HOLOCAUST - PROTOKOLL DER HÖLLE

Eines der erschütterndsten Dokumente des Holocaust ist endlich auf Deutsch erschienen.
Und ein weiteres Buch, das neues Licht auf den Judenmord im Baltikum wirft

von Volker Ullrich (Die ZEIT, 29.04.2004)

mit einer boshaften Anmerkung von N. Dikigoros

Ponary, ein kleiner Ort, zehn Kilometer südlich von der litauischen Hauptstadt Vilnius, war bis Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel. Doch nach der Besetzung Litauens durch die deutsche Wehrmacht Ende Juni 1941 wurde er zum Inbegriff des Schreckens. In einem nahe dem Orte gelegenen Waldgebiet wurden zwischen Juli 1941 und Juli 1944 insgesamt fast 100.000 Menschen ermordet, darunter allein 70.000 Juden aus Vilnius und Umgebung sowie zahlreiche sowjetische Kriegsgefangene und polnische Widerstandskämpfer. Noch unter sowjetischer Herrschaft waren hier seit Herbst 1940 riesige Gruben für eine geplante Heizöl-Tankanlage ausgehoben worden; sie dienten nun den neuen Herren als Exekutionsstätte. Die Opfer wurden in Gruppen an die Gruben herangeführt und dort von deutschen Todesschwadronen und ihren litauischen Kollaborateuren, Mitgliedern nationalistischer, paramilitärischer Freiwilligenverbände, erschossen.

Natürlich war die deutsche Besatzungsmacht daran interessiert, den Massenmord geheim zu halten. Doch schon früh kursierten, wie man dem Tagebuch der Mascha Rolnikaite entnehmen kann, im Ghetto von Vilnius Gerüchte über das, was in Ponary geschah. Und es gab, was die Nazischergen und ihre eifrigen litauischen Helfershelfer nicht wussten, einen heimlichen Augenzeugen am Orte selbst: den polnischen Journalisten Kazimierz Sakowicz. Am 11. Juli 1941 hörte er zum ersten Mal Schüsse aus dem unmittelbar an sein Haus angrenzenden Waldstück. Fortan beobachtete er vom Dachboden aus, wie nun Tag für Tag Lastwagen vorfuhren mit den Todgeweihten, wie Männer, bald auch Frauen und Kinder wie Schlachtvieh zur Hinrichtungsstätte geprügelt wurden, wie die Mörder Jagd machten auf Flüchtende, die den Erschießungskommandos zu entkommen suchten. Überdies zog er Erkundigungen ein, unter anderem bei Bahnangestellten, die die Deportationszüge nach Ponary dirigierten, und bei Bauern, die den jungen litauischen Mordschützen die Kleidungsstücke der Ermordeten abkauften.

Seine Beobachtungen notierte Sakowicz auf kleinen Zetteln und Kalenderblättern. Er steckte die Aufzeichnungen in Limonadenflaschen und vergrub sie in seinem Garten. Dort wurden sie nach der Befreiung Litauens durch die Rote Armee Mitte Juli 1944 gefunden. Der Tagebuchschreiber selbst erlebte die Befreiung nicht mehr. Er war wenige Tage zuvor von unbekannten Litauern angeschossen worden und kurz darauf seinen Verletzungen erlegen. Jahrzehntelang lagen seine Notizen mit dem Stempelaufdruck „unleserlich“ im Zentralarchiv Litauen. Erst vor sechs Jahren gelang es einer Mitarbeiterin des Jüdischen Museums in Vilnius, der Holocaust-Überlebenden und jüdischen Widerstandskämpferin Rachel Margolis, die vergilbten Blätter zu entziffern. 1999 veröffentlichte sie das Tagebuch in einem kleinen polnischen Verlag, und erst jetzt ist eine deutsche Ausgabe erschienen, ebenfalls in einem kleinen Verlag.

Ohne Zweifel handelt es sich um eines der wichtigsten und zugleich entsetzlichsten Zeugnisse des Holocaust, die dank einiger glücklicher Umstände auf uns gekommen sind. Die grauenvollen Szenen, die sich vor den Gruben abspielten – sie sind nirgendwo so direkt, aus dem unmittelbar Erlebten und Gehörten beschrieben worden, sofern sich das Inferno überhaupt beschreiben lässt. Die Feder sträubt sich, aus diesem Tagebuch zu zitieren. Man muss es lesen, Zeile für Zeile, und wird sich dabei wieder und wieder die Frage stellen, wie das möglich war – dieser völlige Verlust jeder humanen Regung, dieser vollkommene Abbau jeglicher Tötungshemmung aufseiten der deutschen Täter und ihrer litauischen Handlanger.

Die Eintragungen brechen mit dem 6. November 1943 ab; das Morden aber ging weiter, in Ponary und an anderen Orten. Von den 200000 litauischen Juden überlebten nur wenige tausend die deutsche Schreckensherrschaft.

In Litauen war der Holocaust und die höchst aktive Rolle, welche die eigenen Landsleute dabei gespielt hatten, lange Zeit ein Tabuthema. Man sah sich selbst gern als Opfer – und zwar der stalinistischen Repression. Erst nach der Unabhängigkeit 1991 hat sich hier ein Wandel vollzogen. Litauische und deutsche Historiker haben gemeinsam damit begonnen, das düsterste Kapitel der gemeinsamen Geschichte aufzuarbeiten.

Woher die große Bereitschaft zur Kollaboration?

