DER REICHSTAGSBRAND

Ende einer Fälschung

von Karl-Heinz Janßen
(DIE ZEIT, 21.2.1986)

Es bleibt dabei: Die Nazis haben
den Reichstag nicht angezündet.

Gut Ding will Weile haben. Vor sechseinhalb Jahren hat die ZEIT in einer vierteiligen Serie und in einem Sonderdruck einen Warnschuß losgelassen: "Fälschungen und Intrigen drohen den guten Ruf der deutschen Geschichtsforschung zu ruinieren." Angeprangert wurden die Machenschaften des Luxemburger "Internationalen Komitees zur Wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkrieges".

Keine deutsche Zeitung griff den Skandal auf; keiner der gefoppten Politiker distanzierte sich von dem Komitee; die Historikerzunft schwieg betreten - mit einer rühmlichen Ausnahme: dem Münchner Institut für Zeitgeschichte. Obwohl gewarnt, haben sich noch nach der ZEIT-Serie namhafte Zeithistoriker unbesehen die Thesen der Luxemburger zu eigen gemacht. Nun stehen sie blamiert da:

Am kommenden Mittwoch, 53 Jahre nach dem Reichstagsbrand in Berlin, wollen sechs Autoren des Piper Verlages - Historiker und Politologen - auf einer Pressekonferenz in Bonn ihr gemeinsames Buch vorstellen, das eine peinliche Wahrheit ans Licht bringt: Die so genannte Reichstagsbrand-Kommission des Luxemburger Komitees unter dem international hochangesehenen Schweizer Historiker und Politiker Professor Walther Hofer hat in fahrlässiger Weise gefälschte Dokumente und erfundene oder fragwürdige Zeugenaussagen in Umlauf gebracht, welche die Schuld der Nationalsozialisten am Reichstagsbrand belegen sollen.

Der Hintergrund dieser unglaublichen Affäre: Seit zwei Jahrzehnten mühen sich bestimmte Kreise in Ost und West, aus politischen oder "volkspädagogischen" Gründen die von den Reichstagsbrandforschern Fritz Tobias und Hans Mommsen begründete These zu widerlegen, daß weder die Kommunisten noch die Nationalsozialisten am 27. Februar 1933 das deutsche Parlamentsgebäude in Brand gesteckt haben, sondern dies einzig und allein die Tat des holländischen Wandergesellen und Anarchisten Marinus van der Lubbe gewesen ist.

Nazis und Kommunisten hatten sich seinerzeit gegenseitig der Brandstiftung bezichtigt. Nach 1945 wurde die Nazi-Täterschaft zunächst kaum angezweifelt. Doch dann kam 1959/60 eine sensationelle Spiegel-Serie: Der damalige Oberregierungsrat und Sozialdemokrat Fritz Tobias konnte wissenschaftlich begründen, daß van der Lubbe aus eigenem Antrieb und ohne Mithelfer das Feuer gelegt hat. Ein "Amateurhistoriker" hatte die ganze gelehrte Zunft herausgefordert. Das Institut für Zeitgeschichte beauftragte den Historiker Hans Mommsen, einen Schüler des von den Nazis verfolgten Hans Rothfels, die Untersuchung zu prüfen. Wider Erwarten kam er zu einem uneingeschränkt positiven Ergebnis für Tobias. Nunmehr fand die Alleintäter-These langsam Eingang in die Geschichtsbücher. Bis dann Mitte der 1960er Jahre das Luxemburger Komitee auf den Plan trat.

1969 verkündeten Professor Hofer und der Generalsekretär des Komitees, Edouard Calic, auf einer Pressekonferenz in Paris, man habe nun die Beweise für die Schuld der Nazis. Aber erst 1978 legte Hofer als Buch auf den Tisch, was unter seiner Verantwortung im Historischen Seminar der Universität Bern erarbeitet worden war: den angeblich "positiven geschichtlichen Nachweis der NS-Urheberschaft", der dank sensationellen neuen Quellenmaterials möglich geworden sei.

Allerdings hat Hofer die "Schlüsseldokumente" bis heute vor der Öffentlichkeit versteckt. Immer wieder wurden der Professor, sein ehemaliger Assistent Christoph Graf, Generalsekretär Calic und Freunde des Komitees aufgefordert, anderen Forschern Einsicht in das Beweismaterial zu gewähren. Walther Hofer entrüstete sich ob solchen Ansinnens: "Daß die Originale vorgelegt werden müssen, damit der wissenschaftliche Charakter einer Edition anerkannt wird, ist eine Forderung, die mir in der Geschichte unserer Zunft noch nicht begegnet ist." Wie hätte wohl die Öffentlichkeit reagiert, wenn der stern in Sachen "Hitler-Tagebücher" auch so reagiert hätte?

