Herr Kanzler, säubern Sie!

von Richard Tüngel (DIE ZEIT, 29.7.1954)

Wir waren nicht erstaunt angesichts der Nachricht, daß Dr. Otto John in die Sowjetzone entwichen ist. Nicht nur wir haben öffentlich und in Gesprächen mit Bonner Regierungsstellen vor ihm gewarnt. Wir haben deutlich geschrieben, daß es sich bei seiner Anstellung nicht um eine „Fehlentscheidung der Übergangszeit" handelte, sondern um einen unbegreiflichen Leichtsinn der verantwortlichen Männer. John war kein unbeschriebenes Blatt. Ein Teil seiner Vergangenheit lag offen zutage. Vieles andere wäre bei einer ernsthaften Untersuchung sehr leicht zu erfahren gewesen. Es ist zu hoffen, daß wenigstens jetzt das Vorleben des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz sorgfältig untersucht wird.

Da wird man sehr ernsthaft den Fäden nachgehen müssen, die John mit der „Roten Kapelle" verbinden, dem bekannten kommunistischen Komplott, das im letzten Krieg platzte. John entging der Verhaftung. Er wurde durch Nazistellen abgeschirmt, arbeitete als Auslandsagent für die Kreise der Widerstandsbewegung und war weiter als Geheimspitzel für das Hitlerregime tätig. So konnte er auch nach dem 20. Juli 1944, obgleich sein Bruder verhaftet worden war, ungehindert mit dem fahrplanmäßigen Flugzeug nach Madrid fliegen. In Lissabon wurde er von der portugiesischen Polizei völlig betrunken auf der Straße aufgelesen und verhaftet. Wie ausgezeichnet man dort orientiert war, geht daraus hervor, daß man in ihm einen Sowjetspion sah. Der englische Botschafter setzte seine Freilassung durch und beförderte ihn nach London. Hier arbeitete er zusammen mit dem jetzigen Mitglied des SPD-Vorstandes Fritz Heine in der Abteilung MI 6 Public Branche. Unter anderem verriet er, was Churchill bezeugen könnte, die Raketengeheimnisse von Peenemünde. Er sammelte Material für die großen Nachkriegsprozesse der Allierten und nahm auch persönlich Vernehmungen in Nürnberg vor. Beim Manstein-Prozeß saß er neben dem englischen Ankläger, dem er diensteifrig die von ihm angelegten Akten hinreichte. Anständige englische Offiziere schnitten ihn damals bereits. Kurz darauf wurde er Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Wie die Alliierten sich stritten . . .

Wie konnte es zu einer solchen Ernennung kommen? Die Bundesregierung hat jetzt endlich offen zugegeben, was sie bisher schamvoll verschwieg, daß die Besetzung dieses prominenten Amtes der Genehmigung der drei Oberkommissare der Westalliierten bedurfte. Diese Nachricht ist keineswegs so neu, wie man in Bonn glaubt. Es war 1950 allgemeines Gassengespräch, daß Amerikaner und Engländer sich um diesen Posten rauften. Die Franzosen hielten sich zurück. Sie wissen aus Erfahrung, daß sich wichtige Dienststellen leichter und billiger bei niedrigen Graden anzapfen lassen. Eine Untersuchung des hessischen Amtes für Verfassungsschutz dürfte hierfür interessantes Material liefern.

