich des Politischen noch keinen Schaden genommen.

Das scheint auf den ersten Blick auch plausibel. Zumindest in der Organisation des menschlichen Zusammenlebens muss es doch Autonomie, also »Selbstgesetzgebung« geben – was anderes sollte der Gegenstand von Politik sein? Darin liegt jedoch ein Denkfehler. Denn die modernen politischen Theorien leiten die Legitimation der politischen Gesetzgebung immer vom autonomen Subjekt ab. Ihr Gegenstand ist vor allem die Frage, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Allgemeinheit beschaffen ist, mit anderen Worten: Sie suchen Begründungen dafür, wieso der Einzelne (es geht in diesem Kontext historisch, aber auch logisch nur um Männer) sich an staatliche, also nicht von ihm selbst gemachte Gesetze halten muss, wenn er doch ein autonomes Subjekt ist.

So gehen etwa die Vertragstheorien davon aus, dass das autonome Individuum seine Autonomie, also sein »natürliches« Recht auf Selbstgesetzgebung, auf den Staat überträgt. Es ist dabei egal, warum es das tut, ob aus Furcht vor lebensbedrohlichem Chaos und dem »Krieg aller gegen alle« (Hobbes) oder aus Einsicht in die Vernünftigkeit dieses Vorgehens (Rousseau). Entscheidend ist, dass es letztlich irgendwo einen »Souverän« gibt, der zur Gesetzgebung legitimiert ist. Heute gilt allgemein die parlamentarische Demokratie als die einzig legitime Verfahrenweise für eine solche »Souveränitätsübergabe«. Aber das ist nicht entscheidend; eine demokratische Regierung unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht grundlegend von einem Monarchen: Das Recht auf Gesetzgebung des Staates leitet sich ab von der natürlichen Autonomie der Individuen, die ihm diese Souveränität übertragen haben. Wenn es jetzt aber, wie die postmodernen philosophischen Theorien lehren, kein autonomes Subjekt gibt, dann kann es eigentlich auch keine kollektive Autonomie, keine Selbstgesetzgebung im Bereich des Politischen geben.

Ist aber dann Politik überhaupt noch möglich? Was könnte das Wesen von Politik sein? Möglicherweise kann das Konzept des »weiblichen Subjektivismus« hier neue Antworten geben. Der Begriff ist unglücklich. In der modernen Philosophie wird das Subjekt mit dem »Ich« gleichgesetzt. Die Welt, die ist, (das Objekt) steht dem Ich, das denkt, (dem Subjekt) gegenüber. Bestenfalls wird eine Wechselwirkung zwischen Sein und Denken zugestanden. Luisa Muraro zeigt jedoch, dass der sogenannte weibliche Subjektivismus mit diesem »Ich denke« der modernen Philosophie nichts zu tun hat. Das, was herkömmlicherweise weiblicher Subjektivismus genannt wird, ist für Muraro die »weibliche Fähigkeit, eine Welt auszuprobieren und zu genießen, die es nicht gibt, die Fähigkeit, sich aus der gegebenen Welt gewissermaßen hinauszulehnen und sie damit auszudehnen«.

Diese Fähigkeit, über das Gegebene hinauszugehen, erscheint im Kontext der männlichen symbolischen Ordnung maßlos, verrückt, naiv, illusorisch, hysterisch. Das führt zu Schwierigkeiten, politisches Handeln von Frauen einzuordnen. In der Sprache der politischen Kommentare ist das zu beobachten: Frauen, die auf der öffentlichen Bühne tätig sind, werden entweder den Pragmatikerinnen zugerechnet, die sich auf kompetente Sachpolitik im Rahmen des Bestehenden beschränken, oder den Übereifrigen, die sich ständig mit utopischen Forderungen lächerlich machen. Der Selbstwahrnehmung dieser Frauen entspricht diese Kategorisierung häufig nicht. In der Tat macht diese Zuschreibung auch nur Sinn, wenn man vom traditionellen Subjektbegriff ausgeht, der zwischen dem Ich und der Welt eine scharfe Trennung zieht – es ist tatsächlich maßlos und verrückt, die Welt dem eigenen, subjektiven Willen anpassen zu wollen.

