Auf dem Pilgerweg um den Tempel werfen sich die Gläubigen
nieder, strecken ihre Körper auf dem Pflaster und drücken die Köpfe in den
Staub. Andere umrunden den Tempel mit schnellen Schritten, Kaufleute in
Anzügen, Jugendliche im Fußballdress und Nomaden mit Yakfell-Joppen und
Nike-Schuhen, sie murmeln Fürbitten und lassen ihre Gebetsmühlen kreiseln.
Aus Weihrauch Brennern steigt schwerer, süßlicher Duft, über den Häusern
flattern Gebetsfahnen - es herrscht ein himmlischer Friede über dem
Pilgerweg, dem Barkhor. Und er trügt. "Land der Götter" nennen Tibeter
ihre Hauptstadt. Doch die Götter haben Lhasa verlassen.
Die Altstadt stirbt. Seit gut einem Jahrzehnt wird ein traditionelles Gebäude
nach dem anderen abgerissen: Anfang der achtziger Jahre standen noch rund
600 alte Häuser, heute sind es kaum mehr 100. Sie wurden ersetzt durch
hastig errichtete Neubauten, die außer pseudo-tibetischen Fassaden nichts
mehr mit der alten Architektur verbindet.
Lhasa war einmal eine kleine Stadt, bis vor fünf Jahrzehnten lebten kaum 30000
Menschen hier. Sie wohnten in weiß gekalkten Häusern, deren Wände sich zum
Himmel hin verjüngten, was die Gebäude auf verblüffende Weise leicht und
mächtig zugleich wirken ließ.
Alles an ihnen war auf das Leben und
Überleben in 3600 Meter Höhe eingerichtet. Die meterdicken Mauern aus
Stein und Lehm speicherten die Wärme und hielten die Kälte ab, die breiten
Fenstersimse waren schwarz gefärbt, um die Luft vor den Räumen zu
erwärmen.
In den obersten Stockwerken lagen Säle mit Panoramafenstern,
die weiten Innenhöfe ließen viel Licht auch in die Stuben im Erdgeschoss.
Sogar gegen Erdbeben waren die Bauten geschützt: Zwischenlagen aus kleinen
Steinen im Mauerwerk federten seismische Stöße ab. Die Häuser standen eng
gedrängt entlang krummer Gassen rund um den Jokhang, den heiligsten Tempel
Tibets, und boten Raum für ein ehrfürchtiges Leben.
Im Pomdatsang, einem herrschaftlichen Haus am Barkhor, stapeln die Bewohner
im Frühjahr 2002 ihre Habseligkeiten auf einen Pritschenwagen: Matratzen,
roh gezimmerte Bettgestelle, mit goldenen Drachen verzierte Blechtruhen.
Der Innenhof ist mit Umzugsmüll übersät, einige Wände wurden bereits
eingeschlagen. An der Waschstelle walkt eine junge Frau zum letzten Mal
einen Strampelanzug; vom eiskalten Wasser glühen ihre Hände, als wären sie
entzündet. "Nur eine Woche", sagt sie leise, "haben uns die Beamten Zeit
gegeben, unsere Wohnungen zu verlassen und an den Stadtrand zu ziehen."
Mehr Empörung will niemand zeigen.
Tsitsi Kang werden die neuen
Billigbauten genannt, die überall in Lhasa hochgezogen werden:
Rattenkäfige. Viele von ihnen sind architektonische Absurditäten. Das
Innere eines Hauses am Barkhor wurde entkernt und mit Wohnboxen aus Beton
angefüllt, deren Fenster auch im Obergeschoss kaum Licht hereinlassen,
weil sie nur eine Handbreit von der nächsten Wand entfernt
liegen.
Wangpo lebt in einem Tsitsi Kang im Norden der Altstadt. Er teilt sich zwei kleine
Räume mit seiner Frau, drei Kindern und drei halbwüchsigen Neffen vom
Land, die in Lhasa Arbeit suchen. Wir sitzen auf niedrigen, harten Bänken,
die auch als Betten dienen. Wangpo serviert dampfend heißen Orangensaft,
Buttertee und hartes, getrocknetes Yak-Fleisch, das in einem großen Haufen
auf dem Tisch liegt; an manchen Stücken hängen noch Fellreste. Das
Fernsehen zeigt den chinesischen Präsidenten Jiang Zemin bei endlosen
Empfängen, unterbrochen nur von schriller Werbung.
