Islam, Islamismus - Totalitarismus des 21. Jahrhunderts?

Zeitgenössische Gedanken zu einem internationalen und nationalen Problem

Von Ralph Giordano (Tachles, 06.09.2002)

Das Schreckensdatum des 11. September, dessen einjähriges Vorfeld wir betreten und das zu einer erdumspannenden Furchtverbreitung von perversen Dimensionen geführt hat, wirft drei grosse, miteinander eng verbundene Fragen auf:

"Zu welcher Bedrohung kann der bewaffnete Arm des islamischen Fundamentalismus für eine stabile Weltordnung werden?" - "Wie geht die offene demokratische, die liberale Gesellschaft mit dem Anschlag auf ihre Freiheit um?" - und, eingekreister: "Wie sieht es damit aus in Ländern, die starke muslimische Minderheiten beherbergen - zum Beispiel die Bundesrepublik?"

Bei einem eher stichwortartigen Antwortversuch geht der Autor davon aus, dass in New York, Washington und Pennsylvania nicht etwa eine Variante des internationalen, sondern die Formel eines spezifisch islamistischen Terrorismus praktiziert worden ist - Zerstörung als blosser Selbstzweck! Und das unter Alibiberufungen auf den Nahostkonflikt und die Nöte der so genannten Dritten Welt. Seine Motive: historisch lang aufgestaute Akkumulationen von Hass, Neid, Rache, Missgunst und Minderwertigkeitsgefühlen, die rational nicht gemessen werden können. Genau also das, was sie so schwer bekämpfbar macht. Diese Auseinandersetzung wird bestimmt von der desolaten Wirklichkeit einer in sich tief zerrissenen islamischen Welt, deren Aggregatszustand von Marokko bis Indonesien die grössten Anpassungsschwierigkeiten an die Moderne aufweist.

Mit welchen Problemen das eingeläutete dritte Jahrtausend auch immer konfrontiert werden wird - die Titelfrage "Islam, Islamismus - Totalitarismus des 21. Jahrhunderts?" dürfte ganz gewiss zu den zentralen zählen. Es wäre deshalb leichtfertig, sie als blosse Schreckversion abzutun. Nicht nur der westlichen Zentralmacht, den USA, wird die arabisch-islamische Welt innen- und aussenpolitisch schwer zu schaffen machen, sondern Europa nicht minder. Doch wo immer auf dem Alten Kontinent der Konflikt auch ausgetragen wird, in Deutschland steht er unter einem besonderen Vorzeichen: dem langen Schatten, der immer noch von den Jahren 1933-1945 her auf seine Geschichte fällt. Eine lastende Kontinuität also, mit Eruptionen aus dem Epizentrum des "Dritten Reiches" auch mehr als eine halbes Jahrhundert nach seinem Untergang noch, Vibrationen, von denen (ich bin immer geneigter zu sagen: ungerechterweise) Generationen erreicht werden, die als Nachgeborene zwar in der Kette geschichtlicher Verantwortung stehen, an dem Zivilisationsbruch des SS- und Holocauststaates aber selbstverständlich völlig schuldfrei sind. Dennoch schlagen sich auch die Enkelinnen und Enkel der Tätergenerationen noch mit einem inzwischen zwar abgeschwächten, doch immer noch spürbaren Schulddruck herum.

