Wie Homer zu Ömer wird (Teil 2)
Troia, Korfmann und die Türkei: Nationale Identitätsstiftung und die Instrumentalisierung von Wissenschaft / von Frank Kolb

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Entsprechend der geographischen Lage der Hauptstadt Ankara standen zunächst die Hethiter im Zentrum dieser nationalen Instrumentalisierung der anatolischen Kulturen. Aber bald wurden auch andere Völker des Ostens einbezogen bis hin zu den Sumerern, deren Sprache als eine Variante des Türkischen betrachtet wurde, bis man schließlich letzteres zum Ursprung aller Weltsprachen, die Türkei zur Urheimat aller Kulturentwicklung und die Türken zum bedeutendsten Volk der Menschheitsgeschichte erklärte.

Seit den 1940er Jahren trat die Klassische Antike stärker in den Vordergrund. Der bedeutende Kulturminister Yücel war klarsichtiger als Korfmann: Er erkannte, dass Volkstum, Boden und der Spaten nicht ausreichten, um eine kulturelle Kontinuität zwischen der Antike und der modernen Türkei zu begründen. Es bedürfe viel mehr eines Nachholens der europäischen Kulturentwicklung seit dem Humanismus und einer entsprechenden Hinwendung zur antiken Literatur. Die Gründung eines Übersetzungsbüros war die Folge, das freilich im Zuge der Re-Islamisierung wieder aufgelöst wurde.

Unkritische Ruinenromantik

In den 1940er/1950er Jahren hat eine kleine Gruppe türkischer Intellektueller die anatolische Vergangenheit über Reisen zu antiken Ruinenstätten an der West- und Südküste der Türkei zu erschließen versucht (heute als touristische ,Blaue Reise‘ angeboten). Unkritische Ruinenromantik verband sich dabei mit einer extrem nationalistischen Deutung der antiken, insbesondere der griechisch geprägten Vergangenheit als eine ihrem Wesen nach anatolische Kulturepoche, deren Erben die Türken seien. In Anatolien sei die griechische Sprache entstanden, hier hätten Poesie, Wissenschaft und Philosophie ihren Ursprung. Kurzum, Anatolien – sprich: die Türkei – sei die Geburtsstätte Europas, Wiege der abendländischen Zivilisation und daher den westlichen europäischen Kulturen überlegen.

Dies waren freilich esoterische Ideen einer Randgruppe der türkischen Gesellschaft. Die teils mutwillige, teils der Gewinnung von Baumaterial oder der Schatzsuche dienende alltägliche Zerstörung zahlreicher antiker Monumente ist hingegen symptomatisch für die marginale Rolle der alten Kulturen in der Mentalität der breiten Masse der türkischen Bevölkerung. Dem steht ihre propagandistische Verwertung für das Drängen der Türkei in die Europäische Union gegenüber. Im Grußwort zum Begleitband der Troia-Ausstellung betont der türkische Staatspräsident, „dass sich die stärksten Wurzeln der europäischen Kultur in Anatolien befinden“, und der türkische Kulturminister behauptet gar, „dass Anatolien verglichen mit allen Regionen der Welt im Zusammenhang mit der Entstehung unserer heutigen Kultur eine führende Rolle einnimmt“.

Im gleichen Band bläst Korfmann ins selbe Horn, wenn er in Troia „starke Wurzeln der abendländischen Kultur und damit der Weltkultur“ lokalisiert – und dies, obwohl Homers Epen nicht mehr als einige oberflächliche topographische Anspielungen mit dem Hügel von Hisarlik verbinden, das literarische Troia des griechischen Dichters mit Korfmanns Grabungsplatz so gut wie nichts gemein hat! Im Kontext der Einvernahme Homers ist es jedoch zu sehen, wenn im August des vorigen Jahres sich einige türkische Intellektuelle zusammen mit Korfmann auf der Insel Bozcaada versammelten, um mit Blick auf die unmittelbar gegenüberliegende Burg von Troia einen ganzen Tag lang aus der Ilias vorzulesen – Korfmann auf deutsch. Man wartet nur auf den Tag, an dem Homer in Ömer umgetauft wird.