Sieger in dem Streit blieben die Engländer. Sie setzten ihren, wie sie meinten, erprobten Kollaborateur John in der Bundesrepublik als Chef der westdeutschen Abwehr ein. Sie hätten lieber auf ihre Offiziere hören sollen, die diesem John schon 1949 nicht die Hand gaben. Doch ist dies keineswegs der einzige Fall, in dem uns die englische Besatzungsmacht solche Elemente aufgenötigt hat. Was bei den Amerikanern die Morgenthau-Boys darstellen, waren bei den Engländern die Linksreisenden, nicht nur in der Labour-Party, sondern auch bei den Konservativen. Unter allen Umständen muß jetzt der Fall John den Anstoß dazu geben, alle Ernennungen, die unter Besatzungseinfluß vorgenommen wurden, zu überprüfen, und es ist ferner zu verlangen, daß die Freunde und Vertrauten von John, unter denen sich eine Reihe ehemaliger Kommunisten und SED-Mitglieder befinden, und ebenso alle von ihm ernannten Beamten und Angestellten von 'der Kriminalpolizei genau durchleuchtet werden. Dieser Forderung sollte sich der Bundesinnenminister nicht entziehen, und er sollte sich daran erinnern, daß er in der Bundestagsdebatte vom 24. Juni dieses Jahres gesagt hat: „Im Vorverfahren aber muß es jeder, der den Anschein der Beteiligung durch einen Kontakt mit Organen des Nachrichtendienstes hervorgerufen hat, hinnehmen, daß, wenn dies zur Auf klärung des landesverräterischen Unternehmens nötig ist, mit den in der Strafprozeßordnung vorgesehenen Maßnahmen gegen ihn vorgegangen wird." Hier muß ohne Unterschied der Person sehr sachlich und genau verfahren werden. Man sollte den Prinsen Louis Ferdinand von Preußen, der sich in Westberlin mit John vor seiner Flucht unterhaken hat, ebenso genau verhören wie das Vorstandsmitglied der SPD, Fritz Heine, der, wie gemeldet wird, mit dem flüchtigen Präsidenten des Amtes für Verfassungsschutz vor seinem Verschwinden zusammen war. Eine solche Untersuchung müßte sich auch auf jene Personen erstrecken, die mit einem erstklassigen Linksrekord von der englischen Besatzungsmacht in wichtige deutsche Stellen eingeschmuggelt worden sind. Da sind mit John befreundete Rotspanien-Kämpfer und Mitglieder von roten Erschießungskommandos, da ist. ein ganzes Nest von ehemaligen Angehörigen der „Roten Kapelle", für die sich der schwedische Abwehrdienst vor drei Jahren sehr lebhaft interessierte. Da sind - um einiges weitere, gewissermaßen nebenbei - zu erwähnen, sehr intime Freunde von John in England. Wir nennen hier nur Sefton Delmer und Carl Robson, denen die „Rote Kapelle" auch nicht unbekannt war, die aber auch heute noch ungehinderten Zutritt zum Foreign Office und zu deutschen Regierungsstellen haben. Delmer hat sich die Unterlagen zu seinen extrem deutschfeindlichen und völlig verlogenen Artikeln bei John geholt. Man sollte bei diesen Untersuchungen auch nicht vergessen, daß John homosexuelle Neigungen hat, und auch in dieser Richtung weiterforschen; insbesondere in Köln zu klären versuchen, ob seine geheimnisvollen Taxifahrten, die von dem amerikanischen Nachrichtendienst Gehlen sehr aufmerksam verfolgt worden sind, dieser seiner Neigung oder der Verbindung mit Sowjetagenten dienten.

Verfehlte Personalpolitik

Doch wenn auch die politische Korruption durch die Besatzungsmächte in der Nachkriegszeit einigem Verständnis begegnen sollte, bedarf es doch einer Aufklärung, wieso eigentlidi die Bundesregierung so widerstandslos sich eine Reihe dubioser Figuren aufzwingen ließ. Es war, ja immerhin die Möglichkeit vorhanden, sowohl offen Widerstand zu leisten - Gebhard Müller tat dies gegenüber den Franzosen im Lande Hohenzollern -, wie auch die deutsche Presse zu informieren, unter welchem Druck man eigentlich stehe. Offenbar empfand man jedoch in Bonn diesen Druck überhaupt nicht. Man war von dem totalitären Regime Hitlers her immer noch das Denken in kollektiven Formen, in Schwarz-weiß-Gegensätzen so sehr gewohnt, daß man jede Kraft der Unterscheidung verloren hatte. Alle Nazis, so argumentierte man, sind Verbrecher; alle Sozialisten sind edle Naturen, Kommunisten sind sanfte, schwärmerische Weltverbesserer, national Denkende hingegen erbärmliche Kriegshetzer.

Es ist leider nicht zu leugnen, daß die Personalpolitik der Bundesregierung weitgehend von solchen Fehlurteilen bestimmt worden ist. Dieses Schwarzweißdenken hat nadi dem Kriege nicht nur in Deutschland einen ungeheuren geistigen Hochmut hervorgerufen. Nur hieraus ist, um ein prominentes Beispiel zu erwähnen, die unmenschliche und dem Evangelium widersprechende These Karl Barths von der Kollektivschuld des deutschen Volkes zu erklären. Den gleichen geistigen Hochmut — wir möchten aber hinzufügen, in einem sehr viel minderen Format — hat die Bonner Regierung bewiesen.

Am deutlichsten manifestierte sich dieser Dilettantismus angesichts der Affäre „Vulkum". Mit geradezu albernen Unterlagen gelang es John, die Bundesregierung zu törichten Handlungen zu verleiten, obgleich doch das kommunistische Rezept dieser Aktion deutlich zu erkennen war. Da wurden, wie es bei den Sowjets üblich ist, ein paar kleine Funktionäre geopfert und gleichzeitig angesehene Kaufleute auf das abscheulichste diffamiert, wodurch die Bundesregierung einen großen Teil des Vertrauens, das man ihr bis dahin geschenkt hatte, verlor. Obgleich dies doch ganz deutlich war, fiel man in Bonn auf diese alten, längst bekannten Kniffe des MWD herein.