Falsche Toleranz

Eine ihrer grossen Aufgaben wird darin bestehen, im Kampf um die offene Gesellschaft und deren Erhaltung ein unerhört wertvolles Gut zu wahren, oder es wohl überhaupt erst zu erwerben: die Freiheit der Kritik! Wie schwierig das ist, hat sich erst jüngst wieder an jener oberflächlich und ungenau als "Möllemann-Affäre" titulierten öffentlichen Diskussion gezeigt. Was auch immer die aktuelle Auslösung gewesen ist - Kulisse und Resonanzboden der "Affäre" war der bis in unsere Gegenwart erhalten gebliebene Schulddruck. Vor dieser dräuenden Kulisse gibt es in einem Deutschland, das bekanntlich keineswegs frei ist von Fremdenfeindlichkeit, eine tiefe Scheu, offen und ehrlich über bestimmte Probleme zu sprechen - auch aus Furcht, bei Kritik in die rechtsextreme, neonazistische Ecke gestellt zu werden. Und das beschränkt sich eben nicht nur auf das Thema "Deutsche und Juden", "Deutschland und Israel", es gilt auch für "Deutsche und Muslime", "Deutschland und Islam".
Dabei zeigen sich zwei Gesichter: ein explosives, das sich in Fremdenfeindschaft, Gewalt und Rassismus äussert (bekanntlich Gegenstand publizistischer Dauerbehandlung aus gegebenem Anlass), und ein implosives, weit verborgener, ja geradezu verschämt daherkommendes fast ohne öffentlichen Diskurs. Sein Codewort: falsche Toleranz

Beispiel Justiz

Bekanntlich sind, siehe deutsches Grundgesetz Artikel 3, alle Menschen gleich, auch vor den Schranken der Gerichte - strafmündige islamische Jugendliche aber offenbar gleicher. Es stimmt etwas nicht, wenn sie nach Dutzenden und mehr Delikten (bei Nichtmündigen gar bis in die Hunderte gehend) entweder gar nicht oder weit milder verurteilt werden als deutsche Altersgenossen bei analoger Kriminalität. Diese Feststellung ist keine Missachtung berechtigter und notwendiger Resozialisierungsanstrengungen, sie kehrt sich nur gegen angreifbare Begründungen. Etwa wenn Richter die justizielle Geduld hinter vorgehaltener Hand eben damit zu rechtfertigen suchen, "ansonsten in die falsche Ecke" gestellt zu werden. Was hier sichtbar wird, ist eine geradezu bestürzende innere und äussere Insouveränität als Geschichtserbe.

Beispiel Sicherheitspolitik

Eine Szene, die ich nie vergessen werde: Oberlandsgericht Düsseldorf, 6. Strafsenat, Verhandlung gegen der selbsternannten "Kalifen von Köln", Muhamet Metin Kaplan, angeklagt und verurteilt wegen Mordanstiftung an einem Nebenbuhler seiner streng nach aussen abgeschirmten Sekte. Plötzlich, angesichts endloser Ermittlungsdefizite der Sicherheitsorgane, ein förmlicher Zornesausbruch des Vorsitzenden "gegen lasches und überängstliches Vorgehen, ja wehrloses Wegschauen von Polizei, Verfassungsschutz und Politik"! Man war richtig erschrocken - einen Rundumschlag wie diesen jedenfalls hatte ich aus deutschem Richtermund noch nie vernommen.
Vernachlässigung gesetzlicher Pflichten gegenüber Hochverdächtigen, folgenlose Beschlagnahme zu Jihad, Hamas und al-Qaida - ein beliebig fortsetzbarer Katalog, der schaudernd fragen lässt, was diese legislative und exekutive "Vorsicht" dazu beigetragen haben mag, dass ausgerechnet die Bundesrepublik zum "Parkplatz" jener "Schläfer" wurde, die dann mitten unter uns zu ihrer Todestour nach Übersee erwachten und dort Tausende von Menschen ermordeten.

