Der Jesuitenstaat von Paraguay

von Uwe Schmengler, Berlin (1982)

Einleitung

Nach dem 2. Weltkrieg wurde das missionarische Werk der Jesuiten aus dem 17. und 18. Jh. erneut bekannt durch Fritz Hochwälders Drama "Das heilige Experiment". Aber auch in den Jahrhunderten zuvor beschäftigte es immer wieder die Gemüter. Die deutsche Klassik hat sich ebenso mit dem Jesuitenstaat beschäftigt wie die Romantik und die sozialistische Geschichtsschreibung. (1) Dabei war die Einschätzung des jesuitischen Wirkens durchaus nicht einheitlich. Dieser Aufsatz soll Informationen und Hintergründe liefern, um den entstandenen Streit beurteilen zu können.

Von großer Wichtigkeit ist die Kenntnis der Situation in Spanien im Zeitalter der Entdeckungen. Die Eroberer, und nach ihnen die Siedler waren von einer typisch spanisch-christlichen Sendungsideologie geprägt: Sie waren berufen, das Christentum und eine davon untrennbare spanische Zivilisation in die Welt hinaus zu tragen.

Andererseits kann weitgehend darauf verzichtet werden, die Aktivitäten des Jesuitenordens in Europa darzustellen. Da sich die Jünger Ignatius' prinzipiell an Bildungsstand und Lebensgewohnheiten des zu bekehrenden Volkes anpaßten, würde man keine Rückschlüsse ziehen können. Wichtig zu erwähnen ist nur die starke Stellung der Jesuiten am spanischen Hof, sowie ihre spätere Vertreibung.

Da die Missionsdörfer Teil des spanischen Kolonialreiches waren und als Missionsschutzgebiete direkt der spanischen Krone unterstanden, kann ihr Wert bzw. Unwert nur wirklich beurteilt werden, wenn sie mit der gleichzeitigen spanisch-amerikanischen Wirklichkeit verglichen werden.

Geschichtliche Voraussetzung: Spanien im Zeitalter von Reconquista und Conquista

1492 wurden die Araber aus ihrer letzten Stellung in Spanien vertrieben. Mit dem Fall Granadas ging ein fast 800 Jahre dauernder "heiliger Krieg" gegen den Islam zu Ende, bei dem katholischer Glaube und Spanisches Nationalbewußtsein zu einer einheitlichen Staatsideologie verschmolzen waren (2).

Dieser langjährige Krieg hatte darüber hinaus zu einer Verherrlichung der Soldateska und zu einer Verachtung manueller Tätigkeiten geführt. Die königlichen Schatzkammern waren leer, das Wirtschaftsleben, das während der Reconquista überwiegend auf Plünderungen und Kriegsbeute beruht hatte, zusätzlich dadurch zerstört, daß 1492 mit den spanischen Juden die letzten Reste einer Mittelschicht außer Landes gejagt wurden.

Die einzige Möglichkeit für Spanien, den Wiedereinstieg in ein halbwegs geordnetes Wirtschaftsleben zu finden und gleichzeitig das nun beschäftigungslose Militär neuen Aufgaben zuzuführen, war die Expansion nach Westen, denn den Afrika-Handel beherrschten, mit päpstlichem Segen, bereits die Portugiesen.

Als Kolumbus von seiner Entdeckungsfahrt zurückkehrte, konnte der Vatikan Spanien natürlich nicht verweigern, was er Portugal so großzügig gewährt hatte: Mit der "Schenkungsbulle" von 1493 teilte der Papst die Welt in "Missionsgebiete" zwischen Spanien und Portugal auf

"Kolonialgebiet" Amerika

Mit dem Vertrag von Tordesillas 1494 teilten Spanier und Portugiesen ein Amerika unter sich auf, in dem ca. 100 Mio. Menschen z.T. in hochorganisierten Staatswesen, aber auch in unzähligen größeren und kleineren Stämmen zusammenlebten (man kennt allein 125 unterschiedliche Sprachfamilien). 100 Jahre später lebte davon gerade noch 1/10.