Wurmstichig ist im Zusammenhang mit der Affäre John das Regime Adenauer genannt worden. Ohne weiteres darf man diese Kritik nicht verwerfen. Wenn der Abwehrchef der Bundesregierung zu den Sowjets überläuft, ist dies gewiß ein bedrohliches Zeichen. Es ist ein Wunder, daß es heute in der Bundesrepublik noch eine Fortsetzung des deutschen Staates gibt; das ist den Trägern der deutschen Verwaltung, den deutschen Beamten und staatlichen Angestellten zu verdanken und nicht der Bonner Personalpolitik.

Aus eben diesem Grunde müssen wir auch fordern, daß die dilettantisch entworfene und durchgeführte Organisation der Verfassungsschutzämter aufgelöst wird. Ihr Aufbau - der erste, der hierin dilettierte, war der SPD-Abgeordnete Menzel, der sich als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Verfassungsschutz jetzt so gewaltig aufplustert - ist einem Nachkriegsdenken entsprungen, das weitgehend an jenen Kriminalromanen geschult ist, in denen immer die Nichtfachleute siegen. Die deutsche Kriminalpolizei war seit je ausgezeichnet. Es gibt auch heute noch genügend vorzüglich bewährte Kriminalräte, die geeignet wären, an Stelle von dubiosen Verfassungsschutzämtern eine saubere politische Abteilung der Kriminalpolizei aufzuziehen, die allerdings für Versuche, sie zu fragwürdigen Geschäften zu mißbrauchen, nicht zu haben sein wird. Dafür aber wird es ihr bestimmt auffallen, wenn ihr Präsident ständig betrunken ist, geheimnisvolle Taxifahrten unternimmt und bei der Durchsuchung der kommunistischen Zentrale überhaupt kein belastendes Material findet, so daß der Prozeß vor dem Bundesverfassungsgericht nur gegen die Ultrarechte durchgeführt werden konnte, aber nicht gegen die Kommunisten.

In der Sowjetzone herrscht Schrecken. Menschen, die uns vertraut haben, werden abgeholt, ins Zuchthaus gebracht oder auf den Weg zum Galgen. Diese Folgen der Bonner Sorglosigkeit sind entsetzlich. Der Hochmut, mit dem man dort jede Warnung in den Wind schlägt, wird eines Tages böse Früchte tragen. Hat man eigentlich bedacht, was es heißt, diesem John auch das Schicksal der vielen Emigranten in die Hände zu geben, die in Deutschland leben, die an Deutschland glaubten und nun befürchten müssen, daß ihre Familienmitglieder, die noch im Sowjetbereich sind, von dem übergelaufenen Präsidenten des Verfassungsschutzamtes ans Messer geliefert werden? Diese Einbuße, die das deutsche Ansehen bei vielen Gutgesinnten erlitten hat, ist - politisch gesehen - die gefährlichste Folge des Bonner Leichtsinns.

John bekennt sich als Verräter

John hat den Versuchen der Bundesregierung, seine Flucht als eine Entführung darzustellen, um alle Äußerungen, die er noch machen könnte, als durch Foltern erpreßte Aussagen zu diskriminieren, dadurch einen Schlag versetzt, daß er im Rundfunk der Sowjetzone eine Ansprache hielt. Er hat auch hier wieder seine abgründig gemeine Gesinnung damit bewiesen, daß er einen Kübel voll Schmutz über die Männer und Frauen vom 20. Juli ausschüttete, indem er seinen erbärmlichen Landesverrat mit ihrer heroischen Revolte verglich. Was ihn dazu gebracht hat, sich jetzt offen als Anhänger der Sowjets zu bekennen, nachdem er lange heimlich ihr Agent gewesen ist, kann noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Möglicherweise hat er Wind davon bekommen, daß man jetzt auch im Westen über seine Tätigkeit als Gestapospitzel zur Hitlerzeit orientiert ist. Vielleicht hat ihn auch die Feststellung der Schweizer Kriminalpolizei, der von ihm zu schmutzigen Geschäften benutzte holländische Agent Eland sei in Zürich nicht an einer Überdosis von Schlaftabletten gestorben, sondern regelrecht ermordet worden, in Panik versetzt. Dies alles ist für die Beurteilung dieses Falles verhältnismäßig gleichgültig. Wichtig sind jetzt allein die politischen Konsequenzen, die man aus diesem erschreckenden Versagen ziehen wird. Da allerdings müssen wir beklagen, daß man in Bonn versucht, mit allen Mitteln den Fall zu vernebeln — nicht anders als dies die Nazis nach dem Verschwinden von Heß taten. Doch werden auch die Sowjets an Otto John keine Freude erleben. Er ist ein Verräter aus Beruf und Leidenschaft. Er wird eines Tages auch sie verraten.


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