Als das Nobelpreiskomittee im Oktober 1970 den Preisträger in der Sparte
Literatur bekanntgab, wurde dem so Geehrten die Ausreise aus der
Sowjetunion verweigert; er mußte der Verleihung fernbleiben.
Alexander Issajewitsch Solschenizyn ist nicht nur einer der
bedeutendsten Schriftsteller, sondern auch eine der bedeutendsten
Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts. Im Jahr nach der
Oktoberrevolution im Nordkaukasus geboren, erlebte Solschenizyn in
der Sowjetunion Straflager, Verbannung, Publikationsverbot und
Ausbürgerung. Aus dem überzeugten Kommunisten wurde ein
unnachgiebiger Regimekritiker. Als er 1994 nach Rußland zurückkehrte
wurde er bejubelt und beschimpft. Solschenizyn polarisiert, wirft in
seiner Rolle als Dichter und Historiker Fragen auf.
Tips und Links: Literaturliste
Bücher Solschenizyns:
Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch Zur Geschichte Rußlands und der Sowjetunion: Günther Stöckl Edgar Hösch Heiko Haumann Georg von Rauch Solschenizyns Roman "März 17" (2 Bände) - ergänzende
Literatur: Die russische Revolution von 1917 in Berichten ihrer Akteure, Die Kerensiki Memoiren. Rußland und der Wendepunkt der Geschichte
Leo Trotzki Walter Laqueur Solschenizyns "Archipel Gulag" (2 Bände) - ergänzende
Literatur: Schwarzbuch des Kommunismus Robert Conquest Roy Medwedjew
Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und
"Säuberungen" in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger
Jahren Die Eroberung Sibiriens - Zwischen Revolution und Gulag - geprägt wird
die sibirische Geschichte der 30er Jahre von den Gefangenenlagern des
Gulag und den Zwangsumssiedlungen der russischen Bauer und sibirischen
Völker.
Um fünf Uhr morgens wurde das Wecksignal gegeben - Hammerschläge auf
ein Stück Eisenbahnschiene, das neben der Stabsbaracke hing. Die
abgehackten Töne drangen nur gedämpft durch die fingerdick vereisten
Fensterscheiben und verstummten bald: es war kalt, der Aufseher hatte
keine Lust, lange zu hämmern.
...
Es war kalt und diesig, die Luft nahm einem den Atem. Die Strahlen der
beiden großen Scheinwerfer auf den fernen Ecktürmen kreuzten sich über der
Lagerzone. Überall, außerhalb des Stacheldrahtes und im Lager, brannten
die Lampen. Sie standen so dicht, daß sie die Sterne überstrahlten.
Der Schnee knirschte unter den Filzstiefeln der Häftlinge, die eilig
ihren Geschäften nachgingen - zur Latrine, in die Magazine, zur
Paketausgabe, in die Küche, um dort Graupen abzugeben, aus denen man sich
seine eigene Grütze kochen ließ. Alle zogen den Kopf ein, die Wattejacken
waren fest zugeknöpft, alle froren schon bei dem Gedanken, dann ganzen Tag
in dieser Kälte verbringen zu müssen. ... Sie gingen vorüber an dem hohen Bretterzaun, der den Strafblock umgab -
das aus Stein gebaute Lagergefängnis; vorüber an dem Stacheldraht, der die
Lagerbäckerei gegen die Häftlinge schützte; vorüber an der Ecke der
Stabsbaracke, wo die bereifte Eisenbahnschiene mit dem dicken Drahtseil an
einem Pfosten hing; vorüber an einem anderen Pfosten in einer windstillen
Ecke, wo das Thermometer hing, damit es nicht zu niedrige Temperaturen
anzeigte. Es war dick bereift. Schuchow warf einen hoffnungsvollen Blick
auf das milchweiße Röhrchen: Wenn es einundvierzig zeigte, durften sie
nicht zur Arbeit hinausgejagt werden. Aber heute wollte es nicht einmal
auf vierzig sinken.
Aus: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
in: Alexander Solschenizyn, Im Interesse der Sache, Erzählungen.
Hermann Luchterhand Verlag, 1970
Matronjas Haus war gleich in der Nähe - vier Fensterchen in einer Reihe
nach Norden, das Satteldach schindelgedeckt, die Dachluke mit Schnitzerei
verziert. Doch die Schindeln moderten, grau vor Alter waren die einst
mächtigen Balken an Haus und Tor, schadhaft der Bogen über dem Tor.
...
Gebaut worden war alles vor langer Zeit, für eine große Familie, jetzt
wohnte nur eine einsame, etwa sechzigjährige Frau darin. Als ich die Wohnstube betrat, lang sie bäuchlings oben auf dem großen
russischen Ofen gleich am Eingang, zugedeckt mit undefinierbarem dunklen
Gelumpe, das so unschätzbar ist im Leben eines arbeitenden
Menschen. Die geräumige Stube, besonders die Fensterseite, war vollgestellt mit
Gummibäumen, die auf Bänken und Hockern in Töpfen und Kübeln standen. Als
stumme, aber lebendige Schar drängten sie sich in die Einsamkeit der
Hausbesitzerin. Sie nahmen das kärgliche Licht der Nordseite für sich in
Anspruch, breiteten sich üppig darin aus. Im restlichen Licht, dazu noch
beschattet vom Rauchfang, wirkte das Gesicht der Frau gelb und krank. An
ihren trüben Augen war zu erkennen, daß die Krankheit sie ausgelaugt
hatte.
...
