Regina Berlinghof:

Die Antworten der Mystiker auf Gotteslästerung (Blasphemie)

Nachträge zur Diskussion um Salman Rushdie und Annemarie Schimmel

Der Vorwurf der Blasphemie wird heutzutage von den Fundamentalisten aller Glaubensrichtungen gegen die gottlosen Atheisten des aufklärerischen, verderbten Westen erhoben. Gotteslästerei, Blasphemie wird als Beleidigung Gottes und damit auch als Beleidigung der gottesfürchtigen Gläubigen gesehen und geahndet. Die Fatwa gegen Salman Rushdie ist nur das krasseste Beispiel in unserer Zeit.

Dabei unterschlagen die Fundamentalisten sehr geschickt, daß ihre Position nicht nur von den "Gottlosen" angegriffen wird, sondern meist auch von den Frömmsten der Frommen, den Mystikern. Gerade die tiefreligiösen Mystiker haben immer Anstoß bei ihren Glaubensgenossen erregt (und ich bin sicher: lebten und lehrten sie heute, die Fundamentalisten würden sie schlimmer als Salman Rushdie verfolgen!)

Leider hat dies auch Frau Schimmel vergessen, wenn sie die verletzten religiösen Gefühle der Muslime beklagt. Dann argumentiert sie aus dem Geist des Fundamentalismus und des religiösen Establishments, aber nicht aus dem Geist der von ihr sonst so geliebten Mystiker.

Was also hat Dschalaleddin Rumi, der große Mystiker des Islam unter vergleichbaren Umständen gesagt und gelehrt? Ich zitiere jetzt durchgängig aus Annemarie Schimmels Buch über Dschalaleddin Rumi, einen der größten Mystiker des Islam.

Annemarie Schimmel: "Rumi - Ich bin Wind und du bist Feuer." Leben und Werk des großen Mystikers, erschienen bei Diederichs.

Rumi lebte zur Zeit der Niederlagen gegen die "heidnischen" Mongolen. Als die Seldschuken die Mongolenherrschaft anerkennen mußten, wurde auch sein Leben völlig verändert. Fluchte er den heidnischen Eroberern, rief er zum Kampf gegen die Unterdrücker auf? Er sprach: (S. 17)

"Die Menschen fliehen vor den Mongolen -
Wir dienen dem Schöpfer der Mongolen..."

und: S.26

"Ist es nicht so, daß du, wenn du durch verbotene Getränke oder Haschisch oder durch Musikhören oder aus irgendeinem Grund entzückt bist - daß du zu dieser Zeit sogar mit deinem Feind einverstanden bist und ihm vergibst und die Neigung hast, ihm Hände und Füße zu küssen? In dieser Stunde sind Gläubige und Ungläubige gleich in deinen Augen." Wer so ist: "Wie sollte er irgend jemand hassen oder etwas gegen ihn vorhaben? Gott bewahre!"

Rumi weiter (S. 113)

"Wenn du einen Fehler in deinem Bruder siehst, so liegt der Fehler, den du in ihm siehst, in dir selbst ... Reinige dich von diesem Fehler in dir; denn was dich in ihm stört, stört dich in dir selbst." Steht so etwas Ähnliches nicht auch im Neuen Testament der Christen?

weiter S. 86:

"Wenn der Suchende ins Farbfaß Gottes (Sura 2/138) eingetreten ist, weiß er, daß auch Glaube und Unglaube nur Seine Türhüter sind, ... und daß die Gegensätze dieser Welt nur wie Stroh- und Tangpartikelchen sind, die das klare Wasser des Stromes verdecken."

S. 96 Frau Schimmel selbst: "In seiner neuerwachten Liebe begreift er [der Mensch], daß Gott die Quelle alles Geschaffenen, der Ursprung jeder Handlung ist:

Rumi:

"Macht er mich zum Becher, so werde ich Becher;
Macht er mich zum Dolche, so werd' ich ein Dolch;
Macht er mich zur Quelle, so gebe ich Wasser;
Macht er mich zu Feuer, so schenke ich Glut;
Macht er mich zum Regen, so bringe ich Ernte;
Macht er mich zur Nadel, so stech' ich in den Leib;
Macht er mich zur Schlange, so spritze ich Gift aus;
Macht er mich zum Freunde, so diene ich ihm..."

Würde er angesichts der Fatwa nicht sagen:
Macht er mich zum Lästerer, so lästere ich zu seiner Ehre...?

Die Mystiker aller Glaubensrichtungen - und auch Rumi - sehen noch im Niedrigsten und Verächtlichsten das Wirken Gottes - also auch die Lästerung und den Lästerer als Werkzeug Gottes.