Luisa Muraro hat eine Antwort auf dieses Problem im Studium weiblicher Philosophie gesucht: Es sei doch auffällig, meint sie, dass die meisten Philosophinnen – zum Beispiel Hannah Arendt, Simone Weil oder Edith Stein – gerade den Realismus stark machen, also die Ansicht, dass eine Wirklichkeit existiert, die vom menschlichen Bewußtsein unabhängig ist. Wie geht das zusammen mit dem vermeintlichen »Subjektivismus« weiblichen Handelns?

Muraro zeigt, dass dieser scheinbare Widerspruch tatsächlich die Lösung des Problems birgt. Denn mit den Arbeiten der Philosophinnen, so Muraro, »erleben wir den Tod des Ich, und er bringt uns endlich über die Grenzen der modernen Philosophie hinaus. Die Position, dass das Denken nicht auf das ›Ich denke‹ reduziert werden kann … ist darin begleitet von dem Konzept einer Subjektivität, die nicht der Objektivität gegenübergestellt ist, sondern gesetzt ist, um in ihrer Absolutheit unterzugehen und so Platz zu schaffen für eine Welt, deren Subjekt sich solchermaßen als ein Teilhabendes erkennt«.

Weiblicher Subjektivismus ist also nicht eine Bestätigung des Ich im Gegenüber zur Welt, sondern die Ausprägung der eigenen Sicht auf die Welt, die Behauptung des eigenen Ortes in der Welt – eine Trennung von Subjekt und Objekt gibt es nicht, weder in der Realität, noch im Denken. Weiblicher Subjektivismus sagt: »Ich habe die Welt so erlebt«, nicht »Ich will, dass die Welt so ist«. Der philosophische Realismus der Philosophinnen bietet also für den weiblichen Subjektivismus den interpretatorischen Kontext: Er bestimmt das Verhältnis der Frau (des Subjekts) zur Wirklichkeit (dem Objekt) so, dass er das weibliche Subjekt als etwas wiedererkennt, das schon in der Welt existiert, mit der es sich beschäftigt. Weil aber das Subjekt ein Teil der Welt ist, kann es die Welt verändern, indem es sich selbst und die eigene Position ändert.

Wie aber ist es möglich, diese Bedeutung von Subjektivismus auch benennen zu können? Luisa Muraro sieht die Lösung im Bewusstsein der sexuellen Differenz: »In dem ›ich bin eine Frau‹, dem Endpunkt und der Antwort des weiblichen Subjektivismus, ist zwar die Affirmation des Selbst enthalten (›ich bin…‹), aber nur zusammen mit seinem Untergang und der Geburt der Welt, in der Männer und Frauen leben, von denen ich eine bin (›…eine Frau‹).« Zu handeln und zu reden und dabei deutlich zu machen »Ich bin eine Frau« würde also bedeuten, die eigene Subjektivität und den eigenen Realismus gleichermaßen zu benennen.

Kehren wir nun zurück zu der Frage, was eine Politik sein kann, die nicht auf dem autonomen Subjekt gründet. Was bedeutet politische »Autonomie«, Selbstgesetzgebung, wenn das Subjekt immer schon ein Teil der Welt ist? Diese Frage untersuchen die Italienerinnen genau da, wo sich die Schnittstelle zwischen Individuum und Allgemeinheit befindet: Im politischen Verhalten des einzelnen Menschen. Diese Frage ist ein klassisches Thema der Politikwissenschaft. Denn natürlich kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen den Individuen und dem Souverän, der Regierung. Wann endet die Gehorsamspflicht des Individuums gegenüber dem Staat? Gibt es ein Recht, oder sogar eine Pflicht zum Widerstand?

In der Logik aller modernen politischen Theorien wird ein solches Widerstandsrecht dann eingeräumt, wenn sich die Regierung die »Souveränität« der autonomen Individuen ungerechtfertigter Weise aneignet. Verschiedene Antworten gibt es nur auf die Frage, wann dies der Fall ist – in sozialistischer Lesart etwa, wenn die Regierung nicht die Interessen der Allgemeinheit schützt, sondern die des Kapitals, in demokratischer Lesart, wenn sie die formalen Regeln parlamentarischer Wahlabläufe nicht einhält, in religiöser Lesart, wenn sie dem Willen Gottes entgegenhandelt. Was aber geschieht, wenn die, die hier interveniert, eine sie ist, ein weibliches Subjekt?

