Tibet: Kampf um Alt-Lhasa

von Christoph Kucklick (GEO Special August 2002)

Außer dem Potala gibt es nur noch wenige traditionelle Gebäude in Lhasa.
Der Disput um deren Zukunft zeigt, wo die neuen Trennlinien in der Stadt verlaufen

Auf dem Pilgerweg um den Tempel werfen sich die Gläubigen nieder, strecken ihre Körper auf dem Pflaster und drücken die Köpfe in den Staub. Andere umrunden den Tempel mit schnellen Schritten, Kaufleute in Anzügen, Jugendliche im Fußballdress und Nomaden mit Yakfell-Joppen und Nike-Schuhen, sie murmeln Fürbitten und lassen ihre Gebetsmühlen kreiseln. Aus Weihrauch Brennern steigt schwerer, süßlicher Duft, über den Häusern flattern Gebetsfahnen - es herrscht ein himmlischer Friede über dem Pilgerweg, dem Barkhor. Und er trügt. "Land der Götter" nennen Tibeter ihre Hauptstadt. Doch die Götter haben Lhasa verlassen.

Die Altstadt stirbt. Seit gut einem Jahrzehnt wird ein traditionelles Gebäude nach dem anderen abgerissen: Anfang der achtziger Jahre standen noch rund 600 alte Häuser, heute sind es kaum mehr 100. Sie wurden ersetzt durch hastig errichtete Neubauten, die außer pseudo-tibetischen Fassaden nichts mehr mit der alten Architektur verbindet.

Lhasa war einmal eine kleine Stadt, bis vor fünf Jahrzehnten lebten kaum 30000 Menschen hier. Sie wohnten in weiß gekalkten Häusern, deren Wände sich zum Himmel hin verjüngten, was die Gebäude auf verblüffende Weise leicht und mächtig zugleich wirken ließ.
Alles an ihnen war auf das Leben und Überleben in 3600 Meter Höhe eingerichtet. Die meterdicken Mauern aus Stein und Lehm speicherten die Wärme und hielten die Kälte ab, die breiten Fenstersimse waren schwarz gefärbt, um die Luft vor den Räumen zu erwärmen.
In den obersten Stockwerken lagen Säle mit Panoramafenstern, die weiten Innenhöfe ließen viel Licht auch in die Stuben im Erdgeschoss. Sogar gegen Erdbeben waren die Bauten geschützt: Zwischenlagen aus kleinen Steinen im Mauerwerk federten seismische Stöße ab. Die Häuser standen eng gedrängt entlang krummer Gassen rund um den Jokhang, den heiligsten Tempel Tibets, und boten Raum für ein ehrfürchtiges Leben.

Im Pomdatsang, einem herrschaftlichen Haus am Barkhor, stapeln die Bewohner im Frühjahr 2002 ihre Habseligkeiten auf einen Pritschenwagen: Matratzen, roh gezimmerte Bettgestelle, mit goldenen Drachen verzierte Blechtruhen. Der Innenhof ist mit Umzugsmüll übersät, einige Wände wurden bereits eingeschlagen. An der Waschstelle walkt eine junge Frau zum letzten Mal einen Strampelanzug; vom eiskalten Wasser glühen ihre Hände, als wären sie entzündet. "Nur eine Woche", sagt sie leise, "haben uns die Beamten Zeit gegeben, unsere Wohnungen zu verlassen und an den Stadtrand zu ziehen." Mehr Empörung will niemand zeigen.
Tsitsi Kang werden die neuen Billigbauten genannt, die überall in Lhasa hochgezogen werden: Rattenkäfige. Viele von ihnen sind architektonische Absurditäten. Das Innere eines Hauses am Barkhor wurde entkernt und mit Wohnboxen aus Beton angefüllt, deren Fenster auch im Obergeschoss kaum Licht hereinlassen, weil sie nur eine Handbreit von der nächsten Wand entfernt liegen.

Wangpo lebt in einem Tsitsi Kang im Norden der Altstadt. Er teilt sich zwei kleine Räume mit seiner Frau, drei Kindern und drei halbwüchsigen Neffen vom Land, die in Lhasa Arbeit suchen. Wir sitzen auf niedrigen, harten Bänken, die auch als Betten dienen. Wangpo serviert dampfend heißen Orangensaft, Buttertee und hartes, getrocknetes Yak-Fleisch, das in einem großen Haufen auf dem Tisch liegt; an manchen Stücken hängen noch Fellreste. Das Fernsehen zeigt den chinesischen Präsidenten Jiang Zemin bei endlosen Empfängen, unterbrochen nur von schriller Werbung.

