Mythos "Melting Pot"

von Petra Steinberger (SZ, 10.10.2006)

Der Mensch mag es nicht, wenn er Sprachen nicht versteht, fremde Riten erlebt oder anderen Religionen ausgesetzt wird. Noch schlimmer: "In gemischten Gesellschaften trauen wir auch den Menschen nicht, die aussehen wie wir", warnt der US-Politikwissenschaftler Robert Putnam.

Der Mensch ist eine Schildkröte. Er wünscht sich einen Panzer, unter den er sich zurückziehen kann, wenn es ethnisch allzu bunt wird in der Nachbarschaft.

Denn der Mensch mag es nicht, wenn er Sprachen nicht versteht, fremde Riten erlebt, anderen Religionen ausgesetzt wird oder seltsame Sitten praktiziert sieht.

Eine gewisse Menge an Fremdheit kann er gerade noch ertragen. Zuviel davon und er verliert das Vertrauen - in seinen Nachbarn genauso wie in den Bürgermeister, den Gemüsehändler, in den Staat und in die Zeitung, die er liest.

Dies ist das Fazit einer alarmierenden Studie, die der in Harvard lehrende Politikwissenschaftler Robert Putnam jetzt vorgelegt hat. "Wir verhalten uns wie Schildkröten", erläutert er, "angesichts von menschlicher Unterschiedlichkeit verstecken wir uns."

Nachbarn und Mitbürger in Kommunen vertrauen einander desto weniger, je verschiedenartiger ihnen die Bewohner ihrer Umgebung erscheinen, je ethnisch gemischter diese ist.

Zu diesem deprimierenden Ergebnis ist Putnam durch neue umfangreiche Erhebungen in amerikanischen Gemeinden gelangt - die Effekte seien schlimmer, als er es sich vorgestellt habe: "Nicht nur, dass wir den Menschen nicht trauen, die anders sind als wir. Vielmehr trauen wir in gemischten Gemeinschaften auch den Menschen nicht, die aussehen wie wir."

Und das, glaubt Putnam, gilt weltweit, mit geringfügigen Unterschieden.

Zunächst, heißt es in der Financial Times, habe er die Veröffentlichung seiner Studie zurückgehalten, damit er "Vorschläge entwickeln kann, wie die negativen Folgen ethnischer Diversität kompensiert werden könnten".

Denn seine Studie zeigt nicht nur für den Mythos des amerikanischen "melting pot", in dem die diversen Einwanderergruppen zusammenschmelzen sollen, katastrophale Erkenntnisse, sondern für alle, die die Zukunft der multikulturellen Gesellschaft postulieren.

Putnams Studie scheint die Kassandrarufe zu bestätigen, dass ein hohes Maß an Immigration den elementaren gesellschaftlichen Kitt zersetze.

Für Amerika hatte zuletzt Samuel Huntington diese Befürchtung formuliert - in seinem Buch "Who are We? The Challenges to America's National Identity" warnt er davor, dass durch die hohe Rate der lateinamerikanischen Einwanderung Amerikas Identität gespalten werde.

Doch Putnams Forschungsergebnisse müssen ihn selbst besonders schmerzen, da sie den Werten zuwiderlaufen, die er als liberaler amerikanischer Intellektueller und Kommunitarist hochhält - es gehe nicht nur darum, den Zerfall der zivilen Gesellschaft zu untersuchen, sondern stets auch darum, die Gemeinschaftsbindungen zu verbessern.

1995 hatte er seinen berühmten Essay "Bowling Alone. America's Declining Social Capital" mit der These veröffentlicht, dass der Zusammenhalt der amerikanischen Gesellschaft zusammengebrochen sei: Die Menschen verlieren den Kontakt zueinander, die Mitgliedschaft in Vereinen, Clubs, Zusammenkünften und festen Nachbarschaften nehmen stetig ab, die Gesellschaft verliert ihr "soziales Kapital".

Der Rückgang dieses "sozialen Kapitals" habe schlimme Konsequenzen. Die sozialen Netze korrodieren, die Menschen vereinsamen, die aktive Mitgestaltung der Bürger am demokratischen Prozess schwindet und damit schließlich das Vertrauen in diese Regierungsform.


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