Annarosa Buttarelli hat diese Frage am Beispiel einer mythischen Figur gestellt, die den Konflikt zwischen Inividuum und Gesetz wie keine andere symbolisiert: Die Antigone aus der antiken griechischen Tragödie des Sophokles. Antigone, die sich den Gesetzen Kreons, des Herrschers von Theben, widersetzt, gilt als Sinnbild des Widerstandsrechts des Individuums gegen unrechtmäßig ausgeübte Souveränität schlechthin. Ihre Geschichte ist deshalb durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder aufgeführt, reinterpretiert und neu inszeniert worden.

Antigone übertritt das Gesetz, indem sie ihren Bruder Polyneikes bestattet, was Kreon bei Todesstrafe verboten hat, weil Polyneikes ein Verräter war, der die Stadt ihren Feinden ausliefern wollte. In der geläufigen Interpretation stellt Antigone dieser Tragödie ihr persönliches Gewissen und die Gesetze der Götter über die Gesetze der Stadt, bietet dem despotischen Herrscher die Stirn und ist bereit, dafür den Märtyrertod zu sterben. Ihr Beispiel gilt als zeitlos gültiges Plädoyer für Zivilcourage und für das Widerstandsrecht des einzelnen Menschen angesichts ungerechter Gesetze und einer erdrückenden Übermacht des Despoten. dass Antigone eine Frau ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen.

Buttarelli stellt diese Interpretation in Frage. Was ist es, so fragt sie, das Antigone antreibt? Geht es hier tatsächlich um den Konflikt zwischen einem autonomen Indviduum und einem despotischen Herrscher? Geht es um den Schutz der subjektiven Gewissensfreiheit? Mit anderen Worten: Leistet Antigone Widerstand?

Buttarelli zeigt, dass Antigones Handeln nicht gegen Kreon und seine Herrschaftsausübung gerichtet ist, sondern sich an Maßstäben orientiert, die sich auf Sympathie, auf Beziehungen gründen: Polyneikes ist ihr Bruder, und einen Bruder muss man begraben. »Antigone«, schreibt Buttarelli, »ist geboren, um sich in Beziehung zu setzen, um auf etwas zuzugehen, nicht um gegen etwas anzugehen«. Aber auf was geht Antigone zu, wozu setzt sie sich in Beziehung? Woher nimmt sie die Maßstäbe für ihr Handeln, wenn es nicht der Protest gegen unrechtmäßige Machtausübung ist? Warum begräbt sie Polyneikes, wenn nicht aus moralischen Gewissensgründen?

Zu Kreon sagt sie: »Ich ahnte nicht, dass deine gegebenen Ordnungen so mächtig wären, dass sie dir, der du sterblich bist, das Recht geben, die ungeschriebenen, aber unauflöslichen Gesetze der Götter zu überschreiten. Nicht erst seit heute, nicht seit gestern, sondern schon immer sind diese lebendig, und niemand weiß, wo sie ihren Glanz hernahmen«. Antigone kritisiert also nicht eine falsche Souveränitätsausübung des Kreon, sie kritisiert nicht, dass er als Herrscher kein Gesetz hätte machen dürfen, das ihr das subjektive Recht, ihren Bruder zu beerdigen, abspricht. Es geht nicht um einen Konflikt zwischen dem einzelnen Indiviuum und dem Staat, sondern Antigone zeigt eine Schranke auf, an der die Autonomie der Individuen wie der Herrschenden gleichermaßen endet: Es gibt für Menschen keine Selbstgesetzgebung, die gegen die unauflöslichen Gesetze verstößt.

Buttarelli weist auf eine Ähnlichkeit zwischen diesem »Glanz« der unauflöslichen Gesetze und dem »Funken« hin, von dem Chiara Zamboni spricht. Die Seele ist für Zamboni gewissermaßen das menschliche Sinnesorgan, das handlungsleitende Ordnungen erkennt, indem sie im Leben Momente der Qualität wahrnimmt: »Man denke an die symbolischen Momente der eigenen Existenz, die erste Begegnung mit einem Menschen, der unser Leben verändert hat, an ein Buch, das man nach dem ersten Lesen immer wieder in die Hand genommen hat. … (Solche) außergewöhnlichen, diskontinuierlichen Momente sind Lichtfunken, mit denen die Materie erfüllt ist. Diese Lichtfunken ziehen uns an«. Es ist die Seele, die sich solchen lebendigen Situationen, echten Gesprächen, authentischen Handlungen zuwendet. In repetitiven Situationen und Banalitäten dagegen langweilt sich die Seele und geht.

