"Milli Görüs" und Integration

von Frank Bilgi (Yazinca Nr. 17/1997)

In der vorletzten Ausgabe der „Yazinca“ gaben wir einen knappen Überblick über die organisatorische Entwicklung der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG), ehemals „Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa“ e.V. („Avrupa’da Milli Görüs Teskilatlari“, AMGT), in der Bundesrepublik Deutschland, kurz „Milli Görüs“ genannt.
Diesmal sprechen wir einige der Aspekte in den Aktivitäten und Positionen von „Milli Görüs“ an, die auf den Wandel in ihrer Einstellung zum Leben in der Bundesrepublik hinweisen. Dieser Wandel steht im Zusammenhang mit der Entwicklung der Einstellungen der türkischsprachigen Bevölkerung allgemein sowie der meisten anderen Organisatonen von Menschen aus der Türkei.

„Heiliger Krieg“ in den 1970er Jahren

Die Anfangszeit der Organisierung von „Milli Görüs“ in den 70er Jahren kann - wie auch bei den meisten anderen Organisationen - unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, eine gewisse Anbindung der türkischsprachigen Arbeitsmigranten und -migrantinnen an die Türkei aufrechtzuerhalten. Es wurden z.B. bestimmte Dienstleistungen angeboten, die die bundesdeutsche Gesellschaft ihnen nicht vermitteln konnte und oft auch nicht wollte. Zudem gaben solche Organisationen ihnen die Möglichkeit, mit Menschen in gleicher Lebenslage und mit gleicher oder ähnlicher Gesinnung zusammenzukommen.
Freilich bestimmte nicht nur Eigenlosigkeit die Aktivitäten der Organisationen. Beispielsweise war die isolierte Situation der ArbeitsmigrantInnen eine gute Voraussetzung, um sie für die jeweilige Partei in der Türkei zu gewinnen, v.a. als SpenderInnen.
Obwohl schon in den 70er Jahren Ansätze für eine Umbesinnung der ArbeitsmigrantInnen bezüglich ihrer Rückkehrabsichten erkennbar wurden, war das politische Leben noch sehr stark von der Situation in der Türkei geprägt, in die ja viele nach kurzer Zeit wieder zurückkehren wollten.
Diese Haltung spiegelte sich in den Vorstellungen und Aktivitäten von „Milli Görüs“ sowie anderen MigrantInnenorganisationen wider. Durchaus zweifelhafte Aktivitäten sicherten u.a. „Milli Görüs“ Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre ein verstärktes Interesse der Medien. Die Organisation war dafür bekannt, allenthalben den "Heiligen Krieg" auszurufen und jegliche „Integration“ strikt abzulehnen.
Es wurde berichtet, daß „Milli Görüs“ Stoßtrupps einsetzte, um Moscheen in Berlin zu übernehmen und auf ihre Linie zu bringen, so z.B. die Hagia-Sophia-Moschee (Berliner Stimme, 19.1.80).
Eine Gruppe von „Milli Görüs“-Anhängern habe im Juli 1979 einen Gottesdienst des „Islamischen Kulturzentrums“ in Dortmund überfallen (FR, 22.8.79, nach Özcan, S. 202).
Es konnte nie ganz geklärt werden, ob nun in den Mord an dem Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim am 5. Januar 1980 in Berlin mehr „Milli Görüs“ oder die faschistischen „Grauen Wölfe“ verwickelt waren: Eine bewaffnete Gruppe war aus der Mevlana-Moschee am Kottbusser Tor gestürmt und hatte dort mehrere Leute angegriffen, die Flugblätter verteilten, darunter auch Kesim. Von dieser Moschee ist bekannt, daß sie „Milli Görüs“ zugehörig ist. Auch das „Milli Görüs“-Büro befindet sich nebenan.
Ohnehin konnte seinerzeit beobachtet werden, daß „Milli Görüs“-Anhänger mit Anhängern der faschistischen „Nationalistischen Bewegungspartei“ (MHP) zusammenarbeiteten, die auch als „Ülkücüler“ („Idealisten“) oder „Bozkurtlar“ („Graue Wölfe“) bekannt sind.
In der „Berliner Stimme“ vom 17.5.80 heißt es: "Nach Auskunft des Staatsschutzes gibt es zumindest personelle Verbindungen zwischen MSP-Moscheen und den ‘Grauen Wölfen’."
Verwundern kann dies nicht, da die „Nationale Heilspartei“ (MSP), an der sich „Milli Görüs“ orientierte, in der Türkei in der „Nationalistischen Front“-Koalitionsregierung u.a. auch mit der MHP zusammenarbeitete. Auch in späteren Jahren kam es zwischen der „Wohlfahrtspartei“ (RP) als Nachfolgepartei der MSP bzw. „Milli Görüs“ und den „Ülkücüler“ immer wieder zu kurzfristigen Zweckbündnissen, auch wenn sich ihre Beziehungen durchaus widersprüchlich gestalten.