Undenkbar wäre das Luxemburger Komitee ohne die unermüdlichen Aktivitäteri seines Generalsekretärs Dr. Calic, der sich zeitweilig auch Professor nennen ließ. Dieser Schriftsteller, italienischer Staatsbürger kroatischer Herkunft, in den ersten Kriegsjahren Auslandspressevertreter in Berlin, später Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen, nach dem Krieg in Frankreich tätig, war Ende der 1950er Jahre nach Deutschland zurückgekehrt. In Berlin hat er mit fragwürdigen Angaben einen Wiedergutmachungsbetrag erlangt und sich unter äußerst fragwürdigen Umständen von den Behörden einen Doktortitel verschafft. Bekannte Politiker, Publizisten und Professoren, unter ihnen Willy Brandt, Golo Mann, Eugen Kogon, Ernst Fraenkel, Emil Dovifat, unterstützten ihn. Aus einem angeblich wissenschaftlichen Forum machte er eine politische Arena.

Seinen Propaganda-Erfolg verdankte Calic nicht nur seinem jovialen Charme und lebhaften Temperament. Ein Wort öffnete ihm Amts- und Gelehrtenstuben: "NS-Verfolgter". Bei der Schuld, die viele Zeitgenossen des Dritten Reiches auf sich geladen hatten, durfte Calic überall mit Entgegenkommen rechnen. Anderseits fackelte er nie lange, all jene, die sich seiner These von der "NS-Täterschaft" widersetzten, als Nazisympathisanten zu denunzieren.

Merkwürdig ist nur, daß sowohl der NS-Verfolgte Calic als auch der leidenschaftliche Totalitarismusgegner Hofer zweierlei Maß anlegten. Fritz Tobias, Mitherausgeber des neuen Buches, hat dieses "Hofer-Prinzip" in einer gründlichen Analyse entlarvt: Wichtige Zeugen der Alleintäterschaft werden pauschal als "Gestapobeamte und SS-Leute" diskriminiert, während jene, die sich als Nazi-Gegner ausgeben und den Nazis den Reichstagsbrand anlasten, als glaubwürdig gelten. Dabei finden sich unter den Kronzeugen des Luxemburger Komitees seltsame Gestalten: "Alte Kämpfer" und NS-Ehrenzeichenträger, hohe SA-Führer, V-Männer der Gestapo und einfache Parteigenossen.

Calic hatte sich für seine Aufgabe als Herausgeber der "Hitler-Breiting-Geheimgespräche 1931" (Titel: "Ohne Maske") empfohlen. Ihr besonderes Kennzeichen: die Vorliebe Hitlers für serbokroatische Sprichwörter und Redewendungen. Nach einer Fülle erdrückender Indizien kam die ZEIT 1979 zu dem Schluß, das Buch sei "eine der unverfrorensten Geschichtsfälschungen dieses Jahrhunderts", eine Aussage, die Calic und das Komitee vor dem Landgericht und dem Kammergericht Berlin vergebens angefochten haben.

Jetzt sind neue, zum Teil äußerst stümperhafte und plumpe Fälschungen in dem von Calic herbeigeschafften und mitherausgegebenen "Beweismaterial" des Luxemburger Komitees bekannt geworden:

//// Doch nun zu den eigentlichen "Beweisstücken". Der Berliner Geschichtsprofessor Henning Köhler fällt darüber ein ebenso klares wie gründlich belegtes Urteil: "Die im Anhang (der Hoferschen Untersuchung) ausgedruckten 'Dokumente' sind samt und sonders Fälschungen!" Es handelt sich um Material, das auf über vierzig Seiten ausgebreitet wird: "Tatsachenberichte", "Aufzeichnungen", "Briefe", "Erklärungen". Mitunter sind die "Dokumente" gekürzt worden, ohne daß man erfährt, warum, dann wieder werden interessante Passagen nur in Kurzfassung wiedergegeben. Zugeschrieben werden sie entweder Personen, die bereits tot waren, als Hofer 1978 die Dokumentation veröffentlichte, oder aber sie stammen aus der DDR, aus dem sagenhaften "Nachlaß" des Leipziger Journalisten Richard Breiting, und sind deshalb unzugänglich.