Anders als das »Ich«, das vom eigenen Willen geprägt ist, ist die Seele unmanipulierbar, gerade darum muss sie für das »Ich« auch unverfügbar sein. Das »Ich« kann sich selbst belügen, sich etwas vormachen. Wie können wir uns aber an der Orientierung, die uns die Seele gibt, ausrichten, wenn unser »Ich« keinen Zugriff auf die Seele hat? Zamboni spricht von einem »experimentellen Weg«, der darin besteht, dass ich die Orientierung meiner Seele in der Reaktion anderer Menschen auf mein Handeln wahrnehmen kann: Die anderen können nämlich meine Seele sehen (Zamboni entlehnt bei Hannah Arendt das griechische Bild des Daimon, der hinter mir steht und mir über die Schulter blickt, den ich daher selbst nicht sehen kann, die anderen aber schon). Nur in Beziehungen zu anderen Menschen ist es mir möglich, die Orientierung meiner eigenen Seele zu erkennen und damit auch, mich in meinen Handlungen nach ihr zu richten.

Es ist also nicht der autonome Wille der Menschen und es sind auch nicht die Götter, die die Gesetze machen, die Orientierung im politischen Handeln geben, sondern diese »Funken«, die »glänzenden Gesetze«, entstehen aus der Beziehung zwischen Menschen. Sie sind materialistisch, diesseitig und doch setzen sie der individuellen und kollektiven Autonomie des Menschen Grenzen. Antigone begräbt Polyneikes nicht, weil sie der ungerechten Herrschaft des Kreon Widerstand entgegesetzt, sondern weil sie diesen glänzenden Gesetzen gegenüber gehorsam ist, weil sie der Orientierung folgt, die ihre Seele ihr weist.

Antigones politisches Handeln gründet also in dieser Interpretation nicht auf der Autonomie des Individuums, sondern bestreitet sie im Gegenteil. Indem sie Polyneikes begräbt, zeigt sie sich einer zivilisatorischen Notwendigkeit gegenüber gehorsam: Es ist ihr Gehorsam gegen ein »unauflösliches Gesetz«, das sie zu dieser politischen Handlung bewegt. Und diese Handlung schafft im wörtlichen Sinn Ordnung, indem sie zum Beispiel die Stadt vor der Verpestung durch den verwesenden Kadaver schützt.

Die Idee, dass »Gehorsam« Ausgangspunkt für ein politisches Handeln sei, das lediglich im Kontext des herkömmlichen Politikverständnisses als »Widerstand« erscheint, führt uns wieder zu »Onkel Toms Hütte«. Es gibt dort eine Szene, in der Tom, durch widrige Umstände in den Besitz des üblen Plantagenbesitzers Legree gelangt, »befördert« wird und in seiner Funktion als neuer Aufseher eine andere Sklavin auspeitschen soll. Als er sich weigert, interpretiert Legree das als Widerstand und weist darauf hin, dass Tom sein Eigentum sei. Der erwidert daraufhin: »Meine Seele gehört Ihnen nicht, Master! Die haben sie nicht gekauft – die können Sie nicht kaufen! Die ist gekauft und bezahlt von einem, der imstande ist, sie zu bewahren!«

Genau wie Antigone setzt Tom hier der Souveränität der Menschen eine Schranke: Kein Fürst kann Gesetze erlassen, kein Sklavenbesitzer Befehle geben, die diese Grenze verletzen. Die Seele ist der Ort im Menschen, der diese Grenze erkennt und bewahrt. Die Seele weist den Weg zu der politischen Tat, und diese Tat geschieht nicht aus individueller Autonomie heraus, sondern im Gehorsam gegen eine gegebene Ordnung, die über dem Gesetz, über dem Befehl steht. Doch beidesmal wird diese Tat von dem patriarchalen Gegenüber, das für sich selbst Souveränität beansprucht, als Widerstand interpretiert und bestraft.

