Können Sie sich an "Joe Hill" erinnern, die Arbeiteryenhymne von Joan Baez auf dem Woodstock-Album? Oder an "Reds", die Hollywoodfassung der Oktoberrevolution? Diane Keaton küsst Warren Beatty und im Hintergrund erklingt die "Internationale". So was trifft direkt in meine emotionalen Innereien. Und haltlos kullern meine Tränen, sobald die Sängerin in Ricks Café die "Marseillaise" schmettert, um den fiesen Major Strasser zu ärgern. Ich fühle links. Da kann man einfach nichts machen.
Von meinen Freunden werde ich mittlerweile jedoch als neokonservative Hyäne verortet. Sie sagen es mir nicht ins Gesicht. Dazu sind sie zu fein fühlend. Aber ich spüre es. Man behandelt mich betont freundlich, meidet bestimmte Themen, schweigt, wenn ich eine politische Bemerkung mache. Und ich spiele meistens mit. Wer hat schon Lust sich dauernd zu streiten. Eigentlich würde ich ihnen gern zurufen: "Hört mal, ich bin nicht so wie ihr denkt. Ich finde Krieg grauenhaft, Armut unerträglich, Umweltzerstörung zu Kotzen. Genauso wie ihr." Aber das wäre peinlich, wie ein Irrer der hysterisch kreischt, dass er völlig normal sei und alle anderen verrückt.
Wie konnte es soweit kommen? Bin ich einer, der seine Ideale verraten hat, weil sie ihn in seiner gediegenen Gutbürgerlichkeit stören? Ein Alterskonservativer dessen Seele Fett ansetzt? Führe ich ein falsches Leben im Falschen? Manche meiner Freunde sehen das vermutlich so, aber ich glaube es nicht. Korrumpiert kann ich jedenfalls kaum sein: Um das auszuschließen genügt schon ein Blick auf unsere Wohnung und die Kontoauszüge.
Es begann wohl schon an dem Tag, als der ältere Bruder meines besten Schulfreundes mich in zirka dreißig Minuten von der Notwendigkeit des Sozialismus überzeugte (ich brauchte dann dreißig Jahre, um diese Überzeugung wieder los zu werden). Noch am selben Abend sah ich im Fernsehen chinesische Rotgardisten unter einem riesenhaften Stalinporträt paradieren. Von Stalin hatte ich schon so manches gehört. Ich fragte also am nächsten Tag noch mal nach. Die Erklärung des älteren Schülers enthielt im Prinzip schon alles, was ich in den folgenden Jahrzehnten so von linken Freunden zu Ohren bekam. Ich hätte ja recht mit Stalin, aber die chinesischen Genossen sähen das nun mal anders und man müsse bedenken, was gerade in Vietnam los ist, wie solidarisch China dort den Kampf des Volkes unterstützt. Überzeugend war das nicht. Aber es gab im Westen ja noch genügend andere Möglichkeiten links zu sein. Man konnte Trotzkist werden oder am besten gleich Anarchist, da musste man wenigstens keine hässlichen Regime rechtfertigen. Ich verabschiedete mich also von den realen Sozialismen las linke Renegatenliteratur und schwelgte im wehmütigen Blues der wahren und gescheiterten Revolutionäre. Diese Lösung war gewissensmäßig recht angenehm und hielt fürs erste stand.
