Schlampig und methodisch antiquiert

Prof. Michael Salewskis misslungene
Geschichte des Ersten Weltkriegs

von Fritz Klein (DIE ZEIT 13/2003)

(Links und Bilder: Nikolas Dikigoros)

Den Tausenden von größeren und kleineren Arbeiten zur Geschichte des Ersten Weltkrieges eine weitere, bisherige Erkenntnisse weiterführende, hinzuzufügen ist gewiss keine einfache Aufgabe – zumal in einer Zeit, in der die Forschungen international einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren haben. Der Kieler Historiker Michael Salewski war sich solcher Schwierigkeit offenbar bewusst, als er sich entschloss, eine akademische Vorlesung aus dem Wintersemester 2000/2001 drucken zu lassen. Er wolle anregen, aus der Vergangenheit heraus über Gegenwart und Zukunft nachzudenken, schreibt er und sagt von seinem Produkt, es sei keine „rudimentäre Monographie, sondern eine eigenständige Textsorte“. Was sich unter der kryptischen Bezeichnung verbirgt, kann nicht überzeugen.

Wie kommt Kohls Tagebuch in die Rubrik „Quellen“?

Kritik muss zunächst heraus fordern, wie unbekümmert der Autor, der seine Studenten nachdrücklich ermahnt, Geschichte „gründlich zu betreiben“, mit einfachen Tatsachen umgeht. Da schreibt er die Losung aus Büchners Hessischem Landboten „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ mit denunziatorischem Unterton als „berühmt-berüchtigtes Motto“ der Neuen Rheinischen Zeitung von Marx und Engels zu, nennt Namen von fünf Kritikern der Zustimmung zu den Kriegskrediten in der sozialdemokratischen Fraktionssitzung am 3. August 1914, von denen nur einer, Liebknecht, stimmt, während alle anderen, Mehring, Luxemburg, Pieck und Zetkin, aus dem einfachen Grunde an der Sitzung gar nicht teilgenommen hatten, weil sie keine Reichstagsabgeordnete waren.

Dass einer von drei deutschen Soldaten persönlich die Hölle von Verdun erlebt habe, was bei den insgesamt über 13 Millionen Mobilisierten mehr als 4 Millionen gewesen wären, ist eine unsinnige Übertreibung. Nicht Walther Rathenau war während des Krieges Gesandter in Kopenhagen und 1917 aktiv beteiligt an den Vorbereitungen für die Durchreise Lenins nach Russland, sondern Brockdorff-Rantzau. Der am 7. Mai 1918 unterzeichnete Friedensvertrag von Bukarest wurde geschlossen von den Mittelmächten und dem geschlagenen Rumänien. Die Ukraine, die wiederholt bei Salewski, sogar in einem irrig datierten Foto, als Unterzeichner des Bukarester Friedens vorkommt, war an ihm nicht beteiligt. Mit ihr hatten die Mittelmächte in Brest-Litowsk am 9. Februar 1918 Frieden geschlossen. Es war dieser Vertrag, der als „Brotfrieden“ bezeichnet wurde, und nicht der mit Rumänien, wie Salewski ganz unüberlegt schreibt. [Der Friede mit Rumänien wurde als "Öl-Friede" bezeichnet, Anm. Dikigoros]

Nicht Erzberger, sondern Scheidemann prägte 1919 das Wort von der Hand, die verdorren solle, unterzeichne sie den „Schandvertrag“.

Mit einem Literaturverzeichnis zu rechten, ist bei einem Thema wie diesem eigentlich müßig. So schludrig zusammengestoppelt wie dieses braucht es aber nicht zu sein, und man darf sich doch wohl wundern, wie Helmut Kohls Tagebuch 1998–2000 in die Rubrik „Quellen“ geraten ist, in der Standardwerke wie die vorzügliche Edition der Protokolle der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 1914 bis 1918 oder die Dokumentation von Scherer und Grunewald L'Allemagne et les Problèmes de la Paix pendant la Première Guerre mondiale fehlen.

[Salewski lehrte Neuere Geschichte. Die Einführung der Studenten in die wissenschaftliche Arbeitsmethode des Historikers erfolgt aber an deutschen Universitäten traditionell im Proseminar Mittelalterliche Geschichte; Salewski - der als Student wohl in der Unterrichtseinheit "Unterscheidung von [Primär-]Quellen und [Sekundär-]Literatur" geschlafen hatte - brauchte als Professor davon nichts mehr zu wissen; Fritz Klein scheint den Unterschied allerdings auch nicht zu kennen, sonst wäre seine Kritik noch viel drastischer ausgefallen, Anm. Dikigoros.]

Irreführend ist der Titel des Buches. Nicht der Erste Weltkrieg ist Gegenstand der Darstellung, sondern, auch dies höchst lückenhaft, Politik und Kriegführung Deutschlands in diesem Krieg. Es ist ein schwer verständlicher Rückschritt gegenüber Haupttendenzen der jüngeren Weltkriegsforschung, die zum einen etwa in den strikt international ausgerichteten Aktivitäten des Mémorial de la Grande Guerre in Péronne die alte, national beschränkte Sicht auf den Krieg eindrucksvoll überwunden und zum anderen das frühere Bild vom Ersten Weltkrieg durch facettenreiche kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Untersuchungen ganz wesentlich bereichert hat. Von alledem ist bei Salewski nur andeutungsweise die Rede. Was er bietet, ist ein vielfach unscharfes, in sich häufig widersprüchliches Räsonnement über die Interpretation des Krieges, gewürzt durch vergleichende Hinweise auf spätere Ereignisse, vor allem des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges.