Es fällt auf, dass in diesem Zusammenhang immer wieder religiöses Vokabular benutzt wird. Harriet Beecher-Stowe charakterisiert den Sklaven Tom als frommen Mann, und auch bei Antigone werden die »unauflöslichen« Gesetze »göttlich« genannt. Tom folgt den Hinweisen seiner Seele, und genau diesen religiös konnotierten Ausdruck wählt auch Chiara Zamboni, wenn sie das »Sinnesorgan« des Menschen beschreibt, das Orientierung für das Handeln empfängt.

Haben also diese handlungsleitenden Ordnungen etwas mit Religion, mit Gott zu tun? Hier kann es zu Mißverständnissen kommen, wenn man den klassischen Gottesbegriff zugrunde legt. Die westeuropäische männliche Philosophie interpretiert das Verhältnis Gottes zur Welt als Andersheit, als ontologische Distanz, die zur Dualität wird. Gott unterscheidet sich nicht nur von der Welt, sondern er wird als das ganz Andere verstanden, die Distanz zwischen Gott und der Welt wird unüberbrückbar, was, so Luisa Muraro, zur Folge hat, dass »die Autonomie dieser Welt verherrlicht und schließlich verabsolutiert wird, und zwar bis zum unumkehrbaren Untergang der Religion«. Daher kommt wohl auch die heute verbreitete Ablehnung des religiösen Antriebs politischer Handlungen. Wenn Gott absolut anders ist, dann ist religiös motivierte Politik absolutistisch, tyrannisch, despotisch. Was also bleibt, ist die Tretmühle der Bürokratie und des politischen Alltagsgeschäftes.

In der Antigone-Tragödie ist es Kreon, der die Autonomie dieser Welt verabsolutiert, indem er die andere Welt mit ihren »unauflöslichen Gesetzen« zum Untergang (und Antigone zum Tode) verurteilt. An dieser Stelle kommt die Geschlechterdifferenz ins Spiel. Für Buttarelli – die sich hier an Interpretationen von Luce Irigaray und Charles Segal anschließt – schildert Sophokles den Konflikt zwischen zwei Ordnungen, zwischen zwei Zivilisationen: Der des patriarchalen Stadt-Staates, die sich auf die Institutionen als Orte der Machtausübung gründet (und für die der Mensch ein autonomes Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung ist) und einer weiblichen Ordnung, die auf ewig gültigen Gesetzen ruht.

Kreon kann das Handeln der Antigone, die Logik der durch sie repräsentierten Zivilisation, nicht verstehen. Er kann aus seiner eigenen, patriarchalen Ordnung nicht ausbrechen. Kreon wird bei Sophokles keineswegs als Despot gezeichnet: Polyneikes ist ja wirklich mit feindlichen Heeren gegen Theben gezogen, und Kreon kann Antigone nicht von der Strafe freisprechen, gerade weil seine Glaubwürdigkeit als gerechter Herrscher auf dem Spiel steht: Die Gesetze müssen für alle gelten. In der patriarchalen Staatslogik gefangen kann Kreon nicht erkennen, dass Antigone im Gehorsam gegen eine ganz andere Ordnung handelt. Deshalb, schreibt Buttarelli, »führt er auch die eigen-sinnige Würde der Frau auf das männliche Kampfschema zurück, sagt, dass sie ›wie ein Mann ist‹ (Verse 475–485) und behandelt sie wie einen Mann«. Antigone, die Frau, handelt nach Maßstäben, die Kreon, der Mann, nicht verstehen kann.

In der männlichen symbolischen Ordnung Es entsteht ein Teufelskreis: Die menschliche Autonomie auf der einen und die Andersheit Gottes auf der anderen Seite bedingen sich gegenseitig und werden damit absolut. dass sich dieser Kreis dennoch nicht ganz schließt, dass die Differenz Gottes auch noch anders benannt und verstanden werden kann, ist nach Muraro auf die Erfahrung der weiblichen Differenz zurückzuführen, die darin besteht, dass wir als Töchter einer Mutter von Beginn an in einer Beziehung stehen, in der wir uns von einer, der wir gleichen, aktiv unterscheiden. Margarete Porete, eine große Mystikerin am Anfang des 14. Jahrhunderts, nannte Gott etwa »das Fernnahe«, also nicht das Andere in einer unüberwindlichen und absoluten Distanz, sondern in einer spielerischen, veränderbaren, nicht eindeutig definierbaren Andersheit. »In diesem Fall haben wir es mit einer Differenz Gottes zu tun, die durch die weibliche Differenz lesbar bleibt, ohne dass dabei die Transzendenz abgelehnt wird«, schreibt Muraro.