Editorische Hinweise, wie sie in seriösen Quellenpublikationen selbstverständlich sind, fehlen bei den Luxemburgern fast ganz. Um so verschwenderischer gehen sie mit Fußnoten um: In dem Dickicht von Anmerkungen wird dauernd auf andere Aussagen und Quellen verwiesen, die den Sachverhalt bestätigen sollen - manchmal ergänzt so eine Fälschung die andere!

Diese "Vernetzung", auf die Hofer und seine Helfershelfer so stolz sind, hat Methode. Das Labyrinth von Anmerkungen und Querverweisen wirkt abschreckend und erschwert die Nachprüfung der "Dokumente". "Denn hätten sie die Elaborate lediglich unkommentiert abgedruckt", schreibt Hofer-Kritiker Köhler, "wäre wohl kein ernst zu nehmender Historiker auf die Idee gekommen, diese Texte als historische Quellen zu akzeptieren." Andere Historiker müßten Wochen, ja Monate aufwenden, wollten sie jedem Hinweis nachgehen. Eine solch intensive gegenseitige Quellenkritik würde die Forschung lahmlegen. Insofern kann man jenen Historikern, die dem Werk ihres als seriös geltenden Kollegen Hofer blindlings vertrauten, keinen Vorwurf machen. Aber beim Lesen der "Dokumente" hätte ihnen einiges auffallen sollen.

1979, als die ZEIT zum erstenmal die Echtheit einiger "Dokumente" anzweifelte, hat sich Hofer zu der Aussage verstiegen, die gesamte Dokumentation sei "mit allen Mitteln der formalen und inhaltlichen Quellenkritik sorgfältigst überprüft worden". Wäre dem so, dann hätte er seiner wissenschaftlichen Qualifikation das denkbar schlechteste Zeugnis ausgestellt. Von seinem jüngeren Kollegen Köhler mußte er sich jetzt ins Stammbuch schreiben lassen: "Hofer hat die Quellen nicht gefälscht. Was er getan hat, wird vielleicht am besten - allerdings nicht rechtlich, sondern tatsächlich - durch einen Vergleich mit Banknotenfälschung deutlich. Denn wenn er auch diese Quellen nicht 'nachgemacht' hat, so hat er sie doch 'in Verkehr' gebracht."

Unfaßbar ist die Fahrlässigkeit, mit der Hofer Auszüge aus einem Dokument, bei dem jeder Proseminarist hätte stutzig werden müssen, in die letzten Ausgaben seiner in Millionenauflage erschienen Dokumentation zur Geschichte des Nationalsozialismus aufgenommen hat: Es handelt sich um Zitate aus einer Rede Görings, die dieser am 23. März 1933 auf einem Geheimtreffen in der Reichskanzlei gehalten haben soll. Göring, seines Zeichens Reichstagspräsident und preußischer Innenminister, nach Meinung der Kommunisten und des Luxemburger Komitees einer der Anstifter des Verbrechens, soll sich vor einem offenbar größeren Kreis von Parteigenossen ("Jubel" wird vermerkt) folgendermaßen geäußert haben:

"Pg. Ernst, die Kerls haben ihre Sache ausgezeichnet gemacht. Ist es nicht schändlich, daß sie von marxistisch verseuchter Polizei und Feuerwehr fast geschnappt worden wären. Die Bude hätte an allen Ecken brennen sollen. Wären Gempps Leute nicht so übereifrig gewesen, hätten die Jungs ganze Arbeit geleistet..."

Und weiter: "Unsere Kerls haben die Feuertaufe überstanden. Wir bringen sie jetzt in die höhere Polizeilaufbahn... Wenn ich an den kolossalen Sog im Plenarsaal denke, war das ein phantastischer Kamin, und dann waren diese Schwachköpfe auch gleich mit ihren Schläuchen zur Hand, um das Haus der Volksverderber zu retten, ich hätte sie am liebsten in die Flammen werfen lassen..."

Professor Köhler nennt diese Göring-Rede zu Recht einen "Höhepunkt dreisten Fälschertums". Angeblich stammt die Aufzeichnung aus dem Bericht des Hauptmanns Eugen von Kessel. Ihre Herkunft soll sich aus dem Kürzel ergeben: "Kirschb. (Aktenvermerk K. E.)". Professor Hofer und seine Mitarbeiter erläutern dazu, der SA-Gruppenführer Karl Ernst (er soll das Brandstifterkommando geführt haben) habe sich Notizen gemacht, die sein Adjutant Kirschbaum weitergegeben haben soll. Nun ist aber dieser Kirschbaum nachweislich nie Adjutant von Ernst und auch nie in dessen Berliner SA-Stab gewesen. Dieses Indiz allein würde ausreichen, die Quelle für unglaubwürdig zu halten.

