Moderne Verfassungsideen

Entwicklungen seit dem Mittelalter

Die durch die Antike und Scholastik geprägte Lehre von der Politikwissenschaft als einer praktischen Philosophie bestimmte an den europäischen Universitäten bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hinein den akademischen Lehrkanon.

Dort gehörte innerhalb der sogenannten Artistenfakultäten, in denen eine philosophische Grundbildung vermittelt wurde, die Beschäftigung mit Aristoteles, Cicero, Augustinus und Thomas v. Aquin zu den zentralen Inhalten des Ausbildungsprogramms. In diesem Rahmen wurde so über Jahrhunderte Politik als ein Teil der Ethik, als eine Anleitung zur Tugend für Herrscher und Bürger gelehrt.

Erst mit der Aufklärung, vor allem mit Kants Angriff auf die aristotelische Ethik, wurde die klassische Schulphilosophie auch in ihren politiktheoretischen Teilen in fundamentaler Weise in Frage gestellt.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts verschwand diese praktisch-ethische Variante der Politikwissenschaft deshalb definitiv aus dem universitären Lehrkanon.

Außerhalb der akademischen Lehre hatte sich aber diese enge Verbindung von Ethik und Politik schon längst zu lösen begonnen.

Mit dem Beginn der Neuzeit, den Entdeckungen und dem Siegeszug der Naturwissenschaften gingen nicht nur wissenschaftliche Umwälzungen, sondern auch tiefgreifende gesellschaftliche und politische Krisen einher. Sie führten zum Zerfall der geistlichen und weltlichen Ordnung des Mittelalters, an deren Stelle der moderne Territorialstaat trat. In dem allgemein fortschreitenden Säkularisierungsprozeß veränderten sich auch Form und Inhalt der Politik grundlegend.

Auf Dauer führte dies auch zu einer grundlegenden Neuorientierung der Politikwissenschaft, zu einer Abkehr von der älteren durch Aristoteles und die christlichen Theoretiker begründeten politiktheoretischen Tradition. Die Anstöße hierzu kamen aus der Politik selbst, aus den konkreten Gestaltungsaufgaben der politischen Praxis und haben als solche die vielfältigen Themen der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung bestimmt.

Niccolo Machiavelli

Als eigentlicher Begründer der modernen Politiktheorie kann Niccolo Machiavelli (1469-1527) gelten.

Zeitgenössischer Hintergrund seiner politischen Lehre ist das politisch zersplitterte Italien der Hochrenaissance. Fürstentümer und Republiken befehden sich unaufhörlich in ständigen Übergriffen, im Krieg aller gegen alle.

In dieser lebensbedrohlichen Situation setzt Macchiavelli, hierin die Staatsraison des heraufziehenden Nationalstaates vorwegnehmend, ausschließlich auf die Erhaltung und Vermehrung der Macht des Staates. Sie gilt es mit allen Mitteln, auch mit skrupellosen, um jeden Preis zu erhalten. Was zählt, ist ausschließlich der Erfolg.

Mit dieser Reduzierung der Politik bricht er mit dem antiken und mittelalterlichen Denken. Politik und politische Theorie werden säkularisiert, sie emanzipieren sich von jeglicher Ethik oder Theologie, Religion selbst wird zu Herrschaftszwecken instrumentalisiert.

Von Bedeutung sind für Machiavelli ausschließlich die Mechanismen und Techniken des Regierens, des Machterwerbs und der Machterweiterung. Politik verliert so ihren sinnhaften Zielcharakter, reale Fakten treten an die Stelle von Normen, und die Eigengesetzlichkeit des Politischen tritt an die Stelle mittelalterlicher Sinnstrukturen.

Thomas Hobbes

Diese Entwicklung wird im 17. Jahrhundert von Thomas Hobbes (1588-1679) mit radikaler Konsequenz fortgeschrieben.

Hobbes steht zum einen ganz unter dem Einfluß des naturwissenschaftlichen Empirismus seiner Zeit. Fasziniert von der neuen Methode des Messens, der mathematisch-geometrischen Demonstration, versucht er diese konsequent auf die Erkenntnis der Menschenwelt und damit die Gebiete der Psychologie, der Ethik und Politik anzuwenden.

Mensch und Politik werden von Hobbes nach den Gesetzen der Geometrie als ein rein physisch und psychisch agierender und reagierender Mechanismus betrachtet.