So ging es eine Weile gut, bis das Geld aus den Ferienjobs für Reisen reichte. Die kommunistischen Länder Europas, die ich besuchte, waren eigentlich keine besondere Enttäuschung. Was mich dort erwartete, hatte ich ja schon vorher gelesen. Bei den Hoffnungsträgern der Dritten Welt kam die Verunsicherung schon heftiger, in Tansania zum Beispiel. Da regierte Julius Nyerere. Das Volk nannte ihn liebevoll "Mwalimu", Lehrer, das hatte ich jedenfalls in deutschen Dritte-Welt-Broschüren gelesen. Nyerere galt als eine Art sanfter Mao. Er schickte die Bauern mehr oder minder freiwillig in sozialistische "Ujamaa-Dörfer" in denen es kein Privateigentum mehr gab. Die Folgen waren verheerend. Alle Lebensmittel wurden knapp und teuer; Seife, Benzin oder Zigaretten unbezahlbar. Nur der Schwarzmarkt funktionierte. Doch den Funktionären der Chama Cha Mapinduzi (Partei der Revolution) ging es weiterhin gut. In speziellen Schuppen am Flughafen lagerten ausreichend Kühlschränke und Klimaanlagen für sie. Nyerere war kein blutrünstiger Diktator, nicht korrupt und voller gutem Willen. Sein Glaube an kollektives Eigentum und die Planbarkeit der Wirtschaft genügte jedoch völlig, um Tansania nachhaltig zu ruinieren. Macht nichts: Nyerere gilt heute noch als Held und Che Guevara, der Kubas Wirtschaft zerstörte, erst recht. Nicht Taten zählen sondern Worte.
Was ist mit mir geschehen? Bis heute haben sich meine politischen Träume nicht verändert. Ich wünsche mir nach wie vor eine Welt ohne Armut, ohne Unterdrückung, ohne Privilegien für wenige und mit gleichen Chancen für alle. Ich habe nur nach und nach aufgehört daran zu glauben, dass diese Ziele durch staatliche Lenkung, gut gemeinte Verbote und das Verteilen von Steuergeld erreicht werden können. Aus mir ist also eine Art Wertelinker geworden, der etatistische Patentrezepte mit zunehmender Skepsis betrachtet. Ist das schon rechts? Schauen wir erstmal, wie es weiterging.
Ein paar Jahre später führten mich meine Reisen dann auch mal nach Südostasien. Dort war mancherorts unübersehbar, wie die Massenarmut rapide abnahm. Doch meine Freunden interessierte es nicht, dass es Südkorea, Taiwan und Thailand offensichtlich immer besser ging. Und zwar nicht nur den dortigen Oberschichten, sondern auch den Arbeitern und Bauern. Mitte der 1970er hatte der Club of Rome noch gewaltigen Hungersnöten mit Millionen von Toten für diese Weltgegend prophezeit. Nun nahmen Malaysia, Hongkong & Co. ihren alten Kolonialherren die Märkte ab. Dabei hatten auch sie einmal so arm wie Tansania angefangen. Es ging also doch: Die Verdammten dieser Erde holten gewaltig auf. Leider jedoch mit kapitalistischen Methoden. Und das war es wohl auch, was den Aufstieg Asiens unter deutschen Linken zum Null-Thema machte.
Die Zweifel wurden nagender. Waren wirklich nur stalinistische Despoten an der Armut im Sozialismus schuld? Steckte hinter den Auffälligen Wohlstandsgefälle zwischen Nordkorea und Südkorea, BRD und DDR nicht doch ein prinzipiellerer ökonomischer Irrtum des Sozialismus? Noch in den 1990er Jahren las ich in dem Bestseller "Die Globalisierungsfalle" das Gegenteil: Nicht staatliche Planung und Bürokratie mache die Menschen arm, sondern Markt und Wettbewerb. Unter anderem sagten die Autoren dieses damals hoch gepriesenen Werkes voraus, dass die Entstaatlichung der Telekommunikation viele tausend Arbeitsplätze kosten werde. Kurz darauf trat - wie bei so vielen linken Prophezeiungen - das glatte Gegenteil ein: Tausende Jobs entstanden bei den neuen Telefongesellschaften und telefonieren wurde für alle billiger. Wie schrieb Tucholsky so schön: "Es ist die Aufgabe des historischen Materialismus zu zeigen, wie alles kommen muss - und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte."
