DAS WAHRE GESICHT DES PELÉ

Vor 40 Jahren brach der brasilianische Wunderstürmer seinem
deutschen Gegenspieler Willi Giesemann aus Frust das Bein

von Jens Anker (Die WELT, 25. Juni 2005)

Willi Giesemann sitzt auf einem Stuhl und hat den Arm auf den Tisch gelehnt, um das schlimme Bein zu entlasten. "Ich denke nie zurück", sagt er. "Das ist nichts für mich." Ein paar Minuten tut er es dann doch. Der 67jährige sitzt leicht nach vorn gebeugt, zwei flinke Augen beobachten das Geschehen, dabei zieht er die linke Braue leicht nach oben. "Rio war schon großartig", sagt er. Er spricht von jenem Abend, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am 6. Juni 1965 auf ihrer Südamerika-Reise im legendären Maracana-Stadion in Rio de Janeiro gegen Brasilien antrat. Er war dabei.

Giesemann wurde in der zweiten Halbzeit eingewechselt. Es sollte ein schicksalhaftes Zusammentreffen des deutschen Verteidigers mit den gegnerischen Stürmern werden. Zusammen mit Willi Schulz schaltete Giesemann, den alle Welt nur "Tille" ruft, die brasilianischen Angreifer Pelé und Garrincha aus. 42 Minuten lang gelang den Ballzauberern vor heimischem Publikum kein Tor. Dann brach Pelé dem linken Läufer Giesemann das Bein. Sechs Minuten später schoß derselbe Pelé in der Nachspielzeit das entscheidende 2:0. Die 143.000 Zuschauer tobten. Während Pelé mit diesem Gewaltakt seinen Ruf als Wunderstürmer untermauerte, senkte sich für Giesemann der Fußballstern. Er spielte nie wieder in der Nationalmannschaft. Drei Jahre später verließ er die Fußballbühne als Sportinvalide.

"Maracana ist wie eine Oper", sagt Giesemann heute. "Die Menschen, der Lärm, schon wenn du aus den Katakomben von unten in das Stadion einläufst - einmalig." Die Deutschen waren mit dem Vorsatz gekommen, sich nicht wie Belgien wenige Tage zuvor beim 0:5 vorführen zu lassen. Entsprechend entschlossen stellten sie sich den Brasilianern in den Weg. Der überragende Tilkowski hielt einen Elfmeter.

Dennoch ging Brasilien unter dem Gejohle der Fans durch einen Kopfball von Flavio in der 26. Minute in Führung. Giesemann verfolgte das Geschehen auf der Bank. Wenige Minuten später ließ Pelé seinen Frust zum ersten Mal freien Lauf. Keine Chance hatte die deutsche Verteidigung dem jähzornigen Halbstürmer zugelassen. Er trat den am Boden liegenden Verteidiger Horst-Dieter Höttges auf den Oberarm.

Giesemanns Zeit war angebrochen. Der kantige Verteidiger hatte keine Sorge. "Ich war vor Spielen nie nervös", sagt er. "Und Garrincha lag mir sehr gut." Schon mehrfach hatte der HSV-Verteidiger mit Vereinsmannschaften gegen den o-beinigen Fußballstar gespielt. Giesemanns Erfolgsgeheimnis: "Du darfst gegen Südamerikaner nie grätschen, sonst bist du weg vom Fenster." Auf der anderen Seite übernahm Willi Schulz Pelé.

Unglaublich, was die brasilianischen Spieler mit dem Ball anstellten. "Du denkst, du hast ihnen den Ball abgenommen, da klebt er schon wieder an deren Fuß", beschreibt Giesemann die Ballkünste der Südamerikaner.

Dann brach die 87. Minute an. Giesemann war in Ballbesitz und drang nach vorn. "Ich habe mir den Ball im Mittelfeld etwas weit vorgelegt." Er setzte nach, blieb im stumpfen Rasen hängen - er wollte den Ball mit letztem Einsatz doch noch spielen. Da segelte Pelé von der Seite mit ausgestrecktem Bein herbei. "Ich sah ihn noch kommen", sagt Giesemann. Sekundenbruchteile später traf das gestreckte Bein Pelés Giesemanns Schienbein. Ein glatter Bruch. "Ich hab es sofort gespürt, deswegen bin ich liegen geblieben, damit die Knochen nicht verrutschen."

Ein Pfeifkonzert ging durchs Stadion. Die Menge wollte die Nummer 10 zaubern und nicht foulen sehen. Sechs Minuten später, die 93. Minute: Pelé verwandelte einen Freistoß aus 20 Metern zum 2:0-Endstand. Die Zuschauer feierten ihren Helden. Noch in den Katakomben des Stadions wurde Giesemanns Bein gegipst. Einen Tag später flog er nach Hause. "Giesemann brach sich das Bein durch die Brutalität seiner Kameraden", schrieben die brasilianischen Zeitungen am nächsten Tag. "Das wahre Gesicht des Pelé", hieß es in Deutschland. Der Brasilianer zeigte sich selbstgefällig. Er habe eine Schürfwunde und ein steifes Genick durch die Härte der Deutschen davon getragen, rechtfertigte er den Tritt, der seinen Gegenspieler Schulz treffen sollte.

Giesemann bleiben nur Erinnerungen: Das vollbesetzte Maracana, das Abschiedsspiel von Alfredo di Stefano mit Didi und Puskas, drei Europapokal-Spiele gegen den FC Barcelona und die WM-Teilnahme 1962 in Chile.

22 Jahre lang betrieben die Giesemanns - Willi ist seit 45 Jahren mit seiner Jugendfreundin Edda verheiratet - einen Lotto-Laden, später übernahmen sie den "Schinkenkrug" in Wandsbek. Seit zwei Jahren ist Giesemann Rentner.

Pelé hat er seit dem Spiel in Rio nicht mehr gesehen.


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