Beispiel islamische Parallelgesellschaften

Da wird es skandalös. Anders kann die Nachsicht gegenüber islamistisch-militanten und nach aussen fest abgeschotteten Institutionen nicht bezeichnet werden. Obwohl bekannt ist, dass ihre Leiter und Anhänger von einem islamischen Europa träumen und ihre Moscheevereine als dessen Speerspitze verstehen. Dort lernen junge Moslems der zweiten Generation nicht etwa, wie Grundgesetz, Demokratie und Islam integrativ in Übereinstimmung gebracht werden können. Vielmehr werden den Schülern die im Eigenverlag erscheinenden und ins Deutsche übersetzten Schriften von Sayyid Qutb vorgelegt, dem Vater des islamischen Fundamentalismus, und von Yusuf al-Qaradawi, dem Hüter seiner Traditionen. Die islamischen Parallelgesellschaften missbrauchen die offene Gesellschaft als Instrument für ihre Bewegungsfreiheit, und das in eindeutiger Stossrichtung gegen die Freiheiten der liberalen Demokratie. Aus dieser Ecke wird ständig gewarnt vor einem "Feindbild Islam", nie aber vor seinem Terrorismus. Dagegen wird ständig die These von der Opfer- und Verfolgtenrolle der Islam-Diaspora beschworen, eine wahre Kultur des Selbstmitleids, das in starkem Gegensatz zu der offensiven Grundhaltung seiner Verkünder steht. In Deutschland, wo bereits eine Fülle von islamischen Parallelgesellschaften existiert, sammelt sich mithin ein Aktivierungspotential, dessen mobilisierbare Energien nur schwer einschätzbar sind. Dagegen hätte längst konsequent durchgegriffen werden müssen. So begrüssenswert deshalb das jüngst erlassene Verbot der Hamas unterstützenden "Al Aqsa e.V." in Aachen durch das Innenministerium Otto Schilys auch ist - es kann nur ein Anfang gewesen sein. Hier tickt eine gefährliche Zeitbombe. Mit implosiven Reaktionen jedenfalls ist sie nicht zu entschärfen.

"Interreligiöser Dialog" zwischen Christen und Moslems

Da nun mutiert die falsche Toleranz geradezu ins Duckmäuserische - man muss das selbst erlebt haben! Die Atembeklemmung der christlichen Seite, schon beim ersten islamkritischen Laut die Zeit der Kreuzzüge um die Ohren geschlagen zu bekommen, ist physisch greifbar. Dass der Islam, neben glänzenden Kulturepochen, auch auf eine jahrhundertlange, sterile und äusserst autoritäre Okkupationsgeschichte zurückblicken kann, scheint deutscherseits nicht in Erinnerung zu sein. Der "Dialog" ist vor allem gekennzeichnet durch das, was unerwähnt bleibt. So etwa die heutige Verfolgung von Christen in islamischen Ländern wie Ägypten, dem Sudan oder Indonesien. Vollends scheint es den Christen die Sprache zu verschlagen, wenn es um die Rolle der Frau in islamischen Ländern geht. Niemand wagt dann darauf hinzuweisen, dass, zum Beispiel, in Saudi-Arabien Frauen misshandelt und bestraft werden, nur weil sie eine Halskette trugen, oder Religionsmilizen Frauen verprügelten, weil ihre Fussknöchel unter dem Tschador hervorlugten. Eisiges Schweigen, als ich bei einem dieser "Dialoge" fragte, ob nicht nur Frauen, sondern auch Männer bei Ehebruch gesteinigt worden seien, oder ob Handabhacken bei Diebstahl oder Todesstrafe für Homosexuelle keine Bestandteile islamischer Jurisdiktion auf der Grundlage der Scharia seien. Irgendeine Unterstützung von christlicher Seite habe ich nicht erhalten, und auch die islamischerseits schmallippig abgepresste Äußerung, dass "solche Methoden" nicht in allen moslemischen Ländern praktiziert würden, konnte mich nicht trösten. Hatten sich doch unheimlicherweise gerade zur gleichen Zeit, Anfang April 2002, die Vertreter der islamischen Staaten auf der Jahreskonferenz der UNO-Menschenrechtskommission in Genf jegliche Kritik an der Scharia verboten - und das pauschal. Die christlicherseits selbstverordnete Defensive im "interreligiösen Dialog" ist nur ein weiteres gravierendes Indiz für die Schwierigkeit, den erschreckenderweise weit verbreiteten Panzer falscher Toleranz zu durchstossen, um zu selbstbewussterer Kritik zu gelangen. Es mag für diesen unbefriedigenden Status quo mehrere Gründe geben, nicht nur den Schulddruck aus der Nazizeit. Auf jeden Fall aber bedeuten seine implosiven Reaktionen ein öffentlich viel zu wenig diskutiertes Problem - und das in scharfem Gegensatz zur allgemeinen Aufmerksamkeit, die die explosiven, die sichtbar gewalttätigen erregen. Dabei schwelt hier eine keineswegs weniger gefährliche Lunte.

