"Ich kämpfe gegen das Dunkel"

Der in Großbritannien lebende Schriftsteller V. S. Naipaul über den Literatur-Nobelpreis, den er diesen Montag in Stockholm entgegennahm, seinen Zorn auf den kriegerischen Islamismus und seinen jüngsten, nun auf Deutsch erscheinenden Roman "Ein halbes Leben"

V.S. Naipaul
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V.S. Naipaul
SPIEGEL: Sir Vidia, Sie bekommen nun die bedeutendste Literaturauszeichnung der Welt überreicht - und doch wurden und werden Sie von manchen Kritikern und Kollegen als "Misanthrop" oder "Reaktionär" attackiert. Stört Sie das?

Naipaul: Überhaupt nicht. Meistens sind das Leute, die meine Bücher nicht kennen. Wenn man mein Werk gelesen hat, ist es schwer, zu solchen Schlussfolgerungen zu kommen.

SPIEGEL: Für Edward Said und Salman Rushdie sind Sie ein "Neo-Kolonialist", ja eine Art "Onkel Tom".

Naipaul: (lacht) Eine hübsche Art, alles zusammenzubringen!

V. S. Naipaul

wurde 1932 als Nachfahre aus Indien eingewanderter Zuckerrohrarbeiter auf der damals britischen Karibik-Insel Trinidad geboren. Als 18-Jähriger ging er mit einem Stipendium nach Oxford, um englische Literatur zu studieren und Schriftsteller zu werden. Das Trauma der Entwurzelung prägt sein großes, autobiografisch gefärbtes Werk ("Das Rätsel der Ankunft").

SPIEGEL: In Ihren Büchern "Eine islamische Reise" und "Beyond Belief" haben Sie die Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus von Iran bis Malaysia hellsichtig beschrieben. Konnten Sie sich vor dem 11. September Terrorattacken wie die von New York vorstellen?

Naipaul: Nein. Ich hatte islamistische Bewegungen in Malaysia, Indonesien und Pakistan beobachtet, aber ich hielt sie für lokal und isoliert. Das Problem ist, dass Saudi-Arabien seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der islamischen Welt viel aggressiver auftritt und jede Art von Islamismus und Destabilisierung unterstützt. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es so schnell so enden würde.

SPIEGEL: Paradoxerweise ist Saudi-Arabien mit den USA verbündet.

Naipaul: Das ist das große Problem. Sie sind die Alliierten ihres Feindes. Eine wahrhaft bizarre Situation. Die Saudi-Araber praktizieren eine besonders rohe Abart des Islam, den Wahhabismus. Sie glauben nur an die Wüste und den Staub und lehnen alles ab, was für uns die Zivilisation ausmacht. Wir haben diese Widerlichkeit in Afghanistan gesehen, als die Taliban die berühmten buddhistischen Statuen von Bamian - unersetzliche Monumente - zerstörten. Die so genannte Gandhara-Kultur verband in ihren Kunstwerken griechische Motive und Techniken mit buddhistischen Themen.

SPIEGEL: Finden Sie Ihre alte These bestätigt, ein großes Problem der muslimischen Welt sei der Islam jener Völker, die zur Religion der Araber konvertierten?

Naipaul: Ja. Ein Konvertierter muss seine Vergangenheit zerstören, er darf keine haben. Daraus entsteht der Fundamentalismus, den man in den konvertierten Ländern sieht. Nach den September-Ereignissen in New York und der Bombardierung Afghanistans fanden die Demonstrationen gegen die Vereinigten Staaten weniger in den arabischen Ländern statt, eher in konvertierten Ländern: in Malaysia, Indonesien, Pakistan. Das Wesen des Konvertierten ist es, seiner Seele abzuschwören. Er muss seine Kultur und seine angestammten Bräuche verleugnen. Das muslimische Pakistan etwa kämpft prinzipiell gegen das Steigenlassen von Drachen, weil dieser alte Brauch auf das hinduistische Frühlingsfest zurückgeht. Und das mehrheitlich muslimische Malaysia ist gegen alle Restbestände hinduistischer Hochzeitsbräuche. Sie wollen rein sein, Araber sein. Es ist eine Form von Wahn.

SPIEGEL: Sie meinen, dem Islam ist es in Jahrhunderten nicht gelungen, diese Gesellschaften ganz zu durchdringen?