So wendet er gegen die Kritik „besserwisserischer Historiker“ an der Unfähigkeit der Verantwortlichen zu kühl-rationaler Krisenstrategie in der Julikrise 1914 ein, dass es mit der Krisenreaktionfähigkeit der USA in der Kubakrise 1962 kein Deut besser bestellt gewesen sei, ein törichter Vergleich zwischen unvergleichbaren, weil durch ganz verschiedene Umstände bedingten Situationen – ganz abgesehen davon, dass der Vergleich in der Hauptsache ja nicht trifft. Denn was 1914 nicht gelang, gelang eben 1962, die Abwendung des Krieges, was von Salewski simpel damit erklärt wird, Kennedy hätte eben Glück gehabt, Bethmann und der Kaiser nicht. „Gründliche Geschichtsschreibung“ ist etwas anderes.

Entschiedener Gegner der Griff nach der Weltmacht-These Fritz Fischers, beklagt er die Monopolstellung der Fischer-Deutung, die in Wahrheit nie bestanden hat. In den Chor der Fischer-Kritiker – deren Anliegen, faktengestützt und intelligent vorgetragen, grundsätzlich ja legitim ist – reiht sich Salewski auf sehr eigene Art ein. Vor die Erörterung der deutschen Kriegsziele, meint er, müsse man diejenigen der Gegenseite setzen. Das Kriegsziel Frankreichs sei die Zerstörung des Deutschen Reiches gewesen.

Logischerweise erscheinen solcher Zielsetzung gegenüber, die in ihrer groben Vereinfachung nicht zutrifft, die Kriegsziele der Deutschen in milderem Licht. Defensive Teile macht Salewski im „Septemberprogramm“ Bethmann-Hollwegs von 1914 aus und zählt dazu die Idee der Wiederherstellung eines Königreiches Polen als eines deutschen Satellitenstaates, die „Vereinnahmung“ Lüttichs und Antwerpens, „vielleicht auch“ der flandrischen und nordfranzösischen Küste sowie der Kanalhäfen.

Als hegemoniale Teile des Programms erscheinen die besonders von der Schwerindustrie angemahnten „Verbesserungen“ an der Westgrenze, wo es um Longwy, Briey, Lothringen, Verdun und Belfort ging. Auch diesem Teil gewinnt der Autor aber etwas ab, sei die Grundidee doch spiegelbildlich das, was Poincaré 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebiets verfolgte, die Verbindung von Erz und Kohle, ein natürlicher Gedanke, der dann von Adenauer und Schumann mit der Montanunion zum Besten der deutsch-französischen Aussöhnung aus dem beiderseitigen Hegemonialstreben gelöst worden sei. Es gehört zu den Ungereimtheiten des Buches, dass der Autor, der so verständnisvoll über ein Programm urteilt, das er zugleich als undurchsetzbar und für keine Gegenseite akzeptabel bezeichnet, mit Worten aus der untersten Schublade marxistisch-leninistischer Imperialismusschelte über die alldeutsch inspirierte Intellektuelleneingabe vom Mai 1915 herfällt. Nie habe sich die „häßliche Fratze eines chauvinistischen Imperialismus“ deutlicher gezeigt, sagt er über deren, wahrlich kritikwürdige, Forderungen, die jene des „Septemberprogramms“ deutlich übertrafen. Welten aber lagen gleichwohl nicht zwischen beiden.

Abwegig ist das ständige Hantieren mit Vergleichen

Da und dort finden sich in dem Buch auch anregende Gedanken und wissenswerte Mitteilungen, etwa zur Seekriegsführung, über die Salewski früher eigene Forschungen betrieben hat, oder zur Bedeutung des Eintritts der USA in den Krieg. Im Ganzen überwiegt aber der Eindruck von Oberflächlichkeit und Rückständigkeit. Niemand habe vor 1914 an einen vierjährigen Krieg gedacht, eine Fehlinformation, die nicht nur die viel zitierten Voraussagen von Engels und dem älteren Moltke außer Acht lässt, sondern auch die in den letzten Jahren von Stig Förster angestoßene Debatte über die „Illusion vom kurzen Krieg“ ignoriert.

Abwegig bleibt das ständige Hantieren mit historischen Vergleichen, die in aller Regel nichts Relevantes für ein vertieftes historisches Verständnis zutage fördern. Es ist richtig, dass die deutschen Truppen bei ihrem Vormarsch in Richtung Petrograd nach der Kündigung der Brest-Litowsker Friedensverhandlungen durch Trotzkij im Februar 1918 so gut wie keinen Widerstand fanden. Warum dies aber an die Situation der Alliierten nach der Verhaftung der Regierung Dönitz im Mai 1945 erinnert, ist so schleierhaft wie der Zusammenhang zwischen der „Michael“-Offensive im Frühjahr 1918 und der Abwehr der Invasion von 1944 oder die Erwägung, ob „die triumphale Behauptung der Nato gegenüber dem Osten“ nicht irgendwie Ludendorff zu verdanken sei, habe dieser doch durch sein Drängen auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg die USA in den Krieg gebracht und damit die Grundlage des westlichen Bündnisses geschaffen.


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