Ich habe es, zugegeben, leichter, kritische Töne wie die obigen zu äussern, da ich kraft meiner Biographie nicht unter der beengenden Mitgift jenes Drucks stehe oder unter den Verdacht von Xenophobie falle. Meine Legitimation dazu aber beziehe ich auch daraus, dass ich keine Geschichte kritischer betrachte als die des Landes, in dem ich aufgewachsen bin und lebe, also Deutschland - was mit meinem Werk unschwer bezeugt werden kann. Mit der hier vorliegenden Arbeit bin ich dabei, mir etwas von der Seele zu schreiben, was mich einem späten Stadium meines Lebens mehr und mehr das Fürchten lehrt: Die Rolle des Islam und des Islamismus in der geschichtlichen Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft (nachdem mich das Christentum fast mein ganzes Dasein lang das Fürchten gelehrt hat). Dabei nenne ich also Islam und Islamismus in einem Atemzug, mir wohl bewusst, dass es auch andere Stimmen gibt. Aber selbst wenn sie recht hätten, bin ich davon überzeugt, dass beide im Sinne des Titels und einer drei Grundfragen zu den grossen Problemen der vor uns liegenden Jahrzehnte auflaufen werden - international und national.

Standortbestimmung des Chronisten

Ohne den langen historischen Sündenkatalog ihrer Ursprungstaaten etwa zu ignorieren, trete ich hier vorbehaltlos ein für das, was man "die westlichen Werte" zu nennen pflegt. Womit die Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen Englands, Frankreichs und der USA gemeint sind - und natürlich ihre Fortschreibung bis in unsere Gegenwart (denn die egalitären Massengesellschaften von heute waren sie keineswegs von Anfang an). Wovon ich, mit der Ouvertüre der Renaissance und Aufklärung, spreche, ist jene säkularisierte Kultur, in der Kritik, Selbstkritik, Toleranz, Subversion, Pluralismus, Menschenrechte entscheidende Triebkräfte sind. Etwas Kostbares also, das, wie alles Kostbare, ständig bedroht war und ist (und oft genug auch durch den gleichen Westen).

Der jahrelang von der islamischen Fatwa verfolgte indische Schriftsteller Salman Rushdie hat diese Werte einmal bewusst flapsig, und deshalb umso treffender, so charakterisiert: "Küssen in der Öffentlichkeit, Schinkensandwiches, offener Streit, scharfe Klamotten, Kino, Musik, Gedankenfreiheit; Schönheit, Liebe." Nicht zu vergessen, sei von mir hinzugefügt: dass ich hier immer angstfrei schreiben und veröffentlichen konnte, was ich mitteilen und sagen wollte, auch wenn es sich, wie meist, gegen herrschende Ideen richtete. Meine Ausführungen gehen also davon aus, dass von allen Staatsübeln in der Menschheitsgeschichte die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat, das kleinste ist, und deshalb ein legitimes Messmodel. Es hängt heute als allgemeines Emblem über der Weltpolitik und den Einrichtungen der Völkergemeinschaft. Ein Zufall ist das nicht - so fern und schwierig seine Verwirklichung auch sein mag.

Ohne religiöse Gefühle verletzen zu wollen, sei es dennoch eingestanden: Ich halte den Islam ebenso wenig für einen genuinen Toleranzträger wie das Christentum - beider Schriften sind voll von Krieg und Kriegsgeschrei. Nicht anders der Koran, in dem der Begriff Jihad, Heiliger Krieg, an insgesamt 32 Stellen auftaucht, gut dreissig davon in militärischem Sinn bewaffneter Expansion, und wo von Bekehrung oder gar Ausrottung der "Ungläubigen" die Rede ist. Was ich hier auszudrücken versuche, sind meine prinzipiellen Zweifel an der Friedensfertigkeit und -willigkeit beider Religionen, und zwar von ihrer Natur her, da sich jede letztlich im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit wähnt (was zwar auch auf die mosaische Lehre zutrifft, dies jedoch ohne die weltweite Apokalypse der christlichen und islamischen "Expansions- und Missionsgeschichte", denen an Gewalttätigkeit nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann). In der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Geschichte ist das Christentum in den offenen Gesellschaften trotz stark retardierender Kräfte allerdings ungleich weiter vorangeschritten als der Islam. Dieser Prozess steht ihm noch bevor, und die Zukunft wird weit über die islamische Welt und unsere Gegenwart hinaus von ihm mitbestimmt werden.