Muslimische Studentinnen in Indonesien: ''Der Fundamentalismus will die nichtislamische Geschichte auslöschen''
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GroßbildansichtMuslimische Studentinnen in Indonesien: "Der Fundamentalismus will die nichtislamische Geschichte auslöschen"
Naipaul: In Indonesien etwa mischt sich der Islam immer noch mit älteren Glaubensrichtungen - Animismus, Buddhismus, Hinduismus. All das will der Fundamentalismus hinwegsäubern. Wir alle müssen zittern um die Zukunft von Kunstwerken wie Borobudur in Indonesien, wo sich wunderbare buddhistische Stupas aus dem 7. und 8. Jahrhundert befinden. Während der Rest der Menschheit versucht, mehr zu erfahren über unser gemeinsames kulturelles Erbe - also darüber, was Menschen zu dem gemacht hat, was sie sind -, will der Fundamentalismus die nichtislamische Geschichte auslöschen.

SPIEGEL: Was zog Sie zum Thema Islam?

Naipaul: Ich wuchs in einer hinduistischen Familie auf, aber zum indischen Bevölkerungsteil auf Trinidad gehörten auch Muslime. Während der iranischen Revolution von 1979 merkte ich, dass ich etwas an ihrem Glauben nicht verstand - und darum wollte ich mir in Iran und anderswo selber ein Bild davon machen. Dann erst wurde mir klar, in welchem Maß sich unsere muslimischen Nachbarn als Araber betrachteten, indem sie sich arabische Namen gaben und so weiter. Aber ich interessierte mich auch deshalb für den Islam, weil Indien noch heute an den Folgen der muslimischen Invasion leidet.

SPIEGEL: Meinen Sie, der Islam kann mit anderen Religionen nicht koexistieren?

Naipaul: Nicht, wenn er an der Macht ist. Denn eines der Schlüsselelemente im Islam ist der religiöse Krieg. Gute Muslime müssen ihn immer führen, sie müssen ihre Feinde identifizieren und hassen.

SPIEGEL: Viele Gelehrte und hohe Würdenträger des Islam widersprechen dem.

Naipaul: Sie können jede Menge Gelehrte finden, die es nicht so meinen. Natürlich kann man nicht kämpfen, wenn man schwach ist. Aber wer die Macht hat, will sie auch anwenden.

SPIEGEL: Sie waren vor einem halben Jahrhundert einer der Ersten bei der beginnenden Völkerwanderung von der armen in die reiche Welt, und bei der Suche nach Ihren Wurzeln wurden Sie Kosmopolit. Könnte man Sie als ersten Autor der Globalisierung bezeichnen?

Naipaul: Ja, wahrscheinlich war ich eine Art Avantgarde-Figur. Aber ich musste dafür bezahlen, dass ich zu früh kam: Viele Jahre lang hat sich kaum jemand für meine Themen interessiert. Es war schwer.

SPIEGEL: Sie haben die Zuerkennung des Nobelpreises als "große Ehre für meine Heimat England und für Indien, die Heimat meiner Vorfahren", bezeichnet. Warum verschwiegen Sie die Karibik-Insel Trinidad, auf der Sie Ihre ersten 18 Lebensjahre verbrachten?

Naipaul: Mein literarisches Werk habe ich im Wesentlichen in England geschaffen, mit Indien habe ich mich in den vergangenen vier Jahrzehnten immer wieder beschäftigt. Meine Verbindungen zu Trinidad dagegen sind immer unbedeutender geworden, auch wenn es das Land meiner Geburt ist.

SPIEGEL: Aber auf Trinidad entschlossen Sie sich schon als zehnjähriger Junge, Schriftsteller zu werden; dort spielen Ihre ersten vier Bücher, darunter der berühmte Roman "Ein Haus für Mister Biswas", in dem Sie Ihrem Vater ein Denkmal setzten. Trotz allem zählen Sie Ihr Geburtsland nicht zu Ihrem kulturellen Erbe?

Naipaul: Von welcher Kultur sprechen Sie? Trinidads ursprüngliche Bevölkerung wurde im Lauf von zwei Jahrhunderten von den spanischen Eroberern umgebracht. Dann war die Insel eine Zeit lang verlassen. Im späten 18. Jahrhundert wurde sie Sklavenkolonie, und Mitte des 19. Jahrhunderts begann man, für die Zuckerrohrernte Kontraktarbeiter aus Indien ins Land zu schaffen. Kulturell ist Trinidad eine Wüste.