Im Licht der weiblichen Differenz ist die Geschichte also nicht unumkehrbar, ist die Tranzdendenz nicht völlig unerklärbar und ist damit das Individuum nicht völlig souverän. Es besteht eine spielerische Instabilität in diesen Zuweisungen, mit anderen Worten: Veränderung ist möglich, und zwar auch völlig unerwartete.

An diesem Punkt ist es notwendig, einen entscheidenden Irrtum der klassischen linken Tradition anzusprechen: Die Vorstellung, Revolutionen seien »planbar«, die in der absurden Vorstellung von »Planwirtschaft« und anderen antifreiheitlichen Maßnahmen des Marxismus-Leninismus geendet ist. dass Harriet Beecher-Stowe mit ihrem Roman einen Krieg auslöste, der das Ende der Sklaverei brachte, ist aber kein Ergebnis der instrumentellen Vernunft. Sie hatte das nicht geplant, sie gab einfach ihrer Sehnsucht nach einer anderen Welt, dem Unmut der eigenen Seele über die Schrecken der Sklaverei Ausdruck. Der Erfolg kam nicht durch ihre Genialität zustande, sondern dadurch, dass ihre Erzählung Antwort fand in der Reaktion ihrer Leserinnen und Leser. Das war nicht vorhersehbar – wäre es das gewesen, dann hätte sie sicher nicht solche Schwierigkeiten gehabt, einen Verleger zu finden.

Wir können also nun festhalten, dass weibliches Begehren ein Potential zur Weltveränderung in sich birgt. Es hat dieses Potential, gerade weil es nicht im Gegenüber zur Welt nach Selbstbestätigung strebt, sondern sich auf der Suche nach dem eigenen Ort in der gegebenen Welt befindet. Dies ist der entscheidende Punkt, den Chiara Zamboni so formuliert: »Wir haben Teil an der Welt, ohne dass wir jemals entschieden hätten, ein Teil davon zu sein. Unsere Mutter hat uns zur Welt gebracht, und man achte darauf: nicht ›in‹ die Welt, sondern ›zur‹ Welt, wie ein Geschenk für die Welt und für uns. … Die Welt zwingt sich uns also auf, mit ihren Gesetzen und ihren Notwendigkeiten. Wenn aber unsere Beziehung zur Welt etwas Konstitutives, Grundlegendes ist und nichts Überflüssiges, dann heißt das: Wenn ich meine Beziehung zur Welt verändere, dann verändert sich die Welt«.

Diese Auffassung von politischem Handeln unterscheidet sich deutlich von den herkömmlichen Denkmustern »linker« Theorien, die mit Begriffen wie Widerstand, Interessenskonflikten, Klassen-, Rassen- und Geschlechterkampf operieren. Es ist in diesem Schema vor allem der Gegner und die Auseinandersetzung mit ihm, woran sich politisches Handeln orientiert, nicht die eigene Position und das eigene Begehren.

Es ist daher kein Wunder, dass die linke Tradition Harriet Beecher-Stowe (und vielen anderen Denkerinnen) keine Lorbeerkränze gebunden hat. Im Gegenteil, ihr Werk gilt eigentlich sogar als peinlich. Ihr Romanheld, der Sklave Tom, kann kein Vorbild für politische Befreiungskämpfe sein: Er erhebt sich nicht gegen seine Herren, ist nicht aufmüpfig und revolutionär. Aufrechtes revolutionäres Bewußtsein und Radikalität wird aber im allgemeinen gerade an der Eindeutigkeit abgelesen, mit der den Unterdrückern entgegengetreten wird – und so gesehen ist der Sklave Tom ein Schwächling, eigentlich sogar ein Kollaborateur.