Das Kopftuch

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Wort über das Symbol des islamischen Fundamentalismus verlieren, also über das Kopftuch - und das eigentlich seit langem schon. Es stört mich nicht, dass die jugendliche Angestellte in der Apotheke nebenan es trägt, eine konvertierte Deutsche übrigens. Was mich daran stört, und zwar generell, ist seine Motivation. Denn die lautet bekanntlich: Eine Frau solle ihr Haar verdecken, um nicht die männliche Begierde zu entfachen. Genau das halte ich schlicht für sexistisch, mehr noch - für unsittlich. Wieso? Erstens: Welches Bild entwirft die Motivation des Kopftuches vom männlichen Geschlecht? Doch kein anderes, als wären (zunächst einmal muslimische) Männer alle potentielle Lüstlinge und Vergewaltiger dort, wo es möglich wäre - weshalb Mütter, Frauen und Töchter also vor ihnen geschützt werden müssen. Da nun aber alle von ihnen ja auch Väter, Brüder oder Ehemänner sind, so sind doch die, vor denen sie ihre Mütter, Frauen und Töchter schützen wollen, ebenfalls Väter, Brüder und Ehemänner. Also taucht eine zweite Frage auf, nämlich: Wenn sie alle jeweils Beschützer sein wollen - wo und wer sind dann die potentiellen Vergewaltiger, vor denen die weiblichen Reize versteckt werden müssen? Eine seltsame Personalunion von gleichzeitigen Beschützern und Vergewaltigern im Zeichen des Kopftuchs - und das als institutives Element einer Weltreligion.

Wer da lacht, sei gewarnt - denn natürlich ist das kein bisschen zum Scherzen. Kann man sich denn einen grösseren Gegensatz denken als den zwischen der angeblichen Beschützerpose und der tatsächlichen Rolle, die den Frauen in der Kopftuch-, Burqa- und Tschadorgesellschaft zugewiesen wird? Auf welchen Sexualpathologien fusst diese ganze Verhüllungsgesetzgebung aus dem ersten Jahr- hundert muslimischer Zeitrechnung? Nicht, dass mir die "Von-Kopf-bis-Fuss-Verhüllungen" im Jerusalemer Viertel Mea Shearim etwa sympathisch wären - aber eines weiss ich: gesteinigt wird dahinter nicht. Wer dagegen erinnert sich nicht noch an jene schwangere Muslima aus Nigerien, die von ihrem Bruder angezeigt wurde, weil ihre Regelblutung ausblieb, sie aber unverheiratet war, sodass ihr, obwohl vergewaltigt, der Tod durch Steinigung drohte? Der Fall ging erinnerlicherweise durch die Weltpresse, und nur deshalb, bin ich mir sicher, blieb dieser Frau ein grauenhaftes Ende erspart - bis auf den Kopf eingegraben und dann mit Steinen beworfen zu werden. Wohl bemerkt mit nicht allzu grossen Steinen, weil so die unsägliche Tortour zum Gaudi der Exekutanten verlängert wird.

Das erinnert mich übrigens an die Brennorgien der christlichen Inquisition, die dadurch verlangsamt wurden, dass der um das Opfer aufgeschichtete Holzstoss vorher genässt worden war. Auf diese Weise wurde zum Beispiel der tschechische Kirchenreformer Jan Hus 1415 hingerichtet. Man sieht, die Entsetzlichkeiten sind wahrlich nicht auf eine Religion beschränkt.