Vor einem Jahr ist Wangpo mit seiner Familie in das neu gebaute Haus eingezogen, für
das eine Karawanserei aus dem 17. Jahrhundert abgerissen wurde. Sie
fühlten sich leidlich wohl hier, sagt Wangpo, auch wenn der vergangene
Winter hart gewesen sei. Die großen Fenster halten die Kälte ebenso wenig
ab wie die Beton
wände, an denen bereits die ersten
Schimmelflecken aufquellen. 50 Bewohner, weit mehr als in den
traditionellen Bauten, teilen sich einen Wasseranschluss, das führt zu
endlosen Wartezeiten. In der Küche fehlt ein Abzug, es kommt ständig zu
Kurzschlüssen, weil Feuchtigkeit in die Leitungen kriecht, und die
schmächtigen Wände gewähren nur wenig Privatsphäre.
Die Baukosten der Tsitsi Kang-Blöcke liegen bei 100 Euro pro Quadratmeter, das
ist selbst für chinesische Verhältnisse billig. So bröckeln viele Gebäude
bereits nach wenigen Jahren, und es ist keine Seltenheit in Lhasa,dass
drei Jahre alte Bauten wieder geschliffen werden.
Wangpo bedauert den Untergang der Altstadt, schließlich ist der 30-Jährige aus
dem Exil in Nepal zurückgekehrt, damit seine Kinder hier aufwachsen: "Sie
sollen echte Tibeter werden." Er selbst ist als Nomadenkind in einem Zelt
groß geworden, in einem Haus mit Wänden und Fenstern und Türen hat er zum
ersten Mal im Alter von elf Jahren übernachtet: "Feste Häuser waren mir
eigentlich immer fremd", sagt er. Und wie Wangpo geht es vielen
Bewohnern Lhasas. Die urbane Kultur in Tibet ist schwach,
sonst wären die Proteste gegen den Abriss der Altstadt vielleicht
energischer. In den vergangenen Jahren wurde die Zerstörung Lhasas nur für
eine kurze Zeit aufgehalten - von einem jungen Deutschen, der in Tibet, so
ein Diplomat, "ein kleines Wunder vollbracht hat". Seit den frühen
neunziger Jahren kämpft der Berliner Geschichtsstudent André Alexander für
den Erhalt der Altstadt. Es lässt sich kaum ein mühsamerer Ort für ein
solches Projekt denken. Ausländer brauchen Sondergenehmigungen für die
Einreise nach Tibet, es ist ihnen verboten, in Lhasa eine Wohnung zu
mieten, Hilfsprojekte werden selten und nur unter strengsten Auflagen
gestattet.
Es dauerte Jahre, um in den abweisenden Büros der Partei- und Stadtoberen Fuß zu fassen, aber 1996 hatte Alexanders "Tibet Heritage Fund" erwirkt, was noch keiner Organisation zuvor gewährt worden war: die Erlaubnis, in Lhasa
unabhängig von den Behörden Stadtsanierung zu betreiben. 93 Häuser wurden
unter Denkmalschutz gestellt - aber nur einige davon konnte der "Tibet
Heritage Fund" tatsächlich retten.
Die meisten von ihnen liegen im Oedepug. Das winzige Viertel hinter dem Jokhang-Tempel ist so etwas wie Lhasas Vermächtnis: das letzte ursprüngliche,
zusammenhängende Häuser-Ensemble der Stadt. Kein Betonpfeiler, keine
Ladenfront mit Neonreklame stört das Gefüge der Fassaden; Mauerecken und
Häuserkanten ragen in die Gassen, wie es typisch war, bevor die meisten
Wege in Lhasa begradigt wurden.
Um den Oedepug in seiner ursprünglichen Gestalt zu erhalten,heuerte Alexander
alte,erfahrene Baumeister an. Es war nicht einfach, sie zu finden; die
meisten hatten seit Jahren nicht mehr gearbeitet. Sie beaufsichtigten die
Renovierung und gaben ihr Wissen an rund 270 tibetische Arbeiter weiter,
die der "Heritage Fund" angestellt hatte. Aber es waren nicht die
Bauarbeiten, die zur größten Herausforderung wurden. Sondern die
Bewohner. Sie
steckten voller Misstrauen. Die Mehrzahl der Mieter war während der
Kulturrevolution vor rund 30 Jahren in die Altstadt-Häuser kommandiert
worden, nachdem man die alten, meist wohlhabenden Besitzer verjagt hatte.
Die Angst vor Spitzeln und Denunzianten hatte die Hausgemeinschaften
gelähmt, manche Hinterhöfe waren von Stacheldrahtbarrieren zerteilt.
