Wenn unsere Gewerkschaften heute Tarifverhandlungen führen, denken sie sicher nicht daran, dass das Wort Tarif aus dem Arabischen kommt. In der europäischen Kultur und in unserem Alltag lassen sich sehr viele ähnliche Beispiele finden, die deutlich machen, dass Orient und Okzident einander stärker durchdrungen haben, als uns vielleicht bewusst ist. Etwas, ohne das unsere heutige Zeit überhaupt nicht auskommen könnte, sind Zahlen. Die Einführung der arabischen Zahlen anstelle der komplizierten römischen Zahlen war ein großer Schritt. Die arabischen Zahlen sind freilich eigentlich indische Zahlen, was sich daran zeigt, dass sie nicht wie das Arabische von rechts nach links, sondern wie die meisten indogermanischen Sprachen von links nach rechts geschrieben werden – übrigens auch im arabischen Text. Was hätte das Abendland ohne diese Zahlen machen können, zum Beispiel ohne die Null, die den Abendländern zunächst einmal sehr verdächtig war? Es dauerte Jahrhunderte, bis die Nulla figura, die „nichts“ bedeutete, vollkommen akzeptiert wurde. So war die Mathematik etwas, was der islamische Orient dem Abendlande brachte. Sprechen wir nicht heute noch von der Algebra und vom Algorithmus, beides arabische Ausdrücke?
Auch wenn wir das „ZDF-Magazin“ sehen, denken wir kaum daran, dass Magazin ebenfalls
ein arabisches Wort ist. Gerade die Alltagssprache ist von
ursprünglich arabischen und persischen Begriffen durchdrungen, die
für uns absolut natürlich sind. Auch viele Wissenschaften wurden vom
Orient geprägt. So spielte die islamische Astronomie und, ihr
folgend, die Astrologie im Westen eine bedeutende Rolle. Nicht zu
vergessen die Chemie, die wir zunächst als Alchimie kennen und der
wir so wichtige Begriffe wie Alkohol verdanken. Das mag seltsam
scheinen, da der Islam ja den Wein verbietet, aber „Al-Kohl“
bezeichnet das Allerfeinste. Alchemistische Begriffe sind im
Mittelalter außerordentlich weit verbreitet gewesen, und heutzutage,
wenn wir an den Sternenhimmel schauen, erinnern uns die Namen vieler
Sterne wie Aldebaran und Beteigeuze ebenso wie die Worte Zenit und
Nadir an den arabischen Ursprung wissenschaftlicher Astronomie im
Westen.
Herder hat sicherlich recht, wenn er in seinen „Ideen
zur Philosophie der Menschheit“ schreibt: „Jeder Schritt zur
Vervollkommnung geschah unbewusst nach arabischem Muster.“ Auch
religiöse und philosophische Begriffe sind aus dem Morgenland ins
Abendland gelangt. Sogar in Dantes „Divina Commedia“ sind Spuren
islamischer Literatur zu finden. Enrico Cerulli, der italienische
Gelehrte, hat in seinem Buch über die „Göttliche Komödie“ gezeigt,
dass die Bücher über die Himmelsreise des Propheten, die man im
arabischen Bereich kannte, auch im Mittelalter in Europa mehr oder
weniger verbreitet waren. Es sind die Schilderungen, wie Mohammed
auf seiner geheimnisvollen nächtlichen Reise durch die Himmel und
Höllen geführt wird, dort die Qualen der Verdammten sieht und sich
in den verschiedenen Sphären mit den Propheten unterhält. Es scheint
so, dass sie zumindest als Anregungen auf Dante gewirkt haben.
Aus Indien kam über die islamische Welt eine große Anzahl von Fabeln und Märchen nach dem
Westen, die dann, in abgewandelter Form, das europäische Fabel- und
Märchenmaterial bereicherten. Auch mancher Kleriker oder Gelehrte
versuchte, sich etwas tiefer in den Islam einzuarbeiten. Ich denke
vor allen Dingen an die erste Koranübersetzung von 1143, die genau
400 Jahre später auf Anregung Luthers in Basel gedruckt wurde. Aber
ich denke auch an einen Mann, der immer wieder zu zitieren ist, wenn
es um den Versuch einer freundschaftlichen Begegnung zwischen
Christentum und Islam geht. Es ist Ramon Lull, der eine gute
Kenntnis des Arabischen hatte und der in seinen Büchern Dialoge oder
Trialoge zwischen Christen, Muslimen und Juden beschrieben hat – und
zwar interessanterweise, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu
kommen. Die Parabel Lessings von den drei Ringen, die ja über
Bocaccio zu ihm kam, ist bei Lull schon vorgebildet. Aber es wäre
verkehrt, wenn wir uns nur damit beschäftigten, was der Westen an
geistigen und wissenschaftlichen Dingen durch den Orient gelernt
hat. Die Kreuzzüge, grauenhaft, wie sie zum Teil waren, in denen die
christlichen Kreuzritter in Jerusalem nicht nur die Muslime sondern
auch die Juden aufs Schlimmste misshandelten und zum großen Teil
töteten, und die Eroberung Jerusalems haben tiefe Spuren in der
islamischen Literatur hinterlassen. Aber die Kreuzzüge brachten
trotz allem eine neue Welle von orientalischer Kunst und
orientalischem Wissen nach Europa. Man brachte kostbare Gefäße mit,
das Hedwigs-Glas zum Beispiel, jenes dicke, schön geschliffene Glas,
das angeblich die Heilige Hedwig aus dem Heiligen Lande mitgebracht
hatte.