Die spanischen Eroberer, die im 16. Jh. in dieses indianische Amerika eindrangen, gaben (mit Ausnahme Pizarros in Peru) vor, wegen der Bekehrung der Heiden gekommen zu sein. Diese "Schwertmission" (militärische Unterwerfung als unmittelbare Voraussetzung zur Ermöglichung von Evangelisation) muß als offizielle Politik des spanischen Hofes betrachtet werden. Denn ausgehend von der Auffassung, die staatsbürgerlichen Tugenden der Untertanen seien in der Religion am festesten begründet, sah man durch nicht-christliche Indianer den dauerhaften Bestand eines spanischen Kolonialreiches gefährdet.

Im Gegensatz dazu waren die Portugiesen nur an einer maximalen wirtschaftlichen Ausbeutung ihrer Kolonien interessiert. Sie besiedelten daher auch nur die Küstenregionen als Operationsgebiet, von dem aus sie auf Sklavenjagden sich Arbeitskräfte für ihre Zuckerrohrplantagen verschafften.

Kommende als "Regelmission"

Ursprünglich sollte das Kommendensystem ein "Kompromiß" sein zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Siedler und den Indianerschutzgesetzen, die vom spanischen Hof auf Drängen solcher Einzelkämpfer wie Las Casas u.a. erlassen worden waren.

Grundgedanke der "encomendia-doctrina" war daß die Indios freie, aber nicht gleichberechtigte Untertanen des Königs waren. Sie sollten erst zu vollwertigen Menschen erzogen werden, d.h. sie hatten sich in allem den spanischen Vorstellungen anzupassen. Zu diesem Zweck durfte ein Spanier eine bestimmte Anzahl Indianer zur Arbeit auf seinem Gut bzw. in seinem Bergwerk zwingen, hatte sie dafür aber kirchlich zu betreuen. Dem lag die These zugrunde, jeder Altchrist sei allein aufgrund seiner Taufe zur Heidenmission fähig. Man wollte die Indianer gesellschaftlich und wirtschaftlich in eine christliche Umwelt integrieren.

In der Praxis erwies sich dies allerdings von Beginn an als Trugschluß. Einziges Ziel der Eroberer und Siedler war die restlose Ausbeutung der Indianer ohne Rücksicht auf irgendwelche, selbst humane Erwägungen. Das indianische Amerika hatte nichts weiter zu liefern als die Substanz zu einem Spanisch-Amerika (3).

Vom Klerus waren keine wirksamen Aktivitäten zum Schutze der Indios zu erwarten. Dessen Verfilzung mit dem Staat war zu vollständig und die Stellung der Priester als Teil und Nutznießer des Systems zu eindeutig.

Indianerreduktion als "Alternativ-Mission"

Nicht alle Missionsformen zielten sichtbar auf Unterwerfung und Ausbeutung der Indianer. Einige hatten sich sogar ausdrücklich deren Schutz vor den Spaniern zum Ziel gesetzt.

Als wichtigstes dieser Modelle ist das der Indianerreduktionen zu nennen. Seit Mitte des 16. Jh. wurden diese christlichen Indianersiedlungen vor allem von Kapuzinern und Franziskanern, später auch von Jesuiten gegründet.

Ihre Schutzfunktion lag hauptsächlich in der strikten Trennung von Eingeborenen und Europäern. Es sollte vermieden werden, daß die Indios sich ein wirkliches Bild machen konnten von den wahren Christenmenschen, daß sie deren "Freiheiten" übernahmen. Darüber hinaus konnte die Einhaltung der Indianerschutzgesetze auf diese Weise wirksamer kontrolliert werden.