Eine erste Frucht dieser Bemühungen ist nun das Buch Holocaust in Litauen. Es versammelt achtzehn Beiträge deutscher, litauischer und amerikanischer Wissenschaftler, darüber hinaus vier Erinnerungsberichte von überlebenden litauischen Jüdinnen und Juden. Ein Aufsatz widmet sich auch der Mordstätte Ponary (Christina Eckert), doch das Themenspektrum umfasst den gesamten Prozess der Ermordung der litauischen Juden – von den ersten 14 Tagen im Juni 1941, als die deutschen Truppen von den meisten Litauern begeistert als „Befreier“ begrüßt wurden (Joachim Tauber), über die deutsche Besatzungspolitik (Christoph Dieckmann), die enge Kooperation zwischen Wehrmacht und Einsatzgruppen (Kim C. Priemel), die Rolle der litauischen Sicherheitspolizei und der Hilfspolizeibataillone (Michael MacQueen, Arunas Bubnys), Leben und Sterben im Ghetto Kaunas (Alexander Neumann), den jüdischen Widerstand im Ghetto von Vilnius (Petra Peckl) bis hin zu den unzulänglichen Versuchen nach 1945, der Mörder habhaft zu werden (Martin Dean). Zwei biografische Beiträge befassen sich mit zwei sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, zum einen mit dem Leiter des Einsatzkommandos3 SS-Standartenführer Karl Jäger, einem der fürchterlichsten Exekutoren des Holocaust (Wolfram Wette), zum anderen mit dem Feldwebel Anton Schmid, der Juden in Vilnius das Leben rettete und dafür sein eigenes hergab (Arno Lustiger).

In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber zu Recht, dass an der „klaren und ausschließlich deutschen Verantwortung für die Morde“ nicht zu rütteln sei. Diese Tatsache entbinde die litauische Geschichtsschreibung jedoch nicht von der Verpflichtung, die ungewöhnlich große Bereitschaft ihrer Landsleute, den Deutschen beim Morden zur Hand zu gehen, zu erforschen und dem breiten Publikum bekannt zu machen. Dass es hier noch manche Widerstände zu überwinden gilt, macht ein aufschlussreiches Resümee Litauische Historiographie über den Holocaust in Litauen (Liudas Truska) deutlich.

Aber keine Frage: Nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Mai werden die baltischen Staaten nicht darum herumkommen, sich mit ihrer Mittäterschaft am nationalsozialistischen Judenmord offen und kritisch auseinander zu setzen. Jedenfalls wird der Verweis auf die Leiden unter der sowjetischen Herrschaft nicht mehr als Entschuldigung dafür herhalten können, der Frage nach der Kollaboration mit den deutschen Besatzern und dem eigenen Anteil am Holocaust aus dem Wege zu gehen.


Rachel Margolis/Jim G. Tobias (Hrsg.): Die geheimen Notizen des K. Sakowicz

Dokumente zur Judenvernichtung in Ponary; Antogo Verlag, Nürnberg 2004; 140 S., 12,80 €

Vincas Bartusevicius/ Joachim Tauber/Wolfram Wette (Hrsg.): Holocaust in Litauen

Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941; mit einem Geleitwort von Ralph Giordano; Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2004; 337 S., 34,90 €


Anmerkung (von Nikolas Dikigoros)

Da haben wir also endlich wieder ein Tagebuch gefunden, das zwar nicht ganz den gleichen Quellenwert wie die von Adi Hitler, Jupp Goebbels, Benni Mussolini oder Anni Frank haben mag, aber in etwa die gleiche Echtheitswahrscheinlichkeit: Da gammeln in irgendeinem Archiv irgendwo am Arsch der Welt (pardon, aber mehr ist Litauen nicht!) seit Jahrzehnten irgendwelche vergilbten Zettel vor sich hin, die irgendwer mal irgendwie bekritzelt haben soll; und nun kommt eine tapfere jüdische "Freiheitskämpferin" einher und behauptet, sie "entziffert" zu haben. Was drin steht ist etwa so aufregend wie das, was in den angeblich den Kujau verfaßten Hitler-Tagebüchern steht (angeblich, denn sie sind ja bis heute unter Verschluß); wenn man das "neue Licht" mal bei Licht betrachtet, sind das nämlich alles Dinge, die längst bekannt sind (jedenfalls den Lesern von Dikigoros' "Reisen durch die Vergangenheit"): Die Litauer waren willige Helfer der Deutschen bei der Verfolgung von Juden und Kommunisten im Baltikum. [Hatten sie womöglich Grund dazu? Wenn man Solzhenitsyn glaubt, dann war der Völkermord der Sowjet-Russen an den Völkern des Baltikums weitgehend das Werk jüdischer Kommunisten.] Aber nun haben wir endlich eine einwandfreie, "erschütternde" Quelle dafür - welch ein Zufall, daß die gerade jetzt auftaucht, pünktlich zum Beitritt Litauens in die EU. Nun ja - bisher hatten die Litauer ja kein Geld für "Wiedergutmachungs"-Zahlungen an allerlei selbst ernannte Interessenvertreter und Lobbyisten der "Holocaust-Opfer"; aber nun zahlt ja die EU - also vor allem Deutschland - kräftig in die litauischen Staatskassen ein - da muß man sich sputen, wenn man ein Stück (oder auch mehrere) vom Kuchen abhaben will. Und das wäre dann das "Verdienst" von Leuten wie Rachel Margolis - und Volker Ullrich.


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