Es sind darüber hinaus kostbare Stoffe gekommen, die
interessanterweise oftmals arabische Inschriften tragen, die für den
Abendländer sehr dekorativ erschienen. Wenige Menschen können sich
vorstellen, dass auf einem liturgischen Gewand arabische Sprüche,
vielleicht sogar das Glaubensbekenntnis, zu finden sind, wie es mein
Kollege Rudolf Sellheim für ein Bild der Madonna gezeigt hat, in
deren Schleier etwas verzerrt spiegelbildlich das islamische
Glaubensbekenntnis als Dekoration steht.
Textilien waren ein
kostbares Importgut in der Kreuzzugs- und Nachkreuzzugszeit, und der
Besitz orientalischer Stoffe, seien es Samte, seien es Seiden, war
ein Statussymbol. Das gilt in etwas späterer Zeit auch für die
orientalischen Teppiche. Wir finden sie zu Füßen des Thrones der
Madonna, wir finden sie als große Tischdecken, kurz: Sie werden als
besonders wertvoll angesehen. Die Verbindung zeigt sich auch an den
Namen von Textilien, die uns überkommen sind: Heißt nicht der Damast
nach Damaskus oder der Musselin nach Mossul? Wir sprechen von der
Joppe, vom Baldachin und vom Kattun – Namen, die zeigen, dass
Materialien oder die Dinge selbst aus dem Orient importiert wurden.
Mit dem Fall von Bagdad 1258 verlor das islamische Reich seinen ideellen Mittelpunkt. Es gab
zwar schon zahlreiche andere kulturelle Mittelpunkte, aber Bagdad
war doch in gewisser Weise ein Symbol gewesen. Es scheint, dass man
das Aufkommen der osmanischen Türken sehr aufmerksam beobachtet hat,
denn 1389 fing mit der Schlacht auf dem Kosovo Polje, auf dem
Amselfeld, die osmanische Herrschaft über den Balkan an, und damit
rückte das Osmanische Reich sehr nahe an die Grenzen des Abendlandes
heran. Man wurde immer stärker auf die wachsende Macht der Osmanen
aufmerksam. Die arabischen Völker spielten keine wichtige Rolle
mehr.
Mit dem Aufkommen des Interesses an den Türken kam es auch
dazu, dass Reisende in die Türkei gingen, und bereits im späten 15.
Jahrhundert finden wir Bellini am osmanischen Hof, um Porträts des
Sultans und seiner Großen zu zeichnen. Durch die Zeichnungen und
Holzschnitte von Melchior Lorchich bekam die westliche Welt einen
Eindruck, wie Konstantinopel aussah. Zum ersten Mal hatte man
authentische Bilder im Westen über das, was in der Türkei und im
ganzen osmanischen Reich vorging.
Groß war das Entsetzen, als die
Türken 1529 vor Wien standen und es lange, wenn auch erfolglos,
belagerten. Die Literatur, die zwischen 1529 und 1683 – der zweiten
vergeblichen Belagerung Wiens – entstanden ist, ist auch heute noch
hoch interessant, denn sie spiegelt den Hass und die Furcht des
Abendlandes vor den Türken wieder. Die Türkenlieder sind im
unflätigsten Deutsch gehalten und zeigen nur Spott und Hohn und
Angst und Verachtung gegenüber den osmanischen Türken. Und manchmal
hat man das Gefühl, als ob bei einigen Menschen im Hinterkopf noch
ein wenig von dieser Mentalität überlebt hat, obgleich fast 500
Jahre vergangen sind.