Aber auch die Umstände der Göring-Rede und erst recht ihr Inhalt werfen Fragen über Fragen auf. Wieso ruft Göring ausgerechnet am Tage der wichtigen Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz, die seine volle Arbeitskraft erforderte, eine Parteiversammlung ein? Warum in der Reichskanzlei, wo noch viele alte Beamte aus der Weimarer Zeit Dienst taten, und nicht in seinem eigenen Dienstgebäude? Warum soll er sich, wo die Nazi-Propaganda gegen das Mißtrauen der ganzen Welt Tag für Tag den Kommunisten die Schuld zuschob, so leichtfertig eines Verbrechens gerühmt und sein Geständnis auch noch von einem SA-Führer protokolliert lassen haben? Will man wirklich den gerissenen Göring für so dumm halten? Und für so ungeschickt, als preußischer Innenminister Brandstifter in den höheren, Dienst zu bringen, wo er und seine Beamten doch alle Hände voll zu tun hatten, die Beförderungswünsche der "alten Kämpfer" abzuwimmeln?

"Man kann Göring sicherlich viel vorwerfen, aber ihm ein derartiges törichtes Geschwätz zu unterstellen, hieße ihn auf das niedrige intellektuelle Niveau des Fälschers stellen", schreibt Köhler. Mitherausgeber Eckhard Jesse hat herausgefunden, wo sich der Fälscher seinen Most geholt hat: nämlich in einer schlecht erfundenen Passage aus den "Gesprächen mit Hitler", die der einstige Nazi-Senatspräsident von Danzig, Hermann Rauschning, Anfang des Zweiten Weltkrieges im Dienste der alliierten Kriegspropaganda verfaßte. Dort werden Göring bereits die Worte "Jungens", "Bude" und "ganze Arbeit" in den Mund gelegt. Nur ließ Rauschning Göring "in der Wandelhalle vor den Arbeitsräumen Hitlers" antichambrieren.

Der Imitator hat die Erzählung ausgeschmückt: So behauptet der Allerweltskerl Göring, die Jungtürken hätten den "Tschiragan-Palast" "verbrannt". An dieser Behauptung ist alles Unsinn: Die Jungtürken hatten nichts damit zu tun, denn dieser Serail ist 1910 nach der Explosion eines Heizapparates niedergebrannt. Göring überhaupt solche Detailkenntnisse zuzutrauen ist schon absurd; erst recht würde er nicht die Wendung "verbrennen" benutzt haben, denn in Deutschland werden Gebäude in Brand gesteckt oder angesteckt. Wer aber in seinen Schriften immer wieder so radebrecht, ist Generalsekretär Calic, der als Jugoslawe nur mangelhaftes Deutsch schreibt. Man "übersteht" auch keine Feuerprobe, sondern "besteht" sie.

Eine andere Spur, die der Fälscher legte, ist der Ausdruck "Gempps Leute". Gempp war Oberbranddirektor, aber wer würde damals von der Berliner Feuerwehr jemals so geredet haben? Ähnlich heißt es in anderen Fälschungen "Gempps Männer" oder "Gempp und seine Helfer".

Einmal unterstellt, Göring hätte tatsächlich all diesen Schwachsinn von sich gegeben: Warum haben dann die Luxemburger dieses Schlüsseldokument nicht sofort im Original der Öffentlichkeit vorgelegt - dann hätten sie sich ihre ganzen Dokumentationsbände sparen können, und die Reichstagsbrand-Kontroverse wäre erledigt gewesen. Statt dessen haben sie die Rede in einen fast unlesbaren, diffusen Dokumentationsanhang versteckt. Köhler: "Damit haben sie sich eine zitierfähige Quelle geschaffen, auf die sie in Zukunft verweisen konnten." Zum Beispiel in der an deutschen Schulen am meisten gebrauchten Quellensammlung. "Es ist zu bedauern", empört sich Mitherausgeber Hans Mommsen, "daß die fachwissenschaftliche Öffentlichkeit derlei historisches Brigantentum unwidersprochen hinnimmt."

Keiner sei "auf diesem falschen Weg" weiter fortgeschritten, "besser vielleicht: fortgeschoben worden" als Professor Walther Hofer, schreibt bedauernd in seinem Vorwort zum Piper-Buch der niederländische Zeithistoriker Louis de Jong. Es würde Hofer zieren, meint er, "wenn er sich dazu aufraffen könnte einzugestehen, daß er sich, aus welchen Motiven auch immer, geirrt hat".