Sein Menschenbild selbst ist ein zutiefst skeptisches, sieht er doch den Menschen primär als ein egoistisches Triebwesen, dessen Handlungen in erster Linie durch den Grundantrieb der Furcht und den Willen zur Selbsterhaltung determiniert werden. Da es im "Naturzustand" so zwangsläufig zum Krieg aller gegen alle kommt, bedarf es einer starken Staatsmacht, um den Menschen voreinander Schutz und Sicherheit zu gewähren und so Frieden zu ermöglichen. Bestärkt in dieser Sichtweise wird Hobbes nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der religiösen Bürgerkriegssituation im damaligen England.

Über die größte Machtfülle verfügt die absolute Monarchie, da hier das anarchistische Streben der Menschen am wirksamsten kontrolliert werden kann.

Hobbes entwickelt in diesem Zusammenhang ein Bild vom Staate als einem künstlichen Mechanismus bzw. einem künstlichen Menschen, dem "Leviathan". Ihm haben sich die Individuen und Sozialverbände in totaler Entäußerung vorbehaltslos zu überantworten und unterzuordnen. Auch Kirche und Religion werden so in den Staat eingeschmolzen.

Hobbes wird so in Fortführung der Vorstellungen Macchiavellis nicht nur zum eigentlichen Theoretiker des modernen zweckrationalen Staates. Vielmehr ist er auch der erste, der den Staat als allumfassenden Regulator des sozialen und politischen Lebens konzipierte.

John Locke

Gegen diese pessimistische Sicht des Menschen und die daraus folgende Machtfülle des Staates wendet sich in aller Schärfe John Locke (1632-1704) Er argumentiert vor allem von der modernen Naturrechtslehre her.

Danach verfügt der einzelne Mensch als vernunftbegabtes Individuum von Natur aus über unveräußerliche vorstaatliche Rechte, vor allem über ein natürliches Selbsterhaltungsrecht.

Der Staat, der kraft eines fiktiv angenommenen Gesellschaftsvertrages zustande kommt, dient primär der Gewährleistung der Sicherheit von Leben und Eigentum der Bürger. Er ist somit primär ein Gesetzesstaat, der sich ansonsten aber aus den Privatangelegenheiten zurückzuhalten hat.

Allerdings ist dieser Staat in solcher der Eigentümer und Besitzbürger, da nur diese auch als Vollbürger gelten, die auch Vertreter ins Parlament entsenden dürfen.

Zentrale Verfassungsprinzipien sind für Locke:
- der Toleranzgedanke
- das Mehrheitsprinzip
- die Idee der Repräsentation
- die machthemmende Trennung der Gewalten in eine Legislative und eine Exekutive
sowie der Gedanke, daß Parlament und Regierung ihre Macht im Sinne des Vertrauensprinzips als Treuhänder des Volkes ausüben, woraus er im Extremfalle auch ein Widerstandsrecht herleitet.

Diese Forderungen beruhen auf einer Verbindung des neuzeitlichen Individualismus mit Teilen der antik-mittelalterlichen Denktradition. Locke, dessen Sympathie der konstitutionellen Monarchie gilt, wurde dadurch zum geistigen Begründer und ersten großen Theoretiker des liberalen Rechtsstaates und des politischen Liberalismus.

Seine Ideen haben sich im 18. Jahrhundert nicht nur in England, sondern vor allem in Nordamerika und in Frankreich rasch durchgesetzt. Insbesondere die amerikanische Unabhängigkeitserklärung enthält geradezu die Quintessenz seiner politischen Theorie.

Auch die politische Gedankenwelt vor und während der Französischen Revolution hat er erheblich beeinflußt. So verbinden sich die Leitbegriffe der Verfassungsberatungen der französischen Nationalversammlung von 1789 und 1791, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Gewaltenteilung untrennbar mit seinem Namen.

Jean Jaques Rousseau

Als geistiger Wegbereiter der Revolution, allerdings in ihrer radikalen jakobinischen Ausprägung, gilt auch Jean Jacques Rousseau (1712-1788).

Mit seinem politischen Hauptwerk, dem "Contrat social", macht er den Gesellschaftsvertrag zum zentralen Thema, weicht jedoch in entscheidenden Punkten von Locke deutlich ab.

Rousseau bezeichnet den Menschen des Naturzustandes als ungesitteten und unfreien Wilden, der erst in der staatlichen Gemeinschaft sich zu einem wahren und vernünftigen Menschen, einem freien, tugendhaften und gerechten Bürger (citoyen) entwickelt.

Mit dieser Zielbestimmung rückt Rousseau im Gegensatz zu Locke, der im Staat lediglich eine Schutzvereinigung für die autonomen Individuen sah, wieder ganz in die Nähe des scholastischen Staatsideals. Dieses hatte ja die staatliche Gemeinschaft ausdrücklich als Ermöglichungsgrund für die Entfaltung der sittlich-moralischen Eigenschaften des Menschen begriffen.

