Mao Tse-tung - Vom Kult eines Massenmörders

von Johnny Erling (Die Welt, 30. September 2004)

mit weiterführenden Links von Nikolas Dikigoros

Chinas Führung betreibt noch immer einen aberwitzigen Personenkult um den Staatsgründer - Ein Schwarzbuch ist nicht in Sicht

Peking -  Vom Tiananmen, dem Tor des Himmlischen Friedens und Eingang zum Kaiserpalast, hängt das kolossale Porträt des großen Vorsitzenden. Das 6,50 Meter hohe und fünf Meter breite Bild von Mao Tse-tung ist ein Publikumsmagnet. Millionen Besucher der chinesischen Hauptstadt lassen sich davor fotografieren. Künstler Ge Xiaoguang, Schöpfer des handgemalten Werkes, braucht 15 Tage, um es zu produzieren. Zuerst zeichnet der 51-Jährige die Umrisse, dann sprüht er sie mit Ölfarbe aus. Schließlich trägt er zwei Deckschichten auf. Er beherrscht routiniert die Farbmischung, die dem Gesicht eine rosig strahlende Aura verleiht. Andy Warhol war so beeindruckt, dass er Maos Antlitz zur Pop-Ikone veredelte.

Maos Gesicht "made by Warhol" hängt heute als teures und hochgeschätztes Kunstwerk in den Galerien von New York bis Berlin. Niemand im Westen würde es einfallen, dagegen zu demonstrieren.

Zeit seines Lebens faszinierte der große Diktator die Menschen auch im Ausland. Die personifizierte absolute Macht zog naive wie kritische Geister, Linke wie Rechte in seinen Bann. In seinen letzten zehn Lebensjahren begeisterte er mit seiner klassenkämpferischen Kulturrevolution die linke Studentenbewegung im Westen. Sie bekam von seinem beispiellosen Terror nach innen nichts mit oder wollte nichts darüber wissen. Als Mao nach 1969 ideologisch und geopolitisch sein China in Frontstellung gegen die Sowjetunion brachte, pilgerten alle konservativen Politiker Europas ehrfürchtig zu ihm, darunter auch Franz Josef Strauß. Amerikanische Präsidenten und ihre Berater hofierten nach 1972 den todkranken Greis, der sie in Audienz empfing und ihnen aus seiner kaiserlichen Studierstube im Zhong Nanhai die Weltpolitik neu interpretierte. Kein Einziger stellte dem Diktator kritische Fragen zu dem, was in seinem Land vorging.

1977, ein Jahr nach Maos Tod, wurde Ge Xiaoguang zum alleinigen Porträtzeichner bestellt. 27 Mal hat er seither den Vorsitzenden in Öl gepinselt. Ge war der vierte Staatsmaler seit dem 1. Oktober 1949. Mao hatte an jenem Tag vom Balkon über dem Tiananmen-Tor die Gründung der Volksrepublik China ausgerufen.

Sie dankt es ihm bis heute. Jedes Jahr in der Nacht auf den 30. September wird sein Porträt über dem Tor gegen ein identisches, frisches Ölbild ausgetauscht. In den ersten Jahrzehnten, als der Diktator noch nicht größenwahnsinnig war, ließ er sein Bild nur zwei Mal im Jahr zum 1. Mai und 1. Oktober aufhängen. Seit Beginn seiner verbrecherischen Kulturrevolution 1966, bei der nach Angaben des einstigen Mao-Sekretärs Li Rui viele Millionen Menschen starben, hängt das Gemälde dauerhaft über dem Tor.

Vier Jahre nach dem Tod des Diktators verfügte Nachfolger Deng Xiaoping, dass China auf Mao nicht und niemals verzichten will. Er entschied so, obwohl auch er ein Opfer wurde, als Mao mit der Kulturrevolution die eigene Parteibürokratie stürzte. Und obwohl Deng ganz und gar antimaoistische Pläne im Sinn hatte. Er wollte das heruntergewirtschaftete Land so schnell wie möglich mit Hilfe der kapitalistischen Marktwirtschaft reformieren, die der Vorsitzende mit allen Kräften bekämpft hatte. Im August 1980 erklärte Deng der italienischen Journalistin Oriana Fallaci, dass "das Mao-Porträt am Tiananmen-Tor ein Wahrzeichen Chinas ist. Sein Bild wird ewig an dem Tor hängen."