Vor einem Jahr ist Wangpo mit seiner Familie in das neu gebaute Haus eingezogen, für das eine Karawanserei aus dem 17. Jahrhundert abgerissen wurde. Sie fühlten sich leidlich wohl hier, sagt Wangpo, auch wenn der vergangene Winter hart gewesen sei. Die großen Fenster halten die Kälte ebenso wenig ab wie die Beton

wände, an denen bereits die ersten Schimmelflecken aufquellen. 50 Bewohner, weit mehr als in den traditionellen Bauten, teilen sich einen Wasseranschluss, das führt zu endlosen Wartezeiten. In der Küche fehlt ein Abzug, es kommt ständig zu Kurzschlüssen, weil Feuchtigkeit in die Leitungen kriecht, und die schmächtigen Wände gewähren nur wenig Privatsphäre.

Die Baukosten der Tsitsi Kang-Blöcke liegen bei 100 Euro pro Quadratmeter, das ist selbst für chinesische Verhältnisse billig. So bröckeln viele Gebäude bereits nach wenigen Jahren, und es ist keine Seltenheit in Lhasa,dass drei Jahre alte Bauten wieder geschliffen werden.

Wangpo bedauert den Untergang der Altstadt, schließlich ist der 30-Jährige aus dem Exil in Nepal zurückgekehrt, damit seine Kinder hier aufwachsen: "Sie sollen echte Tibeter werden." Er selbst ist als Nomadenkind in einem Zelt groß geworden, in einem Haus mit Wänden und Fenstern und Türen hat er zum ersten Mal im Alter von elf Jahren übernachtet: "Feste Häuser waren mir eigentlich immer fremd", sagt er. Und wie Wangpo geht es vielen Bewohnern Lhasas. Die urbane Kultur in Tibet ist schwach, sonst wären die Proteste gegen den Abriss der Altstadt vielleicht energischer. In den vergangenen Jahren wurde die Zerstörung Lhasas nur für eine kurze Zeit aufgehalten - von einem jungen Deutschen, der in Tibet, so ein Diplomat, "ein kleines Wunder vollbracht hat". Seit den frühen neunziger Jahren kämpft der Berliner Geschichtsstudent André Alexander für den Erhalt der Altstadt. Es lässt sich kaum ein mühsamerer Ort für ein solches Projekt denken. Ausländer brauchen Sondergenehmigungen für die Einreise nach Tibet, es ist ihnen verboten, in Lhasa eine Wohnung zu mieten, Hilfsprojekte werden selten und nur unter strengsten Auflagen gestattet.

Es dauerte Jahre, um in den abweisenden Büros der Partei- und Stadtoberen Fuß zu fassen, aber 1996 hatte Alexanders "Tibet Heritage Fund" erwirkt, was noch keiner Organisation zuvor gewährt worden war: die Erlaubnis, in Lhasa unabhängig von den Behörden Stadtsanierung zu betreiben. 93 Häuser wurden unter Denkmalschutz gestellt - aber nur einige davon konnte der "Tibet Heritage Fund" tatsächlich retten.

Die meisten von ihnen liegen im Oedepug. Das winzige Viertel hinter dem Jokhang-Tempel ist so etwas wie Lhasas Vermächtnis: das letzte ursprüngliche, zusammenhängende Häuser-Ensemble der Stadt. Kein Betonpfeiler, keine Ladenfront mit Neonreklame stört das Gefüge der Fassaden; Mauerecken und Häuserkanten ragen in die Gassen, wie es typisch war, bevor die meisten Wege in Lhasa begradigt wurden.

Um den Oedepug in seiner ursprünglichen Gestalt zu erhalten,heuerte Alexander alte,erfahrene Baumeister an. Es war nicht einfach, sie zu finden; die meisten hatten seit Jahren nicht mehr gearbeitet. Sie beaufsichtigten die Renovierung und gaben ihr Wissen an rund 270 tibetische Arbeiter weiter, die der "Heritage Fund" angestellt hatte. Aber es waren nicht die Bauarbeiten, die zur größten Herausforderung wurden. Sondern die Bewohner. Sie steckten voller Misstrauen. Die Mehrzahl der Mieter war während der Kulturrevolution vor rund 30 Jahren in die Altstadt-Häuser kommandiert worden, nachdem man die alten, meist wohlhabenden Besitzer verjagt hatte. Die Angst vor Spitzeln und Denunzianten hatte die Hausgemeinschaften gelähmt, manche Hinterhöfe waren von Stacheldrahtbarrieren zerteilt. Etliche Mieter hatten 20 Jahre lang nicht miteinander gesprochen. Mit viel Geduld gewann Alexander schließlich doch ihre Unterstützung.