Ausschließlicher Träger der Staatsgewalt ist nach Rousseau der allgemeine Wille (volonté générale). Er zielt immer auf das Gute und das Gemeinwohl, kann nie irren und ist daher von dem partikularen Einzelwillen oder der bloßen Mehrheitsmeinung scharf zu unterscheiden. Die Freiheit des Einzelnen besteht in der völligen Unterordnung unter den als richtig vorausgesetzten Allgemeinwillen, dem er alle Individualrechte unterzuordnen hat. Verweigert sich ein Individuum dieser Einsicht, kann es zur Unterordnung, d. h. aber zur Freiheit, gezwungen werden.

Der Allgemeinwille selbst konkretisiert sich in Form von Volksabstimmungen, von Plebisziten. Durch sie regiert sich der Souverän, nach Rousseau das Volk, als Gesetzgeber selbst.

Parlamente, Vereinigungen oder Parteien lehnt er ab, da diese Einrichtungen zu einer Spaltung und Verfälschung des homogenen Gesamtwillens führen würden. Repräsentativprinzip und Pluralismus verwirft er ebenso wie das Prinzip der Gewaltenteilung. All diese Prinzipien hält er mit der von ihm postulierten Unteilbarkeit der Volkssouveränität für unvereinbar.

Rousseau wird mit diesen Vorstellungen zum Begründer des klassischen Modells der direkten Demokratie. In ihr werden Regierende und Regierte, Einzelinteresse und Allgemeininteresse identisch und verschmelzen miteinander.

Damit enthält seine Lehre ungewollt ein totalitäres Element, insofern eine elitäre Minderheit das formale Prinzip der volonté générale im Interesse der eigenen Zielvorstellungen inhaltlich mißbräuchlich füllen kann. Die Tatsache, daß die Jakobiner ihre Schreckensregime unter Berufung auf Rousseau als wahre Volksherrschaft in einem höheren Sinne zu rechtfertigen suchten, ist dafür ein bedenkliches Indiz.

Karl Marx

Die Ideen Lockes und Rousseaus sind nicht nur Ausdruck der Epoche der Aufklärung. Sie stehen zugleich für das wachsende Selbstbewußtsein eines sich ökonomisch und politisch zunehmend emanzipierenden Bürgertums in einer noch weitgehend vorindustriell geprägten Arbeits- und Produktionswelt.

Mit der im 19. Jahrhundert dynamisch voranschreitenden Industrialisierung verändern sich diese Rahmenbedingungen in Form der ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in geradezu revolutionärer Weise. Mit dem Entstehen des 4. Standes wird die soziale Frage zum beherrschenden Thema, das auch politische Antworten erfordert.

Die in diesem Zusammenhang sich herausdifferenzierenden und allmählich auch parteipolitisch formierenden ideologischen Grundströmungen, die auch die Ideenwelt des 20. Jahrhunderts prägen, ergeben die Trias von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus.

Letzlich neu ist jedoch nur der Sozialismus, der sich im wesentlichen mit dem Namen von Karl Marx (1818-1883) verbindet. Seinem Werk liegt die These zugrunde, daß die "Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie" zu suchen ist.

Grundlegend für Gesellschaft und Politik ist für ihn die Art und Weise der materiellen Produktion und der Wirtschaftsordnung. Hierdurch werden nicht nur die Bewußtseinsformen der Menschen (Moral, Religion, Metaphysik, Ideologien), sondern auch die politischen Institutionen und die Rechtsordnungen determiniert (Lehre vom Über- und Unterbau)

Mit dem technologischen Fortschritt und dem Wachstum der ökonomischen Produktivkräfte verändern sich nicht nur die Arbeitsbeziehungen und Sozialstrukturen. Vielmehr werden dadurch auch die politischen Herrschaftverhältnisse und die sie stützenden Ideologien entscheidend geprägt.

Marx beansprucht, den gesellschaftlichen und historischen Entwicklungsprozeß der Menschheit in gesetzlichen Kategorien auf objektiv-wissenschaftlicher Grundlage genau zu beschreiben und zu prognostizieren:

Da das Privateigentum als klasssenbegründendes Element nun nicht mehr existent ist, ist diese Endphase der Geschichte durch Konfliktlosigkeit und Friede charakterisiert, so daß auch der Staat als Ordnungsfaktor überflüssig wird.

Nach den Worten von Marx wird es dann keine eigentliche politische Gewalt mehr geben. Vielmehr tritt "an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".


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