Nun fing ich an Bücher zu lesen, die früher bei mir und meinen Freunden auf dem Index der guten Gesinnung standen: Unter anderem solche von Popper und Hayek. Die Freiheitsliebe und Staatsskepsis der beiden alten Erzliberalen wirkte irgendwie ansteckend. Und darüber hinaus lag ihre intellektuelle und sprachliche Klarheit weit über dem, was ich aus linker Theorie so gewohnt war. Was ich von meiner Lektüre zu berichten hatte, focht die meisten meiner Gesprächspartner nicht weiter an. Sie kannten Popper und Hayek schon lange, auch ohne sie gelesen zu haben. Dieser Reflex begegnete mir unter Linken nun immer häufiger: Auch wenn man fast nichts weiß, weiß man es dennoch besser. Allein die Tatsache, dass man eine bestimmte Haltung dabei einnimmt, adelt alles was man sagt oder tut. Angenehmerweise kostet diese Haltung nichts und ist für jeden Opportunisten billig zu erwerben. Die Linke, meinte der Politologe Ekkehart Krippendorff einmal, habe immer das Element der historischen Wahrheit für sich, die Rechte dagegen "das Element der Unwahrheit und des Unrechts." So einfach kann die Welt sein.
Solcher Hochmut tritt heute viel deutlicher zutage, als zu den Hochzeiten linker Theorie. Waren die 1960er-Jahre-Intellektuellen noch wandelnde Bibliotheken, so unterwerfen sich ihre Epigonen einer freiwilligen Zensur, die fast alles außerhalb der eigenen Wohlfühl-Literatur ausblendet. Der ideelle Gesamtlinke von einst war ein kettenrauchender Bücherwurm, der eine Aura geistiger Übermacht um sich verbreitete. Ehrfurcht gebietend strahlte ein Regenbogen aus Suhrkamp-Taschenbücher über seinen frisurlosen, vom vielen Denken zerrauften Haaren. Wer es wagte, sich mit ihm anzulegen, wurde mit Gramsci, Mandel oder Adorno erschlagen. Heute trifft man in den sich links dünkenden Kreisen zwar auf kulturell überaus rührige Theaterbesucher, Feinschmecker, Wein- und Kunstkenner. Genauere Kenntnisse aus Politik und Ökonomie werden dort jedoch für unnötig gehalten. Man fühlt sich über solche profanen Dinge erhaben. Es geht heute unter allgemeinem Kopfnicken durch, wenn ein mehrfach Grimme-Preis-gekrönter Drehbuchautor alle Maßstäbe verlierend erklärt: "Wir leben in einer Zeit, in der der Faschismus der Profits überhand nimmt." Arroganz ersetzt Analyse.
Besonders deutlich wird dieses seltsame Nichtwissenwollen, wenn es um Wissenschaft und Technik geht - Felder, mit denen man sich als Linker nicht beschäftigt. Schon in meiner ersten Kapital-Schulung bekam ich beigebracht, dass keinesfalls James Watts Dampfmaschine die Industrielle Revolution beflügelt habe, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse hätten die Dampfmaschine hervorgebracht. Schafft die Computerrevolution Arbeitsplätze, reinigt der Katalysator die Luft, steigert Gentechnik die Ernten, dann sitzt die Linke auf dem Sofa, verschränkt die Arme und ist beleidigt. Fortschritt darf nur durch gesellschaftliche Umwälzungen entstehen und keinesfalls durch Technik. Aber der linke Mainstream hat sich ja ohnehin vom Gedanken des Fortschritts verabschiedet. Stattdessen pflegt man eine Art negativen Adventismus, der sich aus Versatzstücken der Marxschen Verelendungstheorie und ökologistischen Untergangsszenarien speist. Egal was passiert, es führt uns näher an den unvermeidlichen Abgrund. Begründungen dafür werden ungeniert gewechselt: Die Arbeiter kommen zu Wohlstand. Aaaber die Dritte Welt wird immer ärmer! Dritte-Welt-Länder holen auf. Aaaber die Umwelt! Die Umwelt wird sauberer. Aaaber die Klimakatastrophe kommt! Irgendwie wird schon alles den Bach runter gehen. "In der Linken sammelten sich vor allem Leute, die verdreht denken," sagte der Historiker (und Ex-Aktivist des "Sozialistischen Büros") Dan Diner einmal. "Sie malten stets Worst-Case-Szenarien an die Wand und wurden dann aus Panik immer radikaler, weil sie an ihre eigenen Unheilsprophezeiungen zu glauben begonnen hatten."