SPIEGEL: Der 1992 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Poet Derek Walcott, der wie Sie von den Antillen stammt, sieht das ganz anders. Seine Dankrede in Stockholm war eine Huldigung an die Vielfalt von Hautfarben, Sprachen, Religionen und Traditionen, die Ihr gemeinsamer Nährboden war. Was Sie als Scherbenwelt sehen, ist für ihn ein Kaleidoskop.

Naipaul: Menschen müssen natürlich verschieden denken. Walcott kommt auch nicht von Trinidad, sondern von einer der kleinen Nachbarinseln, und ich glaube nicht, dass es dort eine indische Bevölkerung gibt; diese Erfahrung hat er nicht. Aber eine Sklavenkolonie ist eine Sklavenkolonie. Es ist närrisch, wenn jemand das als seine Heimat ausgibt.

SPIEGEL: Lässt Sie der Stolz Ihrer Landsleute kalt? "Obwohl Naipaul einen Horror davor hat, dass irgendjemand ihn für sich in Anspruch nimmt", sagte Walcott über Sie, "sind wir Westinder doch stolz auf ihn. Auch das ist Teil seines rätselhaften Schicksals."

Naipaul: Dazu möchte ich nichts sagen.

SPIEGEL: In Ihren Büchern ist oft die Rede von der Dunkelheit Ihrer Jugend.

Naipaul: Trinidad war für mich eine Zone tiefer Dunkelheit, tiefer Unkenntnis, etwas, wogegen ich kämpfen musste. Vieles von dem, was ich geschrieben habe, beleuchtet das Dunkel, von dem ich mich umschlossen fand. Das ist auch das Thema meiner Nobelpreis-Rede. Ich zitiere darin häufiger die Worte "Land der Finsternis". So lautete der Titel eines meiner Indien-Bücher. Die Leute dachten, ich meinte damit Indiens Dunkelheit. Aber was ich im Sinn hatte, war meine eigene Herkunft: Weil ich auf jener Insel aufwuchs, ohne etwas über die Vergangenheit und unsere Vorfahren zu wissen, war Indien für mich eine Dunkelzone. Und es gab viele andere: Wir kannten die Geschichte des Landes nicht, in dem wir waren. Wir wussten nichts von der Außenwelt. Um das zu verändern, bin ich Schriftsteller geworden.

SPIEGEL: Der Unwissenheit entfliehen will auch Willie Chandras, der Held Ihres neuen Romans "Ein halbes Leben". Zugleich mit einem Buch über die Geschichte Trinidads erscheint es in dieser Woche auf Deutsch. Chandras entstammt wie Sie einer indischen Familie und kann mit Hilfe eines Stipendiums in England studieren.

Naipaul: Es geht um einen Mann von tiefer Ignoranz, der sich sehr, sehr langsam aus dem Dunkel des Unwissens befreit.

SPIEGEL: Aber anders als Sie scheitert Ihr Held, nicht nur als Schriftsteller. Am Ende des Romans und seines "halben Lebens", mit 41, hat Willie noch keine eigene Identität, keine berufliche Existenz und keine soziale Perspektive. Wie vertraut ist Ihnen selbst die Angst vor dem Scheitern?

Buchtip

V. S. Naipaul: "Ein halbes Leben". Aus dem Englischen von Sabine Roth und Dirk van Gunsteren. Claassen Verlag, München; 224 Seiten; 37,16 Mark.

V. S. Naipaul: "Abschied von Eldorado. Eine Kolonialgeschichte". Aus dem Englischen von Bettina Münch und Kathrin Razum. Claassen Verlag, München; 448 Seiten; 44,98 Mark.

Naipaul: Sehr vertraut. Ich wollte unbedingt Schriftsteller sein - aber gleichzeitig war dieser Wunsch eine Quelle großer Angst. Ich wusste nie, ob es weitergeht. Erst als Mittvierziger wurde ich diese Angst los.

SPIEGEL: Inzwischen haben Sie aber nicht weniger als 27 Bücher publiziert.

Naipaul: Eigentlich sind es 25, die beiden anderen sind eher Büchlein. Ich bin selber erstaunt über diese Zahl, weil mir bewusst ist, dass ich viele Jahre lang gar nichts geschrieben habe, weil es mir an Stoff fehlte.