Nationale Identität

Wenn, wie kürzlich geschehen, hohe türkische Offiziere bei einer Führung durch das Berliner Pergamon-Museum die Reliefs des Pergamon-Altars als anatolische, das heißt türkische Kunst, reklamieren und sich darauf berufen, dass doch Manfred Korfmann auch Troia als anatolische Siedlung nachgewiesen habe, so wird deutlich, in wessen Dienst Korfmanns Anatolismus steht. Die Türkei ist nicht der einzige unter den Staaten des östlichen Mittelmeerraumes und des Vorderen Orients, der durch Schaffung von Geschichtsmythen seine nationale Identität sowie politische Ansprüche zu untermauern versucht. „Heikel wird es allerdings, wenn Forscher aus westlichen Staaten diesem Bemühen zuarbeiten“, wie Berthold Seewald in der „Welt“ vom 25. April 2002 im Hinblick auf Korfmann bemerkte.

Noch heikler ist es, wenn dieses Zuarbeiten sich auf Ergebnisse und Interpretationen der wissenschaftlichen Arbeit auswirkt. Als „eher politisch motiviert“ kritisiert B. Kull in der Festschrift für Korfmann (!) dessen Bezeichnung der troianischen Keramik als „anatolische Grauware”. Auf dem Historikertag in Halle im September 2002 wurde der Vorwurf erhoben, hinter Korfmanns „Großreden der Troia-Funde stehe eine politische, protürkische Agenda“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 16. September 2002). In der Türkei schätzt man Korfmann zwar offiziell als willkommenen Vorkämpfer türkischer Interessen, aber manch ein türkischer Kollege betrachtet seine Motive mit Misstrauen. Der Hethitologe Ahmed Ünal hatte den Mut, seine Bedenken in einem 1999 erschienenen Buch über die Hethiter öffentlich zu formulieren: Er wirft Korfmann nicht nur ein Aufbauschen seiner Troia-Funde vor, sondern beschuldigt ihn, mit Gewalt anatolische Verbindungen Troias herstellen zu wollen, um seinen türkischen Kollegen gefällig zu sein.

Türkische Interessen

Von den zahlreichen ausländischen Forschern, die in der Türkei tätig sind, legt kein anderer auch nur annähernd eine derartige Konzessionsbereitschaft an türkische politische Interessen an den Tag wie Manfred Korfmann. Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass für ihn andere Ziele weit wichtiger sind als die wissenschaftlichen Ergebnisse der Grabung. Dazu gehört zum einen die auf dem Papier bereits erreichte Einrichtung eines Nationalparks Troia; zum anderen ein großes Museum vor den Toren der Ausgrabungsstätte, in dem Korfmann gern die Troia-Funde aus aller Welt versammelt sehen möchte.

So lobenswert diese Ziele auf den ersten Blick erscheinen mögen, so problematisch sind die Mittel, mit denen Korfmann sie mit Hilfe der türkischen Behörden durchzusetzen versucht. Dazu gehört auch, dass er gegen die legitimen Interessen der Bundesrepublik Deutschland an einer Rückgabe der am Kriegsende nach Russland entführten Troia-Schätze sich türkischen Forderungen nach ,Heimführung‘ der Schätze in die Türkei anschließt. Glaubwürdig wäre eine solche Haltung nur, wenn Korfmann gleichzeitig die Rückgabe der im Istanbuler Museum deponierten, aus den vom Osmanischen Reich eroberten Regionen stammenden Kunstobjekte an ihre Heimatländer fordern würde.

War es schon irritierend, dass Korfmann am Ende der Tübinger Troia-Konferenz Ausgraben zum Selbstzweck erklärte, so ist es erst recht nicht nachvollziehbar, wenn er sich für die Produktion von Geschichtsmythen zur Verfügung stellt, deren Gefährlichkeit sich in der Vergangenheit oft genug erwiesen hat.

Man sollte meinen, dass ein Wissenschaftler eigentlich im besonderen Maße in der Pflicht steht, gegenüber solcher Mythenbildung kritisch und aufklärerisch zu wirken. Wer statt dessen Missbrauch mit der argumentativen Verwendung von Geschichte treibt, muss sich eine kritische Prüfung seiner Position durch die Öffentlichkeit gefallen lassen.