Aber letztendlich ging es auch hier nur und ausschließlich um die Verfügbarmachung von indianischer Arbeitskraft und indianischem Boden. Die Wahl des Begriffes "Reduktion" (ad ecclesiam et vitam civilem educti) und seine Übersetzung bei Höffner, die Indianer sollten zu einem "persönlichen Arbeitsethos", zu "überzeugten Christen und Spaniern" erzogen werden, machen deutlich, wie dicht beieinander die Unterwerfung unter den Gott der "ladinos" und die Unterwerfung unter deren Ausbeutung lagen.

Das vorkolumbianische Paraguay

Die Guarany (d.h. die Krieger) bewohnten Südamerika ursprünglich von Guayana bis zur Mündung des Rio de la Plata. I.d.R. waren sie Halbnomaden; einige Stämme waren bereits seßhaft. Einigendes Moment zwischen ihnen war eine hoch entwickelte, sehr differenzierte Sprache.

Wie allen umherziehenden Völkern war den Guarany Vorratswirtschaft weitgehend unbekannt. Natürlich betrieben sie auch keinen Handel. Die Jagd und der Fischfang brachten die tägliche Nahrung. Vegetabile Nahrung wurde vor allem durch das Sammeln von Früchten beschafft, bei einigen wenigen Völkern auch schon durch primitiven Hackbau auf feuergerodetem Boden (4).

Für umherziehende Völkerschaften wären feste Heiligtümer und Tempel nur hinderlich. Einer tiefen Religiosität ist dies jedoch nicht hinderlich. Die Guarany glaubten an einen Schöpfergott ebenso, wie an ein Leben nach dem Tod.

Das spanische Paraguay

Obwohl die ersten Spanier schon zu Beginn des 16. Jh. aus Gründen, von denen noch heute der Name "Rio de la Plata" (Silberfluß) zeugt, in das Gebiet von Paraguay vordrangen, kam eine bedeutende Anzahl von Missionaren erst sehr viel später.

Zu Beginn des 17. Jh. gingen spanische Jesuiten daran, die Indianer der Provinz Paraguay für den christlichen Glauben zu gewinnen. Die Missionsgebiete wählten sie dabei vor allem nach strategischen Gründen aus. Sie sollten eine Pufferzone bilden zum Schutze vor allem der Stadt Asuncion vor feindlichen, in der Hauptsache wohl indianischen Übergriffen, sowie der spanischen Kolonialgrenze vor den Portugiesen Brasiliens.

Die Jesuitenpatres versuchten auch, die Nomaden im NW von Asuncion zu befrieden und seßhaft zu machen. Wirklichen Erfolg hatten sie aber nur bei den Halbnomaden im NO der Stadt. Diese konnten in zum Schluß 30 Reduktionsdörfern angesiedelt werden.

Geschichte des "Jesuitenstaates"

Die Geschichte der Jesuitenmission stand von Beginn an im Zeichen der Konfrontation mit den spanischen Siedlern. Schon die Gründung der Reduktionen wurde nur ungern gesehen, standen doch die so angesiedelten Indianer nicht der Kommende zur Verfugung. Aber sowohl eine anfangs bestehende, wenn gleich brüchige Koalition zwischen spanischen Siedlern, Jesuiten und Indianern gegenüber den portugiesischen Sklavenhändlern als auch die starke Stellung der Jesuiten am spanischen Hofe ließen es zunächst nicht zu offenen Auseinandersetzungen kommen.

Erst als sich die Übergriffe der Portugiesen gegen die Indianerdörfer zu häufen begannen, ohne daß die Siedler zur Hilfe kamen oder die Indianer wenigstens mit Feuerwaffen ausgerüstet werden durften, kam es zur ersten größeren Konfrontation. Gegen den erklärten Widerstand der spanischen Siedler evakuierten die Patres 1631 die Reduktionen mit mehr als 12.000 Indianern über 1.200 km nach Süden. In den folgenden Jahren kamen weitere 50.000 in das Gebiet zwischen Paraguay und Uruguay. Diese Bevölkerungskonzentration machte es möglich, die Portugiesen 1641 entscheidend zu schlagen.

