Mit Friedrich Nietzsche weiß man in Weimar nichts anzufangen

von Matthias Kamann (DIE WELT, 28. August 2000)

Weil der Philosoph "problembehaftet" sei, wurde er zum 100. Todestag außerhalb der Friedhofsmauern verscharrt - und Peter Sloterdijk hielt dazu die holzbanale Grabrede

Kindermund tat Wahrheit kund. Gleich zwei Mal. Zunächst am Morgen: Als der Zug in Weimar einfuhr und ein vielleicht elfjähriger Knabe von seinem Vater erfuhr, dass "ein ganz berühmter Philosoph" hier vor 100 Jahren gestorben sei - da sprach das Kind: "Oh, ein besonderer Tag!" Am Mittag, nach Sloterdijks Rede, resümierte eben dieser Junge, den die Eltern in den Theaterkubus an der Ilm geschleppt hatten: "Ich fand's stinklangweilig." Diesen beiden Sätzen können in den folgenden Zeilen nur verdeutlichende Anmerkungen hinzugefügt werden.

Dass der 25. August 2000 für Weimar ein bedeutender Tag war, steht außer Zweifel. An diesem Tag starb hier Friedrich Nietzsche nach Jahren schweigsamen Wahnsinns. Hier verstümmelte und verzerrte Elisabeth nach des Bruders Tod dessen geistiges Erbe, hier bemächtigten sich die Nazis seiner Ideen. Zugleich aber gilt: Hier ist Nietzsche, wo er hingehört, im Zentrum deutschen Geistes, in der Nachbarschaft Goethes und, etwa in Gestalt des Bauhauses, der Moderne.

Doch statt dass Weimar nun versuchte, jene ungerechte Behandlung wieder gutzumachen, indem man sich ihm affirmativ zuwandte, entfernte man sich abermals von ihm. Nietzsche, der so lange in Weimar nicht sein durfte, der er war, wurde auch jetzt nicht willkommen geheißen. In der Stadt verdeckten die Vorbereitungen für Goethes 251. Geburtstag den Nietzsche-Tag, auf dem Frauenplan fand kein "Zarathustra"-Wettlesen statt, sondern ein Weinfest. Und auch die zuständige Stiftung Weimarer Klassik stand nicht zu ihm. Eine Lesung mit Libgart Schwarz, die Vorstellung einer Bibliografie und einer Studie übers Nietzsche-Archiv - das war, neben Sloterdijks Rede, schon alles, was man auf die Beine stellte. Ganz bewusst, sagte Jochen Golz, der Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, habe man sich für ein karges Programm entschieden. Nietzsches Philosophie und die Annäherung an sie, so Golz im schönsten Ton akademischer Provinzialität, seien "zu problembehaftet". Statt einer Totenfeier veranstaltete man eine Beerdigung außerhalb der Friedhofsmauern und sorgte so dafür, dass Nietzsche, statt im Abendlicht zu erstrahlen, sich abermals dämonisch verfinsterte. Der schwarze Theaterkubus an der Ilm, in seiner Mischung aus Behelfsbude und Satanskapelle, gab den passenden Rahmen ab.

In dem sprach Peter Sloterdijk "Über die Verbesserung der Guten Nachricht - Nietzsches Überhumanismus". Auch hier keine Annäherung. Bei Sloterdijk freilich unterblieb sie nicht aus Angst, sondern aus Desinteresse. Sloterdijk, Häuslebauer der Geistesgeschichte, sucht immer nur Steine, um sich ein Gedankengebäude zu mauern. Er benutzte Nietzsche, würdigte ihn nicht.

Wo einer spricht, so Sloterdijk, gehe es um Selbstlob: "Die Menschen haben die Sprache, um von ihren Vorzügen reden zu können." Das freilich konnten sie früher, in den hierarchischen Hochkulturen, nicht unverstellt tun. Vielmehr hätten sie, um sich zu erhöhen, Umwege gehen müssen: So habe Otfrid von Weißenburg im 9. Jahrhundert, um die Franken den Griechen ebenbürtig zu machen, eine volkssprachliche Evangelienharmonie verfassen müssen; die Adelung der Franken auf dem Umweg über die Bibel. Ähnlich habe Thomas Jefferson am Anfang des 19. Jahrhunderts ein Evangelienexzerpt verfasst, bei dem er sich, um sich selbst als moralisch herauszustellen, an den redigierten Heiland habe anlehnen müssen.

Mit diesem Selbstlob auf dem Umweg über die Metaphysik habe Nietzsche Schluss gemacht: Er schrieb mit dem "Zarathustra" sein eigenes Evangelium. Das ist nun freilich holzbanal. Denn wenn man Sloterdijks Wort vom Sprechen als stetem Selbstlob ersetzt durch die genauere These vom Sprechen als Selbstkonstituierung - dann haben wir, was jedes Hauptseminar zum 19. Jahrhundert lehrt: Dass nämlich von da an das Ich auf eigene Kosten sprechen, dass Individualität nicht mehr in Anlehnung an Metaphysik oder Hierarchie, sondern nur aus dem Autor heraus gebildet werden kann. Baudelaire war da übrigens schneller als Nietzsche.

Absolut unoriginell auch die Folgerungen, die Sloterdijk zog. Dass einer, der auf eigene Kosten spricht, sich verausgaben muss, weil er keine Anleihen bei anderen machen kann, so dass er, finanztechnisch gesprochen, zum steten Sponsor wird - das hat schon Georges Bataille festgestellt. Genauso, dass Nietzsche dabei nicht als protzender Magnat auftritt, sondern den Reichtum nur hat, weil er sich durchdringen lässt vom Reichtum des Lebens. Und was dann Sloterdijk als besondere Pointe verkaufte: dass nämlich Nietzsche durch sein Schöpfen aus sich heraus zum Trenddesigner des Individualismus wird und das Sprechen in Selbstreklame verwandelt - ja wer wollte das bestreiten? Aber was sagt das über Nietzsches Denken aus, seine originäre Leistung?

So kam also Nietzsche in Weimar so gut wie nicht vor. Die einen umgingen ihn aus Scheu, der andere, Sloterdijk, würdigte ihn zum Stichwortgeber seiner blassen Geschichtsphilosophie herab. Was begangen wurde in Weimar, war nicht Nietzsche, sondern die Unfähigkeit der Deutschen, sich einem ihrer faszinierendsten Denker zu nähern. Bleibt zu hoffen, dass der eingangs zitierte Knabe sich von seinen deprimierenden Eindrücken nicht etwa davon abhalten, sondern umgekehrt dazu anstacheln lässt, Philosophie zu studieren und Professor zu werden. Dann kann er es am 15. Oktober 2044, zum 200. Geburtstag, besser machen.


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