Über die möglichen Motive hat Hofer selber mehrmals Auskunft gegeben. Er hält die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes für "volkspädagogisch gefährlich", weil sie darauf hinauslaufe, die Nationalsozialisten reinzuwaschen. Seine Voreingenommenheit ließ ihn den Satz niederschreiben: "Wenn nämlich bewiesen werden könnte, daß die Nationalsozialisten zu Unrecht verdächtigt wurden, den Reichstagsbrand inszeniert zu haben, so könnte versucht werden, den gleichen 'Beweis' auch für die anderen Verbrechen... zu erbringen." Eine merkwürdige Auffassung von objektiver Forschung, überdies eine unsinnige Befürchtung. Auschwitz oder der Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion werden doch nicht dadurch ungeschehen, daß ein holländischer Anarchist den Reichstag auflodern ließ, um die Arbeiter zum Aufstand gegen die Nazis und das kapitalistische System aufzurufen und vor einem Krieg zu warnen.

Überhaupt hat die zwanghafte Fixierung auf einen (zugegeben: spektakulären) Kriminalfall den Blick für die Hintergründe der Machtergreifung Hitlers verstellt. Indem man Hitler und einige seiner Spießgesellen dämonisierte, durften sich die konservativen Steigbügelhalter der Nazis, aber auch die mit Blindheit geschlagenen Kommunisten von ihrer Mitverantwortung für das Unheil der Jahre zwischen 1933 und 1945 entlastet fühlen.

Der Bonner Historiker Hans Mommsen hat in dem neuen Buch schlüssige Interpretationen für seine These nachgeliefert, daß die Nazis gar nicht daran interessiert sein konnten, den Reichstag anzuzünden, um einen kommunistischen Aufstandsversuch zu fingieren. Sie liefen nämlich Gefahr, daß Reichspräsident von Hindenburg sofort den militärischen Ausnahmezustand ausgerufen hätte. Dieser Ausnahmezustand war schon vor dem Machtantritt Hitlers in Planspielen erprobt worden. Eine Militärdiktatur aber hätte die Reichstagswahl, von der sich Hitler die entscheidende Mehrheit erhoffte, gefährdet und seine eigene Macht angetastet. Darum improvisierten die Nazis, inmitten der antikommunistischen Psychose nach dem Brand, spontan einen zivilen Ausnahmezustand, der die vollziehende Gewalt dem Innenminister überließ. Selbst die Nazis waren überrascht von der mehr oder weniger ungeteilten Zustimmung ihrer konservativen Koalitionspartner und der Reichswehr. Die Papen, Hugenberg und Blomberg "versäumten die letzte Chance", Hitlers Machtfülle einzuschränken. Mommsens Fazit: "So beschleunigte das Brandereignis den Weg in die Diktatur, die es hatte verhindern sollen."

Die neuen Erkenntnisse und Enthüllungen wären vielleicht nie veröffentlicht worden, hätten sich nicht die jungen Politologen Uwe Backes und Eckhard Jesse nach üblen Erfahrungen mit dem Meinungsterror der Luxemburger moralisch empört. Welchen Schaden der sinnlose Propagandafeldzug des Luxemburger Komitees (das auch aus öffentlichen Mitteln finanziert wird) angerichtet hat, kann man nicht deutlicher sagen als Mitherausgeber Backes: "Eine breite Öffentlichkeit wurde getäuscht und desinformiert, die Arbeit seriöser Wissenschaftler und Journalisten durchkreuzt... Die Namen renommierter Historiker hat das Komitee systematisch für seine Zwecke mißbraucht, die idealistische Hilfe ungezählter Unterstützer ausgenutzt." Werden die genasführten Professoren - wie zum Beispiel Becker, Bracher, Craig, Erdmann, Hildebrand, Hillgruber, Kogon, Mann, Repgen - jetzt ihren Irrtum korrigieren? Wird das Komitee endgültig der Lächerlichkeit anheimfallen?

Dessen einstiger Generalsekretär Calic ist fein heraus - er will Hofer rechtzeitig vor dem Abdruck der "Dokumente" gewarnt haben und hat sich nach Salzburg ins Private verzogen. Was bleibt, ist der fade Nachgeschmack eines Wissenschaftsskandals, in dem sich die deutsche Historikerzunft nicht von ihrer besten Seite gezeigt hat. Was bleibt, ist die Erinnerung an das traurige Schauspiel, wie ein berühmter Gelehrter Opfer einer beinahe tragischen Verblendung wurde. Die Alten hatten für derlei Tragikomödie ein geflügeltes Wort: "Mundus vult decipi, ergo decipiatur" - "Die Welt will betrogen werden, also mag sie betrogen werden."


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