Erst später erfuhr ich, daß Matrjona Wassiljewna Jahr umd Jahr, viele
Jahre lang nirgendwo auch nur einen Rubel verdient hatte. Eine Rente wurde
ihr nicht gezahlt. Verwandte halfen ihr wenig. Im Kolchos aber arbeitete
sie nicht für Geld - nur für Striche: für einen Arbeitstag wurde ihr in
ein verschmiertes Heft ein Strich gemacht.
Aus:Matronjas Hof
in: Alexander Solschenizyn, Im Interesse der Sache, Erzählungen.
Hermann Luchterhand Verlag, 1970
Bei uns im Hof hält ein Junge den kleinen Köter Scharik als Kettenhund,
von klein auf. Eines Tages brachte ich dem kleinen Hund warme, duftende Hühnerknochen.
Gerade hatte der Junge das arme Kerlchen losgemacht, um es etwas im Hof
laufen zu lassen. Der Schnee ist weich und tief. Scharik sauste in
Sprüngen wie ein Hase, ist einmal auf den Hinterbeinen, dann wieder auf
den Vorderpfoten, aus einer Ecke des Hofes in die andere - von einer Ecke
zur anderen - die Schnauze im Schnee. Er lief auf mich zu, zottig wie er war, umsprang er mich, beschnupperte
den Knochen und - fort war er wieder, bis zum Bauch im Schnee. Eure
Knochen, die brauche ich nicht - gebt mir nur die Freiheit!
Aus: Scharik
in: Alexander Solschenizyn, Im Interesse der Sache, Erzählungen.
Hermann Luchterhand Verlag, 1970
Ich... mußte immer und bei allem davon ausgehen, daß ich nicht ich bin,
daß mein literarisches Schicksal nicht mein Schicksal ist, sondern das
Schicksal jener Millionen, die ihr Häftlingslos, ihre späteren
Entdeckungen im Lager nicht zu Ende gekritzelt, nicht zu Ende geflüstert,
nicht zu Ende geröchelt hatten. So wie Troja seine Existenz letzlich nicht
Schliemann verdankt, so hat auch unsere in der Tiefe liegende Kultur der
Lager ein eigenes Vermächtnis. Und deshalb durfte ich, nachdem ich aus
einer Welt zurückgekehrt war, die ihre Toten nicht zurückgibt, weder
Twardoskij noch dem Nowyj mir Treue geloben, ich durfte nicht danach
fragen, ob sie mir glauben würden, daß der Ruhm mir keinswegs zu Kopfe
gestiegen war und ich die Waffenplätze nach einem wohlüberlegten Plan
besetzte.
Dezember 1963 (?) Das ist es ja, was mich froh macht, und was mich bestätigt - daß das
alles nicht von mir geplant und gemacht wird, daß ich bloß ein Schwert
bin, bestimmt, die Scharen des Bösen zu schlagen, gut geschärft und
besprochen, um sie zu treffen und zu vertreiben. Herr, laß mich nicht im Kampfe zerbrechen und Deiner Hand nicht
entfallen.
Dezember 1973
Aus: Alexander Solschenizyn,
Die Eiche und das Kalb. Skizzen aus dem literarischen Leben.
Hermann Luchterhand Verlag,
1975 zurück zu Es steht geschrieben heim zu Reisen durch die Vergangenheit
Welche
Wirkung hatten Solschenizyns erste westliche Arbeiten auf die
sowjetische Literatur? Wie nahm die Gesellschaft, besonders die
Intelligenzia, sie auf? Wie sind Solschenizyns Stellungnahmen zur
Politik der Sowjetunion und später Rußlands zu bewerten? Welchen
Einfluß haben sie und sein literarisches Werk auf das politische
Denken im Rußland von heute?
Diese und andere Fragen sollen in
der Langen Nacht mit Literaturwissenschaftlern und und Übersetzern
diskutiert werden.
Moderation:
Dietrich Möller, Dietrich
Möller
Studiogäste:
Prof. Jefim Etkind, Elisabeth
Markstein, Dr. Klaus Waschik
Matrjonas Hof
Krebsstation
Der erste Kreis
Der Archipel Gulag (Bd.1-3)
Das Rote Rad: August 14
Das rote Rad: November 16
Das rote Rad
März 17 (2 Bde)
Die Eiche und das Kalb
Russische Geschichte von den Anfängen bis zur
Gegenwart.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1962
Geschichte Rußlands. Vom Kiever Reich bis zum Zerfall
des Sowjetimperiums
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1996
Geschichte Rußlands
R. Piper Verlag, München
1996
Geschichte der Sowjetunion
Alfred Kröner
Verlag, Stuttgart 1969
hrsg.
und eingeleil. Von David Anin
Johannes Berchmans Verlag, München
1976
Paul Zsolnay Verlag, Wien und Hamburg 1966
Geschichte der russischen Revolution
Fischer
Verlag, Berlin 1960
Mythos Revolution. Deutungen und Fehldeutungen der
Sowjetgeschichte
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1967
hrsg. von Stephane Courtios
R.
Piper Verlag, München 1998
Am Anfang starb Genosse Kirow. Säuberungen unter
Stalin
Droste Verlag, Düsseldorg 1970
Die Wahrheit ist unsere Stärke. Geschichte und Folgen
des Stalinismus
hrsg. von David Joravsky und Georges Haupt
Fischer
Verlag, Frankfurt am Main 1973
hrsg. von Hermann Weber und Dietrich Staritz
Akademie
Verlag, Berlin 1993
LINKS
Link zu den
lieferbaren Büchern von Solschenizyn (25 Titel)
http://www.nobelprizes.com/
verzeichnet alle
Nobelpreise
Textproben aus Solschenizyns Werk
Das Buch ist im September 1998 im Ullstein Verlag
erschienen.