S. 29 Zitat von Rumi

"Nimm den Fall des heißen Bades. Seine Hitze stammt von dem im Ofen verwendeten Brennmaterial, wie trockenem Heu, Feuerholz, Dung und ähnlichem. Gott der Erhabene bringt Mittel hervor, die, obgleich der äußeren Erscheinung nach häßlich und verabscheuungswürdig, in Wirklichkeit Instrumente der göttlichen Gunst sind. Wie das Bad wird auch der Mann, der von solchen Mitteln befeuert wird, heiß und wirkt zum Nutzen aller Menschen."

Schimmel S. 80 ff.:

"Rumis Vertrauen auf die Weisheit und Liebe Gottes, die sich in diesen widerstreitenden Erscheinungen enthüllt, ist grenzenlos. Er weiß, daß nichts ohne Gottes Erlaubnis geschieht, daß kein Blatt ohnen Seinen (!) Willen vom Baume fällt, kein Bissen ohne seine Erlaubnis gegessen wird, und daß vieles, was wie Schaden aussieht, sich auf lange Sicht als Nutzen erweisen wird:

'Und für ein halbes gibt Er hundert Leben,
Das, was man nie erdacht, das wird Er geben.'

Mit Erstaunen sieht der Betrachter, daß Gift für die Schlange ein Teil ihrer Stärke ist, während es für andere Wesen tödlich wirkt.
...
Der Mensch, gehalten zwischen zwei Fingern Gottes, erlebt diese widersprüchlichen Manifestationen der göttlichen Aktivität in jedem Augenblick... Deshalb gibt es für Rumi nichts absolut Böses."

"Der Mensch wird nie verstehen, wie alle diese Gegensätze Gottes Lob verkünden können; er steht verwirrt und verstört vor dem Spiel der Schöpfermacht. Erst wenn er zur Schau des göttlichen Geliebten gelangt ist, sieht er, daß in der göttlichen Vollkommenheit, kamal, die auf dem irdischen Plan widerstreitend scheinenden Attribute und Manifestationen in eines zusammenfallen. Goethes Wort:

'Und alles Drängen, alles Streben
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn'
...drückt auch Maulanas [Rumis] Überzeugung aus."

Fern von solchem Verständnis mußte sich Rumi gegen Vorwürfe wehren, er verbreite obszöne Anekdoten:

S. 41:

"Meine schmutzigen Witze sind keine schmutzigen Witze, sie sind Instruktion."

Erinnert er damit nicht an Jesus, dem man die unheilige Gemeinschaft mit Huren und Zöllnern übelnahm?

Hätte Frau Schimmel doch bei Rumi etwas gelesen, bevor sie die Tränen der Gläubigen mitbeweint. Denn dann hätte sie Rushdie keine Vorhaltungen gemacht, sondern wie Rumi die weinenden Gläubigen getröstet - und an das Beste ihres Glaubens erinnert:

S. 132 Rumi

"Was ist Sufismus? Er sprach: "Freude finden
Im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt."

S. 135

"Es hat keinen Zweck, im Unglück und Schmerz zu schreien und zu jammern; denn dann erreicht man sein Ziel nicht."

Und was ist das Ziel: - nicht die Verfolgung der Ungläubigen oder Lästerer, sondern:

"Was ist's, das Einheitsbekenntnis zu lernen?
Es ist: sich vor dem Einen zu verbrennen!"

und:

"Was du auch denkst, es wird vergänglich sein -
Was kein Gedanken fassen kann, ist Gott."
(beide S. 87)

Und würde Rumi zur Fatwa sich nicht selbst zitieren: (S. 162/3)

"Gelobt sei Gott für diese Nichterhörung!
Er wollte Nutzen; ich hielt's für Zerstörung.
Wie manch Gebet ist zum Verlust und Schaden -
Der reine Gott erhört es nicht aus Gnaden."

Gerade weil die Mystiker (aller Glaubensrichtungen) selbst die niedrigsten und "verachtenswertesten" Dinge noch lieben und bejahen und selbst in dem Wirken der Feinde der Gläubigen und in der Lästerung Gottes noch Gottes Liebe erkennen können, wurden viele von ihnen zu Lebzeiten als Abweichler und Ketzer verfolgt (ihre Anhänger machten sie später zu Heiligen und Religionsstiftern) - oder man belächelte sie als Narren, die man nicht ernstzunehmen braucht.