Auf der anderen Seite aber führte die Furcht vor den Türken dazu, dass man sich nach neuen
Bundesgenossen im Orient umsah, und hier stand der Iran an erster
Stelle. Der Iran, der seit 1501 ein Land geworden war, in dem die
Schia Staatsreligion war, schien ein Verbündeter gegen die Türkei zu
sein. Und so haben wir eine ganze Reihe von Kaufleuten und
Botschaftern, die sich nach dem Iran begaben, um dort die Lage
auszukundschaften. Die Reisenden machten aber nicht im Iran halt.
Sie zogen weiter nach Indien, dem Land, wo seit 1526 die Dynastie
der Großmoguln herrschte, eine türkisch- muslimische Dynastie, unter
der sich der höchste Prunk entfaltete, den man sich vorstellen kann.
Das 18. Jahrhundert schließlich ist die Zeit, in der langsam ein
neues Verhältnis zur islamischen Welt aufdämmert. In der frühen Zeit
war es die Welt des Anti-Christ; dann wurde es eine Zeitlang die
gefürchtete Welt der Osmanen. Es war erst in der Zeit der
Aufklärung, dass man versuchte, dem islamischen Orient ein klein
wenig näher zu kommen. Die ersten objektiven Studien über den
Propheten Mohammed, der nun nicht mehr als Anti-Christ und nicht
mehr als abtrünniger Kardinal angesehen wurde, erschienen 1715. Das
ist das erste Mal, dass man sich an den Propheten wagte.
Es war
Goethe, der in „Mahomets Gesang“ erstmals eine Würdigung des
arabischen Propheten geschaffen hat, die sich interessanterweise im
Einklang mit dem Islam befindet. Goethe wusste nicht, dass das Bild
des Stromes, mit dem er Mohammed in seinem Gedicht bezeichnet,
bereits im 10. Jahrhundert bei dem schiitischen Theologen Kulaini
vorkommt: „Der Prophet ist wie ein mächtiger Strom, der aus einer
kleinen Quelle beginnt und dann alles mit sich fortreißt.“ Der
indo-muslimische Philosoph und Dichter Mohammed Iqbal hat Goethes
„Mahomets Gesang“ ins Persische übersetzt und in seiner Fußnote
angemerkt, dass es kein schöneres Bild für den prophetischen Geist
gebe als dieses.
Das 18. Jahrhundert bringt auch noch etwas
anderes, was vielleicht im großen und ganzen sehr viel wichtiger für
das Orientbild der damaligen Zeit und zum Teil auch unserer Tage
ist, nämlich die erste Übersetzung der „Märchen aus Tausendundeiner
Nacht“. Bis 1910 gab es über 350 verschiedene Romane, Novellen,
Lieder, Singspiele, Opern, Operetten, die alle auf irgendwelche
Themen aus „Tausendundeiner Nacht“ zurückgingen und die immer wieder
die Leute begeisterten. Sie entwarfen ein völlig neues Bild des
Orients. Es war nicht mehr das des feindlichen Orients, es war nicht
mehr das des bösen Türken, es war das einer Welt voll Phantasie,
voll Schönheit und vor allen Dingen voll Sinnlichkeit.
Wenn Sie
an die europäische Literatur denken, dann wissen Sie, wie viele
Werke von den „Tausendundeinen Nächten“ beeinflusst sind. Der Name
Harun al Raschid, des abbasidischen Kalifen, der in vielen der
Märchen und Erzählungen vorkommt, wurde gewissermaßen zum
Gattungsnamen für den orientalischen Herrscher überhaupt. Die Stadt
Bagdad, in der viele der Geschichten spielen, wird zum Synonym für
den Orient. Das, was im Mittelalter die orientalischen Märchen- und
Fabelsammlungen gebracht hatten, als sie das Abendland durchdrangen,
das kam im 18. und 19. Jahrhundert nun wieder auf Europa zu – und
diesmal war Europa eher bereit, es anzuerkennen.
Die
„Tausendundeinen Nächte“ sind sicherlich kein echtes und
zuverlässiges Bild des islamischen Orients, aber ihr Einfluss auf
den Westen war ungeheuer. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass zur
gleichen Zeit, als diese frivolen und sehr offenherzigen Geschichten
im Westen bekannt wurden, auch zum ersten Mal eine echte
wissenschaftliche Beschäftigung mit dem islamischen Orient einsetzt.
Wir haben in Österreich, in Frankreich und Holland erste Versuche,
eine wissenschaftliche Arabistik aufzubauen. Freilich war sie in den
meisten Fällen als „Magd der Theologie“ gedacht; das heißt, man
versuchte, durch die Kenntnis des Arabischen zu einem besseren
Verständnis des Hebräisch des Alten Testaments zu gelangen. Es war
ein Deutscher, der zum ersten Mal wirklich objektiv versuchte, sich
der Islamwissenschaft und dem Arabischen zu nähern, nämlich Johann
Jakob Reiske, ein Freund Lessings, der ihn sehr bewunderte. Zur
gleichen Zeit erschienen auch mehr und mehr Koranübersetzungen. Das
beginnt schon im 17. Jahrhundert mit lateinischen Übersetzungen; in
der Goethezeit haben wir dann auch deutsche Übersetzungen.