80er Jahre: Willen zur Integration

Im Laufe der 80er Jahre kam es zwangsläufig zu einer Neuorientierung bezüglich der Vorstellungen von „Milli Görüs“ zum Leben in der Bundesrepublik. Dies beruht insbesondere darauf, daß die Einwanderungssituation nun kaum noch abgestritten werden konnte. Nicht mehr die Rückkehr in die „Heimat“ stand auf dem Programm, sondern das Einrichten auf ein Leben in der „Fremde“, die schon für die nachgeholten, zum Teil sogar hier geborenen Jugendlichen die faktische Heimat war. Die vorrangige Orientiertheit an der Türkei verlor an Boden. Dies wurde durch die Entwicklung in der Türkei nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 zusätzlich begünstigt.
Allerdings besteht weiterhin ein starker Bezug zur Türkei und dort insbesondere zur RP. Funktionäre der RP, v.a. der Vorsitzende Necmettin Erbakan, besuchen „Milli Görüs“-Kongresse, Flugzeugladungen von „Milli Görüs“-AnhängerInnen werden zwecks Stimmabgabe bei Wahlen in die Türkei transportiert, usw. Damit gehört „Milli Görüs“ sicherlich sogar zu den Organisationen, die noch sehr stark mit einer Partei in der Türkei verbunden sind.
Im Rahmen der genannten Neuorientierung bemühte sich „Milli Görüs“ fortan, der Öffentlichkeit ein vorteilhafteres Bild von sich zu vermitteln. Beispielsweise signalisierten sie Gesprächsbereitschaft mit anderen gesellschaftlichen, z.B. christlichen Gruppen. Derartige Treffen wurden auch realisiert. Des weiteren nahm „Milli Görüs“ an diversen Bündnissen von türkischen ImmigrantInnenorganisationen teil.
Öffentlichkeitsarbeit in deutscher wie auch in türkischer Sprache ist ein fester Bestandteil ihres Wirkens geworden, z.B. in Form von Veranstaltungen und Informationsblättern, in denen der Islam angepriesen und versucht wird, Kritik am Islam zu relativieren oder zu widerlegen.
Vornehmlich sind ihre Aktivitäten darauf ausgerichtet, die Interessen der muslimischen Menschen in der Bundesrepublik zu vertreten, d.h. ihnen ein Leben nach islamischen Vorstellungen zu ermöglichen. Entsprechend ging auch der oben genannte Wandel in den Vorstellungen nicht soweit, daß eine Anpassung an die hiesige Gesellschaft der Bundesrepublik gebilligt würde, vielmehr wird weiterhin jede Annäherung abgelehnt. „Integration“ wird nicht abgelehnt, sofern darunter nicht Assimilation verstanden wird, sondern als islamischer Bevölkerungsteil Bestandteil dieser Gesellschaft zu werden.
Es gibt kaum einen Bereich, in dem sie sich nicht engagieren. Dies umfaßt nicht nur die relativ große Zahl von Vereinen. So treten sie schon mal mit eigenen Listen bei Betriebsratswahlen an, z.B. im Januar 1990 bei den Ford-Werken in Köln; selbst ein „Moslemischer Arbeiterbund“ sei in der Folge gegründet worden (Gür, S. 44 ff.). Bekannt wurde auch der Versuch des Aufbaus einer von „Milli Görüs“ unterstützten „Islamischen Partei Deutschlands“ (Tgsp., 2.8.90). Sie setzen sich ebenso für die Einführung von islamischen Religionsunterricht an Schulen ein, wie sie selbst (Grund)-Schulen, Kollegs, Internate aufbauen. Im Medien- und im wirtschaftlichen Bereich sind sie bekanntlich auch sehr aktiv. Die Liste könnte noch fortgesetzt werden.
Wenn wir uns das im einzelnen ansehen, entsteht der Eindruck eines Versuchs, eine Struktur aufzubauen, in der sie möglichst ungestört agieren können. Die Beziehungen zur übrigen Gesellschaft werden auf ein notwendiges und kontrollierbares Minimum reduziert.

Abschottung

Dazu paßt es auch, daß „Milli Görüs“ nach eigenen Aussagen für „ein Leben in Deutschland im friedlichen Nebeneinander verschiedener Religionen und Ethnien statt für eine Verschmelzung der Kulturen“ eintrete, wobei der Islam als „Identifikationsfaktor für türkische Migranten“ betont werde (zit. nach Min. f. Arbeit, Ges. u. Soziales NRW, S. 95).
Entsprechend wirkt ihre Neuorientierung und Kontaktbereitschaft zumindest zum Teil wie bloßes taktisches Vorgehen. Es sollte nicht darüber hinweg täuschen, daß wir es weiterhin mit einer islamisch-fundamentalistischen Organisation zu tun haben.
Im Verfassungsschutzbericht 1994 des Bundesministeriums des Innern heißt es zu „Milli Görüs“:
„[...] Sie tritt für die Einführung einer auf dem Koran basierenden Staatsordnung in der Türkei und für die weltweite Islamisierung ein, deren Maximen gegen die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen. Zielsetzung ist die Gleichschaltung von Religion und Politik mit Dominanz der Religion. Der religiöse Geltungsanspruch ist gesellschafts- und politikbestimmend mit negativen Folgen für Menschenrechte und Demokratie. Obwohl sich die Organisation um ein moderates Erscheinungsbild bemüht, setzte die AMGT über ihren Multiplikator ‘Milli Gazete’ auch ihre antisemitische Hetzkampagne fort. [...]“


Literatur

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