Als ich mich mit Ende Zwanzig für den Journalismus entschied, heuerte ich selbstverständlich in ökosozial mustergültigen Redaktionen an. Doch eigentlich war ich schon damals fürs Linkssein verloren. Ich wusste es nur noch nicht. Doch dann lernte ich den Typus des deutschen Karrierelinken im Arbeitsalltag kennen. Das gab mir den Rest. Nach und nach fing ich an, manche konservativen Kollegen sympathischer zu finden. Da gab es welche, die achteten auf fair play, zeigten soziale Verantwortung und leisteten praktische Hilfe. Vielleicht lag es an einer christlichen Grundhaltung, vielleicht wollten sie mir demonstrieren, dass sie "doch gar nicht so sind". Wie dem auch sei, bei meinen Gesinnungsgenossen suchte ich solche einfachen menschlichen Qualitäten meistens vergeblich. Es reichte ihnen, für das globale Gesamtgute zuständig zu sein, was zählten da schon die Alltagsprobleme einer Sekretärin. Ja, ich weiß: Natürlich gibt es statistisch vermutlich ebenso viele rücksichtlose Konservative wie soziale Linke. Nur ist mir dummerweise die umgekehrte Kombination viel häufiger begegnet.
Während sich also auf menschlicher Ebene Irritation breit machte, stand ich mit meinem verbliebenem linken Fortschrittsoptimismus immer häufiger alleine da. "Das Ende ist nah!", schallte es aus den ehemals fortschrittlichen Leitmedien. Und das Ende hieß nun nicht mehr "Revolution" oder "Befreite Gesellschaft" sondern Weltuntergang (wahlweise als ökologisches Desaster, oder von den Amis angezettelter Weltkrieg). Der linke Mainstream nahm eine konservative Bewahrungshaltung ein. "Progressiv" wurde zum schmutzigen Wort. Hatte man früher nach Veränderung gelechzt, warnte man jetzt mit sorgenvollem Stirnrunzeln vor zuviel Veränderung und wies auf die Risiken hin. Technischer Fortschritt? Nein, danke. Globaler Freihandel? Vorsicht. Mehr Freiheit für den Einzelnen? Lieber nicht. Kampf gegen Diktaturen? Ohne uns. Nun, das Leben in Deutschland ist recht angenehm, wenn man einen warmen Posten im Kulturbetrieb hat, Regierungspolitik in der Verwaltung exekutiert oder als subventionierter Ökoaktivist das Gute repräsentiert. Da vergisst man eben gern, was draußen in der Welt so los ist.
Dummerweise geben aber die Amis keine Ruhe. Diese Störenfriede sind seit dem 11. September 2001 der Meinung, das die Unterdrückung des Menschen auch in islamischen Ländern beseitigt werden sollte. "Hybris!", schimpfen die, die ihre eigenen Freiheitsrechte für eine Selbstverständlichkeit halten. Aber war nicht einst der Kampf gegen Unterdrücker und Menschenschinder links? Hieß links sein nicht fortschrittsoptimistisch sein, Lust auf Veränderung haben und an ein besseres morgen glauben? Kann sich noch einer daran erinnern? Ach was soll's, dann bin ich eben rechts - wenn die neue linke Definitionsmacht es so will. Neue politische Freunde habe ich auch schon. Die wohnen in Washington, sind fortschrittsoptimistisch und wollen die Welt verändern. Sie sind der Alptraum aller Despoten - ganz wie einst die Linke.
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