Etliche Mieter hatten 20 Jahre lang nicht miteinander gesprochen. Mit viel
Geduld gewann Alexander schließlich doch ihre
Unterstützung.
Der "Heritage Fund" sorgte für ungewohnte Demokratie in dieser besetzten
Stadt: An allen Entscheidungen waren die Mieter beteiligt. Sie hielten
wöchentliche Versammlungen ab und mussten sich über die
Gemeinschaftsarbeiten einigen. Rasch sprach sich die neue Freiheit herum,
andere Hausgemeinschaften begannen aus eigener Anstrengung, ihre Häuser zu
verschönern, das Bewusstsein für den Wert der alten Häuser und für die
eigene Kultur wuchs. Es war wie ein Aufbruch.
Der kurze Frühling von Lhasa endete jäh. Im Jahr 2000 entzogen die Behörden dem "Tibet Heritage Fund" die Arbeitserlaubnis. Die offizielle Begründung war nichtssagend: Verstoß gegen Meldeauflagen sowie Kritik an der chinesischen Politik - die üblichen bürokratischen Floskeln. So schossen Gerüchte über
die "wahren" Gründe ins Kraut. Es war die Rede von der Wut der Chinesen
über die Flucht des 17. Karmapa, einem der höchsten geistigen Führer, von
einer verschärften Anti-Buddhismus-Kampagne, von Machtkämpfen innerhalb
des Partei-Apparats.
Der Dalai Lama, seit 43 Jahren im indischen Exil, bezeichnet die Zerstörung der Altstadt seit Jahren als gezielten "kulturellen Völkermord" seitens der
chinesischen KP. So berichten es auch die meisten
Medien.
Doch vermutlich ist alles viel banaler - und zugleich komplizierter. Mehr als Partei und Politik zerstören Neid und Gier Lhasa. Wenige Tage nach dem
Rausschmiss Alexanders und seiner Mitstreiter wurden fünf alte Häuser
abgerissen: Die Baulobby hatte sich durchgesetzt. Die
Immobilienfirmen in Lhasa wollen die alten dreistöckigen Gebäude durch
viergeschossige Neubauten ersetzen, damit sie mehr Menschen unterbringen
und höhere Mieten verlangen können. Mieter in den
alten Häusern zahlen
oft nur 300 Yuan pro Jahr, umgerechnet 37 Euro. Dieselbe Summe wird auch
in den Neubauten verlangt - aber pro Monat. Die Ausländer des "Tibet
Heritage Fund" störten dieses lukrative Geschäft, deshalb sollten sie
gehen.
An der Spekulation beteiligen sich Chinesen ebenso wie Tibeter. So war es ein
Tibeter, der damalige Bürgermeister Lobsang Dondrup, der 1995 den
Wohnungsmarkt rund um den Barkhor freigab und den ungehinderten Verkauf
aller Häuser genehmigte - und damit eine Abrisswelle ohnegleichen
auslöste.
Oft sind es
ehemalige Angestellte der Baubehörde, die mit dem Wohnungsbau ihr
Insiderwissen und ihre guten Beziehungen in bare Münze verwandeln; einige dieser Ex-Bürokraten gelten inzwischen als die reichsten Männer Lhasas. Auch staatliche Stellen verdienen mit. Die so genannten Städtischen
Baukomitees sollen einerseits den Wildwuchs eindämmen, müssen aber
gleichzeitig ihr Budget durch Neubauten und Vermietungen selbst
erwirtschaften. Zudem wollen sie jedes Jahr möglichst hohe Zu-wachsraten
des Wohnungsbestandes nach Beijing melden, ganz im Geiste der einstigen
Kommandowirtschaft.
Ideologisch
und wirtschaftlich wird Tibet von der chinesischen Führung nach wie vor in
Rückständigkeit gehalten; das hat paradoxe Folgen für die Altstadt. Zum
Teil konnte Lhasa davon profitieren: Dass überhaupt noch traditionelle
Gebäude stehen, verdankt die Stadt der verzögerten Modernisierung, die der
chinesischen rund zehn Jahre hinterherhinkt. In vielen dynamischeren
Städten des Landes sind die alten Viertel nämlich längst gänzlich
zerstört.