Neue, im August zu Dengs 100. Geburtstag (1904-1997) veröffentlichte Aufzeichnungen aus den Partei-Archiven lassen verstehen, warum er so sehr an Mao festhielt. Trotz der "Katastrophe seiner Kultur-Revolution" werde die Partei keine "Entmaoisierung" gutheißen, entschied Deng am 25. Oktober 1980 im Gespräch mit den Ideologen Deng Liqun und Hu Qiaomu. Er zog den Schlussstrich unter eine Parteidebatte, bei der 4000 Funktionäre und andere politische Eliten über die Frage stritten, ob und wie sie mit Mao abrechnen sollten. Viele Teilnehmer dieser Diskussionen waren nur wenige Jahre zuvor als angebliche Mao-Gegner mit Schandhüten versehen von fanatisierten Rotgardisten gequält worden. Sie mussten miterleben, wie ihre besten Freunde oder Kollegen geschlagen und gefoltert wurden. Jeder von ihnen konnte Beispiele von verfolgten Bekannten aufzählen, die in Verbannung und Zwangsarbeit umkamen, Selbstmord begingen oder dem Wahnsinn verfielen. Und hinter allem stand der Name Mao. Deng hämmerte zwischen 1980 und 1982 den Genossen die Formel ein, am Vorsitzenden seien "70 Prozent gut und 30 Prozent schlecht" gewesen. Seine Verbrechen kämen an zweiter Stelle. "Jede Beurteilung bewertet nicht nur die Einzelperson und ihre Taten. Sie ist untrennbar von unserer Geschichte. Wer den Gründer des neuen Chinas anschwärzt, schwärzt auch unsere Partei und unseren Staat an."

Jahrzehnte war Deng selbst einer der engsten Gefährten Maos gewesen. Als Generalsekretär der Partei half er Mao, die Verfolgungskampagnen gegen die kritische Intelligenz 1957 zu organisieren. Zehn Prozent aller Intellektuellen verschwanden in Arbeitslagern. Deng unterstützte auch den "Großen Sprung" nach vorn. "Maos Hirn ist damals heißgelaufen. Unsere Köpfe aber auch. Keiner hat ihm widersprochen, auch ich nicht", räumte Deng am 1. April 1980 ein und warnte davor, alle Schuld auf Mao zu schieben. Er stritt seine Mitverantwortung an den mörderischen Kampagnen nicht ab und erlaubte, dass nach Maos Tod alle Verfolgten rehabilitiert wurden. Er verbot jedoch jede Vergangenheitsbewältigung, die das System infrage stellen könnte. Deng behielt Mao als Galionsfigur für sein auf Reformkurs gebrachtes Staatsschiff China und warf nach und nach den Maoismus über Bord. Die Person Mao und dessen Rolle in der Geschichte aber blieben unangetastet. Für seine Leiche wurde ein Mausoleum mitten auf dem Tiananmen-Platz erbaut. Mehr als 120 Millionen Chinesen zogen bisher an dem Kristallsarg vorbei.

28 Jahre nach Maos Einbalsamierung und sieben Jahre nach Dengs Tod stehen die Besucher weiter in langen Schlangen vor dem Mausoleum an. Maos Konterfei steckt in ihren Portemonnaies. Der Vorsitzende, der das Geld abschaffen wollte, blickt heute von allen Banknoten, vom Ein-Yuan-Schein bis zur höchsten 100 Yuannote. Anders als zu seiner Zeit gibt es in den Geschäften für Geld alles zu kaufen. Mit modernen Sicherheitsfäden und Halogenzeichen muss aber auch das Mao-Geld vor Fälschungen geschützt werden.