Erst 1649 wurde dies vom spanischen Hof dergestalt anerkannt, daß die Reduktionsindianer zu königlichen Grenztruppen ernannt wurden. Dies bedeutete die endgültige Befreiung von der Kommende, wie auch die Bewaffnung mit Feuerwaffen. Auslöser dieser Maßnahme Madrids dürfte ein Aufstand der spanischen Siedler gewesen sein. Die spanische Kolonialmacht brauchte zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft im La-Plata-Gebiet eine ihr bedingungslos ergebene Truppe, und nur die Jesuiten waren ökonomisch und politisch nicht mit der Kolonialgesellschaft verfilzt.

l750, die Anzahl der Reduktionen war auf 30, die der dort lebenden Indianer auf über 100.000 gestiegen, begann der Niedergang des Jesuitenstaates. In diesem Jahr wurde zwischen Portugal und Spanien vereinbart, daß im Austausch für das Buenos Aires gegenüberliegende Seeräubernest San Sacramento Portugal die sieben links des Uruguay liegenden Reduktionen erhalten sollte. (5) Zwar wurde dieser Vertrag wenige Jahre später wieder annulliert, die meisten Reduktionsbewohner waren aber vor den portugiesischen Sklavenhändlern in die Wälder geflohen und damit für die Mission weitgehend verloren. Darüber hinaus steuerte die Jesuitenverfolgung in Europa auf ihren Höhepunkt zu; dies blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen auf Lateinamerika: die Patres der Societas Jesu wurden dort 1768 endgültig ausgewiesen. Zwar wurden sie durch Dominikaner und Fanziskaner ersetzt; ihnen zur Seite gestellt wurden aber spanische Verwaltungsbeamte.

Die Reduktionen boten nun keinen Schutz mehr vor der Ausbeutung durch die Spanier. Der schnelle Niedergang der Dörfer war die Folge, da sich seine Bewohner in die Wälder absetzten. (6)

Zielsetzung und Methode der Mission

Die früheren Erfahrungen hatten gelehrt, daß nur die Seßhaftmachung der Neubekehrten auf Dauer die Möglichkeit eröffnete, die Missionsarbeit erfolgreich weiterzuführen. Die Ansiedlung der Stämme wurde i.d.R. mit vielen schönen Worten, mit Geschenken und Versprechungen erkauft. Als wichtigsten Grund jedoch für die Bereitschaft der Indianer, ihr bisheriges, umherschweifendes Leben aufzugeben, benennt die Literatur, daß sie im Reduktionsgebiet zunächst weitgehend sicher waren vor den Sklavenjagden der Portugiesen wie auch vor der Zwangsarbeit auf den Gütern der spanischen Siedler.

Obschon die spanische Kolonialmacht die jesuitische Mission weniger um ihrer selbst willen als wegen der durch sie bewirkten Befriedung der jeweiligen Völker wünschte, ging es dem Orden selbst wohl doch in erster Linie um die Bekehrung. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Missionaren versuchten die Jesuiten nicht, der indianischen Realität die mittelalterlich-kultische Frömmigkeit überzustülpen. Die Indianer sollten nicht ihr bisheriges Denken und Handeln schlagartig aufgeben; statt dessen paßten sich die Jesuiten zunächst deren Bildungs- und Lebensgewohnheiten an. (7)

Dennoch, den Eigenwert indianischer Kultur erkannten auch sie nicht an. Vielmehr wollten sie den Guarany eine Kultur geben, die denen die innerliche Aneignung des Christentums ermöglichen sollte. Das diese nur abendländischer Provenienz sein konnte, versteht sich fast von selbst. Immerhin gelang es den Patres, in den Reduktionen keine kulturellen Bastarde zu produzieren.