Im Christentum sind die besten Beispiele für beide Spielarten Franz von Assisi und Meister Eckehart. Beide sprechen - wie alle Mystiker - aus der unmittelbaren eigenen Gottesschau und gehen über die Bilder und Lehren der Bibel und der kirchlichen Dogmata weit hinaus. Franz von Assisi wird geliebt - und belächelt, wenn er den Tieren predigt. Denn er erkennt in ihnen die göttliche Gegenwart ebenso wie in jedem Menschen - und auch in der "unbelebten" Materie. Nur deshalb kann er von Bruder Sonne und Schwester Mond sprechen. Seine Predigten und Bilder strahlen unmittelbar die Liebe aus, die ihn ganz erfüllte. Er setzt seine Schau in poetische Bilder um, greift aber die kirchlichen Lehren nicht direkt an. Darum konnte er von der Kirche integriert werden. Anders mit Eckehart, der als Ketzer angeklagt und verfolgt wurde. Denn er spricht nicht nur in Bildern - er argumentiert und schlußfolgert, und dies in ganz anderer Weise als die offizielle Kirche. Er begibt sich auf der Ebene der gelehrten Diskussion und wird damit für die Kirche gefährlich. Denn er wollte "mehr wissen als nötig war". Man warf ihm vor, sein Ohr von der Wahrheit abzukehren und sich Erdichtungen zuzuwenden. In der Bulle von Papst Johannes XXII. vom 27. März 1329 wird dies so begründet: (Zitiert aus "Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate, herausgegeben von Josef Quint, Hanser-Verlag, München (S 449 f.))

"... tun Wir kund, daß in dieser Zeit einer aus deutschen Landen, Eckehart mit Namen, und, wie es heißt, Doktor und Professor der Heiligen Schrift, aus dem Orden der Predigerbrüder, mehr wissen wollte als nötig war und nicht entsprechend der Besonnenheit und nach der Richtschnur des Glaubens, weil er sein Ohr von der Wahrheit abkehrte und sich Erdichtungen zuwandte. Verführt nämlich durch jenen Vater der Lüge, der sich oft in den Engel des Lichts verwandelt, um das finstere und häßliche Dunkel der Sinne statt des Lichtes der Wahrheit zu verbreiten, hat dieser irregeleitete Mensch, gegen die helleuchtende Wahrheit des Glaubens auf dem Acker der Kirche Dornen und Unkraut hervorbringend und emsig beflissen, schädliche Disteln und giftige Dornsträucher zu erzeugen, zahlreiche Lehrsätze vorgetragen, die den wahren Glauben in vieler Herzen vernebeln...

Folgende Sätze Meister Eckeharts sind mit dem Bannfluch belegt worden:

  1. "In jedem Werk, auch im bösen, im Übel der Strafe ebensosehr wie im Übel der Schuld, offenbart sich und erstrahlt gleichermaßen Gottes Herrlichkeit.

  2. Wer jemanden mit einer Schmähung lästert, lobt Gott durch diese Sünde der Schmähung; und je mehr er schmäht und je schwerer er sündigt, um so kräftiger lobt er Gott.

  3. Wer Gott selbst lästert, lobt Gott.

  4. Wenn ein Mensch tausend Todsünden begangen hätte, und es wäre ein solcher Mensch in rechter Verfassung, so dürfte er nicht wünschen, er hätte sie nicht begangen.
  1. Gott ist weder gut noch besser noch vollkommen; wenn ich Gott gut nenne, so sage ich etwas ebenso Verkehrtes, als wenn ich das Weiße schwarz nennen würde."



Zwei andere Beispiele, diesmal aus dem Zen-Buddhismus. Man könnte die Zen-Meister auch die göttlichen Narren des Buddhismus nennen. Der Kaiser von China fragte Bodhidharma:

"Was ist der höchste Sinn der heiligen Wahrheit? Bodhidarma:
"Offene Weite - nichts von heilig."

Und Tozan, befragt,

"Was ist Buddha?", antwortete "Eine Handvoll Hanf", und auf die gleiche Frage sagte Umnon: "Ein Scheißstock!" (Für uns heute: ein benutztes Stück Toilettenpapier!)
Zitiert aus "Zenkei Shibayama: Zu den Quellen des Zen, Heyne-Verlag, München (S. 167 und 192)

Das Anstößige der Mystiker liegt darin, daß sie nicht ausgrenzen und nicht unterscheiden - nicht zwischen heilig und unheilig, nicht zwischen Gotteslob und Gotteslästerung. Denn in der Erfahrung der Einheit mit Gott und dem Ganzen ist nichts vom Göttlichen getrennt oder ausgeschlossen. Schleiermacher (denn auch die Romantiker kann man unter die Mystiker zählen) drückt es so aus:

"Nur der Trieb anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Fesseln der Meinung und der Begierde. ... im Unendlichen aber steht alles Endliche ungestört nebeneinander, alles ist eins und alles ist wahr. ... Die Anhänger des toten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt, die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen, oder wenn sie sich umsahen, jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigne Art gern vergönnend. ... Einem frommen Gemüte macht die Religion alles heilig und wert, sogar die Unheiligkeit und Gemeinheit selbst."

Zitiert aus "Friedrich Schleiermacher "Über die Religion - Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern", Verlag Philipp Reclam jun. , Stuttgart (S. 44 und 45)