Die Aufarbeitung von Maos düsteren Taten aus einer Zeit der Barbarei und des Fanatismus aber bleibt im China des 21. Jahrhunderts tabuisiert. Nur wenige trauen sich, so wie der in Peking lebende 87-jährige Li Rui, einst für kurze Zeit Sekretär bei Mao, die Verbrechen der maoistischen Politik zu erforschen. Seine 67-jährige Parteimitgliedschaft, seine Rolle als Ex-Vizeminister und ZK-Mitglied schützen ihn, so wie auch die lange unrechtmäßige Verfolgung, nachdem er bei Mao in Ungnade fiel. In der Kulturrevolution saß er acht Jahre im Prominentengefängnis Qincheng.

1998 beleuchtete Li Rui in einer im Pekinger ZK-Verlag erschienenen Broschüre "Gegen die Linke" die noch unbekannte Geschichte der Säuberungskampagnen. Maos Aufstieg zum Revolutionär war immer auch eine Chronologie des Terrors. Bis zum Beginn seines "Langen Marsches", auf dem er 1936 seine Guerilla von Südchina bis nach Nordchinas Yenan führte, hatten sich nach Schätzungen Li Ruis bereits 70 000 bis 80 000 Revolutionäre in Jiangxi gegenseitig umgebracht. Die Terrorkampagnen setzten sich in Yenan fort, organisiert von Maos Geheimdienstchef Kang Sheng. Er war die graue Eminenz, der für Mao auch die Untaten der Kulturrevolution organisierte. Erst ein Jahr nach Maos Tod wagten die Opfer gegen Kang Sheng vorzugehen. Sie ließen die Urne des 1975 Gestorbenen aus dem Heldenfriedhof Babaoshan entfernen.

Nach den Vernichtungskampagnen gegen Klassenfeinde und Grundherren während der Bodenreformen mit ihren ungezählten Opfern ging Mao unbarmherzig gegen jede vermutete Opposition vor. Kampagnenhöhepunkt wurde die Antirechtsbewegung 1957, mit der Peking Aufständen wie in Ungarn 1956 vorbeugen wollte. Mehr als eine halbe Millionen Wissenschaftler und Intellektuelle (Pekings furchtbar genaue Buchhalter der Kampagnen registrierten 522.877 Rechtsabweichler) wurden in Arbeitslager eingewiesen. Li Rui spricht von 3,8 Millionen Menschen, die nach der Lushan-Kampagne 1958 verfolgt und verbannt wurden, darunter auch er. Am schlimmsten wütete die Kulturrevolution: Li Rui beruft sich auf Aussagen einstiger Führer, wenn er von Millionen Toten und 100 Millionen Menschen spricht, die verfolgt wurden oder im bürgerkriegsartigen Chaos zu Schaden kamen.

Mao verhöhnte alle, die ihn Diktator nannten oder mit dem altchinesischen Reichseiniger Qinshihuang, dem Gelben Kaiser vor 2000 Jahren, verglichen, erinnert sich Li. 1958 spottete er: "Qinshihuang hat 460 konfuzianische Gelehrte lebend begraben lassen. Wir haben einige Hunderttausend Konterrevolutionäre unter die Erde gebracht. Mehr als 46.000 Intellektuelle waren darunter. Wer mich als Qinshihuang beschimpft, hat Recht. Nur - ich bin hundert Mal schlimmer." Mao habe sich gebrüstet: "Ich bin der Gelbe Kaiser und Marx in einer Person."

Li Rui setzte sich in mehreren Büchern und Aufsätzen auch mit dem Massensterben der Bauern im Großen Sprung nach vorn auseinander. 30 bis 40 Millionen Opfer habe Maos Wahn gefordert, über Massenkampagnen die Stahlproduktion zu verdoppeln und mit Volkskommunen die Bauern in den Kommunismus zu führen. Von Oktober 1959 bis April 1960 verhungerten allein im Gebiet Xinyang in Zentralchinas Henan mehr als eine Millionen Menschen. In einigen Dörfern kam es zum Kannibalismus. Auch Peking erfuhr von den unglaublichen Vorgängen. Mao aber witterte eine Verschwörung von Klassenfeinden dahinter und schob die Ursachen ansonsten auf Wetterunbilden. Erst als überall die Bauern verhungerten, ruderte Peking seine Kollektivierung zurück. Li Rui erhielt Einblick in die Bevölkerungsstatistik von Chinas größter Bauernprovinz Sichuan. Dort ging die Zahl der Einwohner von 72 Millionen Menschen 1957 auf 62 Millionen Ende 1960 zurück.