Zugleich ist die Gestrigkeit der Führungskader in Tibet heute ein entscheidender Grund, weshalb nicht mehr zur Rettung der verbliebenen Baudenkmäler getan
wird. In Beijing, Shanghai, Wuhan und Guangzhou wird längst öffentlich
über die Bewahrung der alten Viertel diskutiert, in Tibet wird derlei
vehement unterdrückt. Etliche Funktionäre dort stammen noch aus der
Kulturrevolution, es heißt, manche von ihnen könnten bis heute nicht lesen
und schreiben. Ein Stadtplaner, der anonym bleiben möchte, erklärt: "Nicht
böse chinesische Absicht, sondern lokale Ignoranz zerstört
Lhasa."
Selbst wenn
die Politiker guten Willens wären, hätten sie einen schweren Stand: Lhasa
ist eine überforderte Stadt, Schauplatz einer gewaltigen urbanen
Explosion. Mittlerweile ist die Bevölkerung im Großraum Lhasa auf 470000
Bewohner angewachsen. Rund um die Altstadt wuchern unaufhörlich
chinesische Kolonien: Linealgerade Straßen-Schneisen greifen weit hinaus
in die Hochebene, "breit genug", flüstert ein Tibeter, "für drei
Panzer nebeneinander". Entlang des Asphalts staffeln sich
Einheitsschachteln mit den immer gleichen, billigen Fassaden aus weißen
Fliesen und blau getönten Fenstern - architektonisch ein einziger
Albtraum.
Die Tibeter
sind zur Minderheit in der eigenen Stadt geworden. Jeden Sommer saugt
Lhasa zusätzlich rund 100000 chinesische Arbeitssuchende auf. Tausende
chinesische Prostituierte finden unter ihnen Kundschaft, die "Insel der
Räuber" im Kyi-Fluss mit ihren schmuddeligen Karaoke-Bars gilt als einer
der größten Bordellbezirke der Erde.
Zum Jahresende 2007 wird eine Eisenbahnstrecke Lhasa noch enger an China
binden und die Metropole weiter aufblähen, nach offiziellen Plänen soll
sich die Fläche bis zum Jahre 2015 vervierfachen. Dann wird die Stadt das
gesamte staubige Tal ausfüllen - urbaner Größenwahn in dieser ökologisch
fragilen Gebirgswelt.
Vor allem
aber belastet der Wirtschaftsboom die Seele der Tibeter. Er erniedrigt
sie, ganz unmittelbar: Je größer China wird, desto kleiner werden sie. Der
chinesische Aufstieg führt ihnen täglich die eigene Ohnmacht vor Augen.
Unablässig übertragen die inzwischen rund 80 chinesischen Fernsehkanäle
die Errungenschaften der Modernisierung, die Hochhausgebirge von Shanghai
und Chongqing, die Autobahnknoten um Beijing,
die High-Tech-Industrien von Shenzhen. Die Bilder bieten eine weitaus
faszinierendere - und bedrückendere - Propaganda als die Aufmärsche der
Vergangenheit. Voll Widerwillen machen sich viele Tibeter mit dem Gedanken
vertraut, dass sie ihre Freiheit von der Supermacht China auf absehbare
Zeit nicht erlangen werden.
Es macht sich müder
Pragmatismus breit, auch in der Stadtplanung. Was kommt nach der Altstadt,
fragt ketzerisch ein Architekt, der ebenfalls nicht genannt werden möchte.
Wie könnte eine moderne tibetische Architektur aussehen:
pseudo-traditionelle Fassaden über Betongerippe, so wie es derzeit üblich
ist? Oder müssen radikal neue Entwürfe her - doch wer sollte sie zeichnen
in einem Land, in dem es erst seit wenigen Monaten eine
Universitätsfakultät für Architekten gibt und viel zu wenige einheimische
Ingenieure?
Die Architektur spiegelt das Dilemma des modernen Tibet: Der Widerstand gegen
die übermächtigen Chinesen weicht auf, aber was als neues
Selbstverständnis an dessen Stelle treten soll, ist
unklar.
Am Tag nachdem die Bewohner des Hauses Pomdatsang ihre Wohnungen verlassen haben, brechen Bauarbeiter die Türen heraus. Die Zeitung "China Daily" berichtet,
die Stadt Lhasa habe ein neues Wohnungsbauprogramm beschlossen. Eine
ungenannte Zahl von Häusern werde "renoviert", das heißt: ersetzt durch
Betonbauten. Das Programm dürfte die Altstadt endgültig auslöschen. André
Alexander hatte bis zuletzt gehofft, sein Sanierungsprojekt in Lhasa
wiederaufnehmen zu können. Als er in Beijing von der Zeitungsmeldung
erfährt, sagt er nur: "Also doch."
zurück zu Han Su-yin
heim zu Lügen haben schöne Beine