Verwaltung und Wirtschaftsleben der Reduktionen

Auf eine ausführliche Darstellung dieser beiden Punkte soll im Rahmen dieses Themas verzichtet werden. Zum notwendigen Verständnis des Ganzen soviel: Eine demokratische Verwaltung der Reduktionen auf allen Ebenen wäre eine Abkehr gewesen von jesuitischen Grundsätzen. Der streng hierarchische Ordensaufbau fand sich natürlich auch in der Organisation des Jesuitenstaates wieder. In der einzelnen Reduktion kam die eigentliche Herrschaft einzelnen Patres zu. Indianische Selbstverwaltung gab es nur auf der untersten Ebene.

Erstes Ziel allen Wirtschaftens war für die Missionare der Gesellschaft Jesu die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung. Denn nur unter der Voraussetzung, daß es ihnen besser ging als vorher, waren die Guarany überhaupt bereit, auf Dauer freiwillig seßhaft zu werden.

Die kommunistische Gesellschaftsordnung in den Reduktionen (sie war bestimmt durch Agrarkollektivismus und Gemeinschaftseigentum) war daher auch kein Versuch, irgendwelche urchristlichen oder jesuitischen Ideale zu installieren. Sie sollte vielmehr eine kontinuierliche Versorgung der Indianer sicherstellen und war dazu auf deren Vorbedingungen und Fähigkeiten abgestellt.

Sozialisationsarbeit der Jesuiten

Bereits erwähnt wurde, daß es den Jesuiten gelang, ein Absinken der Indianer in totale Kulturlosigkeit zu vermeiden. Wichtiges Mittel hierbei war die Entwicklung der Guarany Sprache zur Schriftsprache, sowie deren Beibehaltung als Verwaltungs- und Umgangssprache. So konnten sie eine völlige Entfremdung der Indianer von ihrer Tradition zumindest formal vermeiden.

Auf die gesellschaftliche Rolle der Frau in den Reduktionen wurde noch nicht eingegangen. Folgt doch aus den bisher beschriebenen Strukturen keineswegs eine bestimmte Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern (8).

Die aus europäischen Gesellschaftsordnungen stammenden Patres versuchten allerdings, die Frau ihrer "natürlichen Bestimmung" zuzuführen. Von Beginn an wurde sie auf eine Rolle im Haus vorbereitet. Die Mädchen lernten generell nur spinnen, stricken und nähen, während bei der Ausbildung der Jungen durchaus differenzierter vorgegangen wurde.

Die europäische Sozialisation der Ordensmitglieder bewies sich auch in ihrem Verhalten gegenüber der indianischen Sexualität. Während sie es noch duldeten, daß die Frau den Mann zur Ehe auswählte, war ihnen vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr sowie Polygamie ein Greuel. Zu beseitigen suchten sie diese nach ihrem christlichen Verständnis unmoralische Tradition dadurch, daß sie Jungen und Mädchen schon sehr früh verheirateten, sowie durch die oben beschriebene Trennung in "Männer- und Frauenarbeiten". Erleichtert wurde den Jesuiten diese das traditionelle Rollenverhalten verändernde Sozialisationsarbeit dadurch, daß die Guarany keine Erziehung im heutigen (d.h. schulischen) Sinne kannten.

Etwas anderes noch bewirkten die hier mit Eifer ansetzenden Europäer: Die von ihnen erzogenen Indianer fühlten sich der traditionellen Kultur überlegen und waren damit um so leichter zu beeinflussen.

Die zwei wichtigsten Absicherungen ihrer Führung sollen hier genannt werden: Zum einen war es die charismatische Überhöhung der Patres. Durch die räumliche und soziale Trennung (sie wohnten in einiger Entfernung von den Indianern und hatten kaum direkten Kontakt mit ihnen) waren sie in ihrer Führungsrolle kaum angreifbar. Zum anderen nutzten sie die Ohrenbeichte zur direkten Einflußnahme aus.