Der "Heritage Fund" sorgte für ungewohnte Demokratie in dieser besetzten Stadt: An allen Entscheidungen waren die Mieter beteiligt. Sie hielten wöchentliche Versammlungen ab und mussten sich über die Gemeinschaftsarbeiten einigen. Rasch sprach sich die neue Freiheit herum, andere Hausgemeinschaften begannen aus eigener Anstrengung, ihre Häuser zu verschönern, das Bewusstsein für den Wert der alten Häuser und für die eigene Kultur wuchs. Es war wie ein Aufbruch.

Der kurze Frühling von Lhasa endete jäh. Im Jahr 2000 entzogen die Behörden dem "Tibet Heritage Fund" die Arbeitserlaubnis. Die offizielle Begründung war nichtssagend: Verstoß gegen Meldeauflagen sowie Kritik an der chinesischen Politik - die üblichen bürokratischen Floskeln. So schossen Gerüchte über die "wahren" Gründe ins Kraut. Es war die Rede von der Wut der Chinesen über die Flucht des 17. Karmapa, einem der höchsten geistigen Führer, von einer verschärften Anti-Buddhismus-Kampagne, von Machtkämpfen innerhalb des Partei-Apparats.

Der Dalai Lama, seit 43 Jahren im indischen Exil, bezeichnet die Zerstörung der Altstadt seit Jahren als gezielten "kulturellen Völkermord" seitens der chinesischen KP. So berichten es auch die meisten Medien.

Doch vermutlich ist alles viel banaler - und zugleich komplizierter. Mehr als Partei und Politik zerstören Neid und Gier Lhasa. Wenige Tage nach dem Rausschmiss Alexanders und seiner Mitstreiter wurden fünf alte Häuser abgerissen: Die Baulobby hatte sich durchgesetzt. Die Immobilienfirmen in Lhasa wollen die alten dreistöckigen Gebäude durch viergeschossige Neubauten ersetzen, damit sie mehr Menschen unterbringen und höhere Mieten verlangen können. Mieter in den alten Häusern zahlen oft nur 300 Yuan pro Jahr, umgerechnet 37 Euro. Dieselbe Summe wird auch in den Neubauten verlangt - aber pro Monat. Die Ausländer des "Tibet Heritage Fund" störten dieses lukrative Geschäft, deshalb sollten sie gehen.

An der Spekulation beteiligen sich Chinesen ebenso wie Tibeter. So war es ein Tibeter, der damalige Bürgermeister Lobsang Dondrup, der 1995 den Wohnungsmarkt rund um den Barkhor freigab und den ungehinderten Verkauf aller Häuser genehmigte - und damit eine Abrisswelle ohnegleichen auslöste.

Oft sind es ehemalige Angestellte der Baubehörde, die mit dem Wohnungsbau ihr Insiderwissen und ihre guten Beziehungen in bare Münze verwandeln; einige dieser Ex-Bürokraten gelten inzwischen als die reichsten Männer Lhasas. Auch staatliche Stellen verdienen mit. Die so genannten Städtischen Baukomitees sollen einerseits den Wildwuchs eindämmen, müssen aber gleichzeitig ihr Budget durch Neubauten und Vermietungen selbst erwirtschaften. Zudem wollen sie jedes Jahr möglichst hohe Zu-wachsraten des Wohnungsbestandes nach Beijing melden, ganz im Geiste der einstigen Kommandowirtschaft.

Ideologisch und wirtschaftlich wird Tibet von der chinesischen Führung nach wie vor in Rückständigkeit gehalten; das hat paradoxe Folgen für die Altstadt. Zum Teil konnte Lhasa davon profitieren: Dass überhaupt noch traditionelle Gebäude stehen, verdankt die Stadt der verzögerten Modernisierung, die der chinesischen rund zehn Jahre hinterherhinkt. In vielen dynamischeren Städten des Landes sind die alten Viertel nämlich längst gänzlich zerstört.