Wenn wir fragen, wie der Orient unsere Kultur beeinflusst hat, dürfen wir aber auch die
Wirkung der islamischen Kunst und der islamischen Schönheitsideale
auf Europa nicht vergessen. Man begann in der Zeit von Holbein, sich
für die Arabeske zu interessieren, jenes typische orientalische
Ornament, das aus der Gabelblattranke besteht, bei der sich immer
wieder aus den Stengeln Blüten und daraus Blätter und aus den
Blättern neue Blüten entwickeln. Es sind die Gärten, die man liebte
– hier als abstrakte Formen für die Ewigkeit erhalten. Man begann,
auch in der Musik orientalische Motive zu übernehmen – wir brauchen
nur an Mozarts „Türkischen Marsch“ zu denken, aber es gibt darüber
hinaus unendlich viele musikalische Anklänge an Janitscharen-Musik
und an orientalische Klänge.
In der Kunst entdeckt man plötzlich
die Turquoiserien; man lässt sich im türkischen Kostüm malen; im 19.
Jahrhundert entsteht dann die orientalisierende Malerei. Es gibt
unerhört freizügige Haremsszenen, die in jener Zeit modern wurden,
gemalt von Menschen, die nie einen Harem von innen gesehen hatten.
Aber nackte badende Damen in den Orient zu versetzen, war leichter,
als sie im westlichen Milieu darzustellen. Auch die Baukunst blieb
nicht unbeinflusst. Der Palast in Brighton in England zeigt die
Architektur Indiens in verwässerter Form, und in Dresden wurde eine
Zigarettenfabrik in Form einer Moschee gebaut. Das spiegelte den
malerischen, romantischen und verspielten Orient wider, genauso wie
der niedliche kleine Sarotti-Mohr, der uns die Schokolade bringt.
Es bedurfte großer Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts, um sich auf den wirklichen Orient zu
besinnen. Denken Sie an August Macke oder noch mehr an Paul Klee, in
dessen Bildern nicht nur das orientalische Licht, sondern auch die
Rhythmik und die Abstraktion der orientalischen Kunst wiedergegeben
ist.
Alle diese kleinen Beispiele sollen uns zeigen, dass sich
der Westen, und vor allen Dingen auch Deutschland, mit der
islamischen Welt immer wieder auseinandergesetzt hat. Wahrscheinlich
war es, mit Ausnahme der Geschichten der „Tausendundeinen Nächte“,
immer nur eine kleine elitäre Gruppe, die den Orient so verstanden
hat, wie es die gerade genannten Dichter und Maler getan haben.
Wenn wir fragen, was jetzt unsere Aufgabe ist, wenn wir uns mit
dem Orient beschäftigen, dann kann ich nur sagen: Wir sollten
versuchen, über das Oberflächliche hinwegzukommen; wir sollten etwas
tiefer eindringen, soweit wir es können. Man kann dem Orient nicht
in einer flüchtigen, kleinen Begegnung gerecht werden. Man kann den
Orient nur mit einem liebenden Herzen verstehen, wie ja alles
Verstehen eigentlich liebendes Verstehen ist. Wenn Goethe einmal
gesagt hat, „Herrlich ist der Orient/ übers Mittelmeer gedrungen/
nur wer Hafiz liebt und kennt/ weiß, was Calderón gesungen“, dann
hat er sicherlich, wie in so vielen Dingen, das Rechte getroffen.
Es scheint mir, als ob gerade wir Orientalisten die Pflicht
haben, jene positiven Aspekte der islamischen Kultur immer wieder
herauszuarbeiten. Wir sollten uns nicht von den Medien überrennen
lassen, die immer nur auf das Spektakuläre und möglichst auch das
Abscheuliche hinweisen. Wir sollten uns in Anerkennung dessen, was
Generationen vor uns an wissenschaftlicher Arbeit geleistet haben,
dem Orient nähern; dann werden wir – vielleicht – einen Weg finden,
auf dem beide Seiten gewinnen werden: der Orient durch die Begegnung
mit der tiefverwurzelten europäischen Kultur und wir durch die
Kenntnis einer unendlich reichen Vergangenheit und einer
vielseitigen Kultur. Dann dürfen auch wir vielleicht eines Tages
sagen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.
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