Nur wenige können in China ungestraft so offen mit Mao abrechnen. Die Tochter Deng Xiaopings, Deng Rong, schildert in ihrem Buch "Mein Vater in den Jahren der Kulturrevolution" die letzten Jahre Maos ungeschminkt. Sie beschreibt den Hofstaat um den dynastischen Alleinherrscher als "Intrigenbühne" und Tollhaus. Mao war ungeachtet seiner revolutionären Utopien ein Machiavellist der Macht, der die Fragen, "was richtig oder falsch ist", nur nach dem Maßstab der "politischen Notwendigkeit" entschied.

Manchmal bricht es aus Überlebenden heraus. Im Januar 2000 feierte der berühmte Facharzt Wu Jieping, der alle Pekinger Führer und vor allem Mao Tse-tung behandelt hatte, in Peking die Herausgabe seiner medizinischen Schriften. Seine Kollegen kamen bei ihrer Laudatio plötzlich auf gemeinsam durchlebte Schreckenszeiten zu sprechen. Als sie noch zusammen Ärzte des misstrauischen Vorsitzenden und seiner psychopathischen Frau Jiang Qing waren, hätten sie täglich mit ihrer Verhaftung gerechnet. Ohne die Fürsprache des mutigen Wu "wäre ich heute Asche in einer Urne", bekannte etwa Bian Zhiqiang, Maos Arzt für innere Medizin. Andere Ärzte nannten den damaligen Hofstaat eine "Schlangengrube. Alter Wu, du warst unser Rettungsanker".

Solche Äußerungen ignoriert Peking. Wie dünn das Eis selbst unter Chinas neuer Führung unter Parteichef Hu Jintao ist, mussten junge Redakteure der Wochenzeitschrift "Globus des 21. Jahrhunderts" erleben. Sie interviewten Li Rui im März 2003. Sie druckten seine Aufforderung, sich vom "umhüllenden Schatten Maos" zu befreien, die totalitären Strukturen und die Verbote und Tabus zur Vergangenheitsbewältigung zu brechen. Maos Politik sei am Ende seines Lebens vollends zur Tyrannei und zum Personenkult entartet. "Wie soll man ritualisierte Loyalitätstänze oder das Wedeln mit dem kleinen roten Buch vor seinen Fotos anders als einen bösartigen Kult nennen?". Pekings Führung gab ihre Antwort dazu. Sie machte die Zeitschrift Globus dicht.

Chinas Kommunisten halten den Deckel über die Akte Mao geschlossen, gleichgültig, was die historische Forschung noch alles über seine Untaten und Verbrechen aufdeckt. Ein neues aufrüttelndes Buch "Die späten Jahre Zhu Enlais", das von Gao Wenqian, einem Forscher im ZK-Parteiarchiv über den treuesten Gefolgsmann Maos geschrieben wurde, entlarvt mit unbekannten Einzelheiten Komplizenschaft und Widersprüche zwischen dem Tyrannen und seinem Helfer Zhu während der Kulturrevolution und in ihren letzten Lebensjahren. Gao lebt heute in den USA. Sein in fünf Jahren geschriebenes Buch konnte 2003 in Hongkong erscheinen. Es steht in Peking auf dem Index. Dennoch ist es überall heimlich verbreitet.

Auch Chinas neuer Parteiführer Hu Jintao wagt nicht, an Mao zu rühren und ihn aus seinem Kristallsarg zu holen. Jüngst schrieb der mutige Li Rui eine weitere enthüllende Anekdote zu Maos Persönlichkeit. Ein halbes Jahr nach der Staatsgründung habe Mao die Parolen für den 1. Mai 1950 überprüft. Er fügte die ihm noch fehlende Losung hinzu: "Der Vorsitzende Mao soll 10.000 Jahre leben." Ein halbes Jahrhundert später wollen Maos Nachfolger ihn immer noch nicht begraben lassen.


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