Zugleich ist die Gestrigkeit der Führungskader in Tibet heute ein entscheidender Grund, weshalb nicht mehr zur Rettung der verbliebenen Baudenkmäler getan wird. In Beijing, Shanghai, Wuhan und Guangzhou wird längst öffentlich über die Bewahrung der alten Viertel diskutiert, in Tibet wird derlei vehement unterdrückt. Etliche Funktionäre dort stammen noch aus der Kulturrevolution, es heißt, manche von ihnen könnten bis heute nicht lesen und schreiben. Ein Stadtplaner, der anonym bleiben möchte, erklärt: "Nicht böse chinesische Absicht, sondern lokale Ignoranz zerstört Lhasa."

Selbst wenn die Politiker guten Willens wären, hätten sie einen schweren Stand: Lhasa ist eine überforderte Stadt, Schauplatz einer gewaltigen urbanen Explosion. Mittlerweile ist die Bevölkerung im Großraum Lhasa auf 470000 Bewohner angewachsen. Rund um die Altstadt wuchern unaufhörlich chinesische Kolonien: Linealgerade Straßen-Schneisen greifen weit hinaus in die Hochebene, "breit genug", flüstert ein Tibeter, "für drei Panzer nebeneinander". Entlang des Asphalts staffeln sich Einheitsschachteln mit den immer gleichen, billigen Fassaden aus weißen Fliesen und blau getönten Fenstern - architektonisch ein einziger Albtraum.

Die Tibeter sind zur Minderheit in der eigenen Stadt geworden. Jeden Sommer saugt Lhasa zusätzlich rund 100000 chinesische Arbeitssuchende auf. Tausende chinesische Prostituierte finden unter ihnen Kundschaft, die "Insel der Räuber" im Kyi-Fluss mit ihren schmuddeligen Karaoke-Bars gilt als einer der größten Bordellbezirke der Erde.

Zum Jahresende 2007 wird eine Eisenbahnstrecke Lhasa noch enger an China binden und die Metropole weiter aufblähen, nach offiziellen Plänen soll sich die Fläche bis zum Jahre 2015 vervierfachen. Dann wird die Stadt das gesamte staubige Tal ausfüllen - urbaner Größenwahn in dieser ökologisch fragilen Gebirgswelt.

Vor allem aber belastet der Wirtschaftsboom die Seele der Tibeter. Er erniedrigt sie, ganz unmittelbar: Je größer China wird, desto kleiner werden sie. Der chinesische Aufstieg führt ihnen täglich die eigene Ohnmacht vor Augen. Unablässig übertragen die inzwischen rund 80 chinesischen Fernsehkanäle die Errungenschaften der Modernisierung, die Hochhausgebirge von Shanghai und Chongqing, die Autobahnknoten um Beijing, die High-Tech-Industrien von Shenzhen. Die Bilder bieten eine weitaus faszinierendere - und bedrückendere - Propaganda als die Aufmärsche der Vergangenheit. Voll Widerwillen machen sich viele Tibeter mit dem Gedanken vertraut, dass sie ihre Freiheit von der Supermacht China auf absehbare Zeit nicht erlangen werden.

Es macht sich müder Pragmatismus breit, auch in der Stadtplanung. Was kommt nach der Altstadt, fragt ketzerisch ein Architekt, der ebenfalls nicht genannt werden möchte. Wie könnte eine moderne tibetische Architektur aussehen: pseudo-traditionelle Fassaden über Betongerippe, so wie es derzeit üblich ist? Oder müssen radikal neue Entwürfe her - doch wer sollte sie zeichnen in einem Land, in dem es erst seit wenigen Monaten eine Universitätsfakultät für Architekten gibt und viel zu wenige einheimische Ingenieure?

Die Architektur spiegelt das Dilemma des modernen Tibet: Der Widerstand gegen die übermächtigen Chinesen weicht auf, aber was als neues Selbstverständnis an dessen Stelle treten soll, ist unklar.

Am Tag nachdem die Bewohner des Hauses Pomdatsang ihre Wohnungen verlassen haben, brechen Bauarbeiter die Türen heraus. Die Zeitung "China Daily" berichtet, die Stadt Lhasa habe ein neues Wohnungsbauprogramm beschlossen. Eine ungenannte Zahl von Häusern werde "renoviert", das heißt: ersetzt durch Betonbauten. Das Programm dürfte die Altstadt endgültig auslöschen. André Alexander hatte bis zuletzt gehofft, sein Sanierungsprojekt in Lhasa wiederaufnehmen zu können. Als er in Beijing von der Zeitungsmeldung erfährt, sagt er nur: "Also doch."


zurück zu Han Su-yin

heim zu Lügen haben schöne Beine