Kirchliches Leben in den Reduktionen

Der einzige Zweck des Menschen ist es nach jesuitischer Auffassung, daß er Gott lobe und diene, ihm Ehrfurcht erweise, damit seine Seele gerettet werde. Zu diesem Zweck sollten die Guarany bekehrt werden.

Wie konnte dies erreicht werden? Christliche Worte allein genügten nicht! Als einzig gangbar erwies sich der materielle Weg. Das Christentum hatte sich als die Religion zu beweisen, die auch für das irdische Glück des Menschen förderlich sei. Diesen Beweis zu führen galt letztendlich die Arbeit der Compania de Jésus.

Das Primat der wirtschaftlichen Entwicklung führte aber keineswegs zu einer Vernachlässigung der Religion. Zwar störte es die Jesuiten nicht, daß die Guarany den christlichen Gott unter dem Namen ihres heidnischen Schöpfergottes "Tupa" verehrten (9). Sie achteten aber sehr genau darauf, daß nur der Name übernommen wurde.

Dadurch, daß der gesamte Arbeitstag in religiöse Zeremonien eingebettet war, die jedoch nicht bloße Pflichterfüllung waren, sondern auch der Abwechselung dienten, war das Christentum den Indianern ständig präsent. Die Gottesdienste wurden an Sonn- und Feiertagen mit großem Pomp zelebriert. Eine ausgesprochen hochentwickelte Kirchenmusik (natürlich europäischer Herkunft) diente den Neuchristen ebenfalls zur Abwechselung. (10)

Beurteilung und Schluß

Die neuere Literatur ist sich weitgehend darüber einig, daß der Begriff "Jesuitenstaat" in der Gerüchteküche entstanden ist, vor allem dazu angelegt, die sowieso schon geschwächte Position der Jesuiten im Europa des 18. Jh. noch weiter zu untergraben. In Wirklichkeit handelt es sich beim "Jesuitenstaat" um zum Schluß 30 von Jesuiten geleitete Missionsdörfer von Guarany-Indianern, die zwar der Kontrolle der lokalen Behörden (Siedler und Kirche) entzogen, als Missionsschutzgebiete aber dem König von Spanien direkt verantwortlich waren.

Die neuere Literatur ist sich auch darin einig, daß die Missionsdörfer wichtig waren zum Schutz der Guarany-Bevölkerung vor den spanischen Siedlern. Über Zweck und Hintergründe der Missionsgründungen gehen die Auffassungen allerdings weit auseinander: Sie reichen vom blauäugigen Akzeptieren der ausschließlich christlichreligiösen Zielsetzung (Böhmer) über die Auffassung, die jesuitische Mission sei ein Lehrbeispiel für gelungene Entwicklungshilfe (Conzelmann) bis hin zur Beschreibung der Missionsgründungen als Kolonisation mit anderen Mitteln (Faßbinder, Otruba, Prien u.a.) bzw. als Quelle direkter jesuitischer Bereicherung (Kautsky).

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte: Es gab eine hochstehende Kolonialethik, die Freiheit und Menschenwürde der Ureinwohner Amerikas anerkannte, es gab auch Gesetze, mit denen die Versklavung der Indios verboten wurde; in der Praxis allerdings kam man den wirtschaftlichen Interessen der Siedler entgegen, indem man unmenschliche Ausbeutung, Zwangsarbeit in, großen Stil zu erlaubten Erziehungs- und Missionsaktivitäten erklärte. Amtskirche und Ordensklerus halfen nur, diese Herrschaft der Weißen zu stabilisieren.