SPIEGEL: Über die Prosa von "Ein halbes Leben" hat Ihr südafrikanischer Schriftstellerkollege J. M. Coetzee gesagt, sie sei "so sauber und so kalt wie ein Messer". Streben Sie chirurgische Präzision an?

Naipaul: Nein. Ich will vor allem so schreiben, dass es sehr leicht zu lesen ist. Ich möchte ganz klar sein, sogar mit den schwierigsten Ideen einfach umgehen. Ich vermeide lateinische Wörter und misstraue Abstraktionen - damit kann man herumpfuschen und Verwirrung stiften.

SPIEGEL: Wer Ihre Bücher liest, könnte zum Schluss kommen, dass die Dritte Welt an Armut und Elend im Wesentlichen selber schuld ist. Glauben Sie das wirklich?

Naipaul: Zunächst einmal verstehe ich nicht, was mit "Dritte Welt" gemeint ist. Länder haben doch ihre Besonderheiten, jedes von ihnen existiert für sich. Die Idee eines Dings namens Dritte Welt ebnet alle Unterschiede ein. Sie ist mir zu glatt.

SPIEGEL: Bei allen Differenzen haben arme Agrarstaaten wie etwa Afrikas ehemalige Kolonien aber doch viele Gemeinsamkeiten, zumindest gegenüber reichen Industriestaaten. Günter Grass, auch er einer Ihrer Nobelpreis-Vorgänger, hat Ihnen unterstellt zu übersehen, dass der Westen auf Kosten der Dritten Welt lebe.

Naipaul: Meiner Meinung macht man es sich und den Menschen in jenen Ländern zu leicht, wenn man sagt, sie seien nicht selbst verantwortlich. Wenn das so wäre, dann müssten wir erst gar nicht lange darüber nachdenken, in welchem Grad sich Afrika in der modernen Welt selbst verwundet. Ich fände es gut, wenn afrikanische Schriftsteller selbst analytischer über ihre Kulturen schrieben. Wer nur andere verantwortlich macht, ändert selber nichts.

SPIEGEL: Unbestreitbar. Ebenso unbestreitbar aber ist, dass die Globalisierung enorme Kräfte freisetzt, die wohlhabende Länder oft reicher und die Ärmsten noch ärmer machen.

Naipaul: Vielleicht ist die Idee, dass die Leute von außen in Armut gehalten werden, ja richtig. Aber bei meinen Reisen habe ich eher das Gegenteil beobachtet. Malaysia wurde sehr reich, Indonesien wurde 1995 außerordentlich reich. Ich habe auch gesehen, wie meine eigene kleine Insel Trinidad reicher wurde, als sie je war. Wenn das Geld dort missbraucht und eine Menge davon gestohlen wurde, dann war niemand anders schuld als die Leute vor Ort.

SPIEGEL: Wollten Sie deshalb vom Wort "Imperialismus" nie etwas wissen?

Naipaul: Ich habe es früher ebenso abgelehnt wie das Wort "Kolonialismus". Beide waren nämlich in den fünfziger Jahren, als ich meine literarische Arbeit begann, politische Allerwelts-Schlagworte. Ich verbat mir sogar, dass meine Verleger über mich mit Sätzen informierten wie "Er schreibt über den Imperialismus". Denn ich habe nie über Abstraktionen wie den Kolonialismus gearbeitet. Meine Bücher beobachten die Wirklichkeit ganz aus der Nähe. Heute, Jahrzehnte später, habe ich aber kein Problem mehr mit den Begriffen.

SPIEGEL: Schließlich ist Ihr großes Thema das Schicksal der Menschen in den ehemaligen Kolonialländern in der Ära der Dekolonisierung.

Naipaul: Als Schriftsteller interessieren mich Menschen ohne die Hülle der Abstraktionen. Ich wollte zum Beispiel herausfinden, wie sich Kolonisierung auf das menschliche Denken auswirkt.

SPIEGEL: Sie haben einmal geschrieben, Schriftsteller seien Sie nicht zuletzt auch deshalb geworden, weil Sie berühmt werden wollten. Das haben Sie jedenfalls erreicht.

Naipaul: Bin ich wirklich berühmt?

SPIEGEL: Sir Vidia, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Michael Sontheimer und Rainer Traub (Der Spiegel 50/2001 - 10. Dezember 2001)