Auch die Frauenemanzipationsbewegung hat diese Rhetorik teilweise übernommen. Wie der Kampf von Schwarzen gegen Weiße, von Arbeitern gegen Kapitalisten, geht es hier um den Kampf von Frauen gegen Männer. Das hat einerseits zur Folge gehabt, dass feministisches Denken einen unerhörten Aufwand an Energie und Kreativität in die Aufdeckung männlicher Irrtümer gesteckt hat. Statt selbst zu sprechen, wurden Bibliotheken mit feministischen Kommentaren zu Werken von Männern gefüllt. Es hatte aber noch eine wesentlich fatalere Folge. Die politischen Ideen von Frauen vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte wurden verflacht, verbogen oder verschwiegen: Immer dann nämlich, wenn sie den Ansprüchen des »Geschlechterkampfes« nicht zu genügen schienen. Luisa Muraro betont jedoch: »Im Licht des Denkens der Geschlechterdifferenz ist der Bezug auf die weibliche Schwäche nicht eine Auseinandersetzung mit dem Mann, sondern mit Gott«.

Indem Frauen dem männlichen Konzept von »Autonomie« nacheiferten, konnten sie nicht mehr auf das hören, was andere Frauen sagten. Indem sie die Politik von Frauen auf »Frauenpolitik« beschränkten, beschnitten sie das revolutionäre Potential des weiblichen Denkens, schwächten sie die Fähigkeit des weiblichen Begehrens, die Welt zu verändern. Denn »durch die weibliche Freiheit ist das Unvorhergesehene repräsentiert, während unsere Emanzipation etwas Vorhersehbares war«, wie Luisa Muraro schreibt.

Es geht um ein Verständnis von Weltveränderung, das der gegebenen Realität Rechnung trägt und sie gerade dadurch verändern kann – ein solches Konzept ist heute, wo die Machbarkeitsphantasien der instrumentellen Vernunft bereits fatale Auswirkungen gezeigt und die klassischen »linken« Bewegungen jede innovative Kraft verloren haben, dringend geboten.

Die Geschichte des weiblichen Begehrens als Potential der Weltveränderung ist nicht nur eine Erfolgsgeschichte, wie schon das Schicksal der Antigone zeigt. Sie wird von Kreon in eine Grotte eingesperrt, in der sie verhungern soll, und begeht dort Selbstmord. Margarete Porete starb auf dem Scheiterhaufen. Eine Frau, die auf diese Weise politisch handelt, kann von der patriarchalen Kultur zum Tode verurteilt werden – sie muss es aber nicht, wie das Beispiel der Teresa von Avila beweist: Sie wurde von derselben patriarchalen Kultur heiliggesprochen. Die Urteile des männlichen Denkens sagen über die Qualität weiblichen politischen Handelns nichts aus, auch nicht die der »linken« Tradition, die die Figur der Antigone zur Heldin erkoren haben, Harriet Beecher-Stowes »Onkel Tom« jedoch zum Feigling stempelten.

Was ist eine politische Tat? Wie verändert man die Welt? Ich würde nun antworten: Im Hören auf das weibliche Begehren, das sich, von Lob und Tadel der männlichen symbolischen Ordnung unbeirrt, an den »glänzenden Gesetzen« orientiert, die sich unserer Seele in Momenten gelungenen Zusammenlebens offenbaren. Viele Frauen tun das ohnehin, indem sie von ihrer persönlichen Situation ausgehen. Es kommt nun darauf an, diese »Subjektivität« des weiblichen Handelns als etwas zu verstehen, das nicht nur einem inneren Impuls folgt, sondern den objektiven Notwendigkeiten angemessen ist. Denn natürlich braucht politisches Handeln Kriterien, muss sich dem Urteil anderer stellen. Ein wichtiges Kriterium hat Annarosa Buttarelli vorgeschlagen: Weltveränderung, so schreibt sie, »ist nicht die Frucht des Willens, des Werke schaffenden Bewußtseins, sondern das Wiederauffinden von Sinn«. Wenn mein Handeln – meine Tat, meine Worte, meine Weigerung, mein Schweigen – den Sinn der gegebenen Realität entdeckt und für andere, Frauen und Männer, sichtbar macht, dann habe ich politisch gehandelt. Und die Welt verändert.


aus: Becker u.a. (Hg): Das Geschlecht der Zukunft. Frauenemanzipation und Geschlechtervielfalt, Kohlhammer 2000.


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