Anders die Patres der Gesellschaft Jesu. Sie gehörten für die Indianer nicht zu den Eroberern und Kolonisten. Das Christentum, das sie brachten, war nicht deren Religion. Jesuitisches Ziel war auch die Befriedung und Evangelisation der Indios. Mittel hierzu war aber nicht eine kultische, jenseitsorientierte Religion, die bestehende Ungerechtigkeiten rechtfertigen und ihrer Aufrechterhaltung dienen sollte. Zum einen nahmen die Jesuiten die kolonial-ethische Diskussion ernster, zum anderen hatten sie Zwang und Unterdrückung als weitgehend ungeeignet erkannt, um ihr weiteres Ziel der "kulturellen Höherführung" der Indios zu verfolgen.

Sich den Jesuiten anbietendes Mittel war die Ansiedlung der Guarany in festen Dörfern (11)>. In geschickter Gleichsetzung der jeweiligen Religionen mit bestimmten Kulturformen versuchten sie den Indianern die Überlegenheit des christlichen Gottes über die heidnischen Götter zu beweisen, indem sie zeigten, daß es besser für das irdische Wohlergehen der Menschen sorgte. Unter Einbeziehung der Jahrhunderte alten Lebensgewohnheiten der Guarany errichteten die Jesuiten ein auf Agrarkollektivismus und Gemeinschaftseigentum beruhendes Gemeinwesen, dem sie sich allerdings als Vertreter des überlegenen Gottes und damit unangreifbar voranstellten.

Während sich die Jesuiten mit dem Wirtschaftsverhalten der Indianer schnell abfanden und entsprechende organisatorische Vorkehrungen trafen, bekämpften sie deren ursprüngliche Moral auf das Erbittertste. Sie bemühten sich allerdings, die kulturelle Identität der Guarany nicht ersatzlos zu zerstören, sondern ein neues, christliches Self-Reliance anzubieten. Ihre rassische Überheblichkeit, das abendländische Weltbild und die eigene Studienordnung verstellten den Jesuiten allerdings den Weg, die Indianer für eigenverantwortliche Tätigkeiten heranzubilden. Zu einer selbständigen Weiterführung der neuen Lebensform oder gar einer Abwehr der einsetzenden Ausbeutung durch die Nachfolger der Jesuiten waren sie jedenfalls, wie die Geschichte beweist, kaum fähig.

Schluß

Die Jesuiten trugen das ihre zur spanischen Kolonisation bei. Äußerungen wie die Phillip IV, die Monarchie würde den Jesuiten-Missionaren mehr Reiche verdanken als ihren Waffen, zeigen, daß der Orden schon damals als Mittel staatlicher Machtausweitung begriffen wurde. Ebenso läßt die Tatsache, daß die Patres die Indianer nicht nur als billige Arbeitskräfte betrachteten, sondern sie zu gleichberechtigten Christen und Bürgern erziehen wollten, wie folgt formulieren: Die Indianer wurden zu marginalisierten, europäisierten, ihrer ursprünglichen Kultur und Geschichte entfremdeten Spaniern erzogen.


Anmerkungen:

(1) Über das Vorbild der von den Jesuiten entwickelten "kommunistischen" Gesellschaftsordnung ist viel spekuliert worden. Die Vermutungen reichen von "Platos Republik" (Montesquieu) über die "Wirtschaftsverfassung der Urkirche" und "Morus Utopia" bis hin zum Vergleich mit der militärischen Organisation und Disziplin des Ordens. Am wahrscheinlichsten erscheint mir als Modell der sozialistische Inkastaat: Die ersten spanischen Jesuiten kamen aus Peru nach Paraguay und hatten dort ihre ersten Erfahrungen gesammelt. Sie hatten die Effektivität des dortigen Agrarkollektivismus und Staatssozialismus, aber auch des Kulturimperialismus der Inkas auf die unterworfenen Stämme feststellen können.

(2) Höffner (Kolonisation und Evangelium) zitiert eine Quelle aus damaliger Zeit, nach der Häretiker vor allem deshalb der Inquisition übergehen wurden, weil ohne Glaubenseinheit der Reichsfrieden nicht erhalten werden könne.

(3) Für die spanische Kolonisation geradezu kennzeichnend war die sexuelle Ausbeutung; einer Indianerin Kinder zu machen galt als billigste Art, sich mit weiteren Arbeitskräften zu versorgen.

(4) Wittfogel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß sich mit der konsequenten Ausgestaltung und Neuerschließung einer neuen Nahrungsmittelquelle die soziale Stellung der Frau erheblich bessert

(5) Sowohl England als auch Portugal erhofften sich von hier aus Möglichkeiten, die Handelsschranken des spanischen Kolonialreichs zu durchbrechen. Die Jesuitischen Reduktionen, waren ihnen dabei besonders im Weg, da Sie die Grenze besonders strikt für Ausländer verschlossen.

(6) Ich halte es für erwähnenswert (wenn gleich Ausnahme), daß sich einige ehemalige Reduktionsbewohner nach Vertreibung der Jesuiten in unwegsamen Gebieten nach altem Vorbild reorganisierten.

(7) Diese Methode der Jesuiten wird allgemein als Akkomodation bezeichnet.

(8) Engels weist in "Der Ursprung der Familie" auf den unmittelbaren Zusammenhang von Privateigentum an Grund und Boden und der monogamen Familie mit der in ihr vorherrschenden Sonderstellung des Mannes hin.

(9) Nur aus der mittelalterlichen Verkrustung der übrigen katholischen Kirche ist die Aufregung über dieses Verhalten der Jesuiten zu erklären, wurde doch schon bei der Germanenmission genauso verfahren.

(10) Die Darstellung Lafargues, der wöchentliche Ruhetag sei besonders langweilig gestaltet worden, um den Indianern die Arbeit als Zerstreuung erscheinen zu lassen, scheint mir einer ernsthaften Überprüfung nicht standzuhalten.

(11) Folgende Gründe mögen sie dazu bewegt haben:
- Jäger und Halbnomaden können sich Missionsversuchen durch einfachen Standortwechsel leicht entziehen.
- Bauern sind i.d.R. weniger kriegerisch als Jäger.
- Nur eine Kultur, deren fester Bestandteil kontinuierliche Arbeit war, galt Europäern als vollwertig.


Literaturverzeichnis:

Blätter des iz3w Nr. 62, S. 6 - 25, Freiburg 1977
Boehmer, Heinrich: Die Jesuiten, Stuttgart 1957
Conzelmann, Paulwater: Wirtschaftswachstum und -entwicklung im Jesuitenstaat von Paraguay (Diss.), Köln 1958
Faßbinder, Maria: Der "Jesuitenstaat" in Paraguay, Halle 1926
Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Lateinamerikas, Wuppertal 1978
Höffner, Joseph: Kolonisation und Evangelium, Trier 1969 (2. Aufl. von Christentum und Menschenwürde, Trier 1947)
Konetzke, Richard: Zur Geschichte der Jesuitenreduktion in Paraguay, Wiesbaden 1960
Lafargue, Paul 1895: Der Jesuitenstaat in Paraguay; in: Kautsky-Lafargue (Ed.): Vorläufer des neueren Sozialismus, Berlin, Stuttgart 1922
Münzel, Mark (Ed.): Die indianische Verweigerung, Reinbek 1978
Otruba, Gustav: Der Jesuitenstaat in Paraguay, Wien 1962
Paracuaria - Rettung des Erbes aus dem Heiligen Experiment, Informationsschrift der Initiative zur Erhaltung der Kulturgüter aus den Jesuitenreduktionen, Nürnberg 1977
Pogrom Nr. 62/63: Die frohe Botschaft unserer Zivilisation, Göttingen, Wien 1979
Prien, Hans-Jürgen: Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978
Specker, Johann, SMB: Die Missionsmethode in Spanisch-Amerika im 16. Jh.; in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Suppl. IV, 1953
Wittfogel, Karl August: Die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte; in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 67, H. 5, Tübingen 1932


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