Nur setzt der Islam Teile davon fort, und es ist keineswegs allein der Fundamentalismus, der hier zu Werke geht, sondern die Scharia, das moslemische Sittengesetz. Seiner ganzen Anlage nach reduziert es den Reichtum wechselseitiger Beziehung zwischen den Geschlechtern im äusseren Umgang auf die Sexualität. Im Familiären mag es menschlicher, natürlicher, normaler vor sich gehen. Dennoch bleibt die bestürzende Wahrheit, dass die monotheistischen Religionen nie wirklich fertig geworden sind mit der Art und Weise, wie die Fortpflanzung hier auf Erden vom Himmel hoch geregelt worden ist.

Die Krise des Islams

Die Leserschaft wird bemerkt haben: Obwohl der Nahostkonflikt aktueller denn je ist, blieb er bisher unbemüht. Aber das nicht, weil er tabuisiert werden soll, sondern weil er, entgegen dem Augenschein, für das Thema nur eine begrenzte Bedeutung hat. Denn es zählt zu den Lebenslügen unserer Zeit, dass der gesamte arabisch-islamische Raum quasi an seinem Tropf hinge und längst befriedet wäre, wenn es den Palästinenserkonflikt nicht mehr gäbe - gerade, als wenn das soziale, politische und religiöse Leben des Islam zwischen Marrakesch und Bali davon bestimmt werde.

Mein Antwortversuch auf die Titelfrage "Islam, Islamismus - der Totalitarismus des 21. Jahrhunderts?" geht weit hinaus über den Nahostkonflikt. Denn obwohl derzeit so festgefahren wie nie zuvor, wird er trotzdem, in geschichtlichen Zeiten gedacht, seine Begrenzung finden. Die Krise des Islam aber wird einen weit längeren Atem haben. Zu ihrer Charakteristik kann ich mich der eigenen Stimme enthalten, da die schärfsten Kritiker, nicht nur des islamischen Fundamentalismus, sondern der islamischen Welt überhaupt, aus ihr selbst kommen. So etwa der 1945 geborene libanesische Abbas Baydoun, Feuilletonchef der Tageszeitung "As-Safir" in Beirut. Eine härtere Abrechnung namentlich mit den islamischen Intellektuellen und den jeweiligen Eliten habe ich aus nicht islamischem Mund nie gehört. Es ist eine in ihrer furchtlosen Offenheit befreiende (und derzeit wahrscheinlich nur im Libanon mögliche) Lektüre: Verurteilung des 11. September 2001 als Massenmord ohne Wenn und Aber. Ablehnung der gängigen Kollektivverurteilung des "Westens" und der Reduzierung seiner Werte auf die blosse Gier nach Erdölquellen. Dafür Charakteristik dieser "anderen Welt" als eine ethische und kulturelle Ordnung, die Minderheiten anerkennt, sich selbst historischer, politischer und wissenschaftlicher Kritik unterzieht und von innen her gegen religiöse Unfehlbarkeit aufgestanden ist. Wörtlich hört sich die interne Kritik des Abbas Bayoun so an:
"Wir hingegen haben allzu oft den Sieg der Einheit und Gleichmacherei über die Vielfalt und Meinungsverschiedenheit gebilligt. Wir haben geschwiegen, als grosse Minderheiten bei uns unterdrückt wurden, und nie die Verantwortung für tatsächliche Massenmorde übernommen. Allzu oft jubelten wir unseren echten und grossen Tyrannen zu, in der Erwartung, die versprochene Stunde der Rache am Westen bräche nun an. Heute scheint es, dass viele unsere Intellektuellen in ihrem Innern einen kleinen bin Laden grossziehen und neuerlich mit der historischen Rache um jeden Preis winken - selbst wenn es sich um die Zerstörung der Kultur, das Wegsperren von Frauen oder darum handelt, Afghanistan aus lauter verzweifelter Rachsucht den Kampfbombern eines George W. Bush auszuliefern."
Man lese das zweimal, und frage sich: Was sind Salman Rushdies "Satanische Verse" gegen diese Philippika eines selbstkritischen Muslim, dessen Urteil über und Mahnung an die eigene Welt so ausfällt:
"Womöglich beten jetzt viele bei uns darum, dass der Rassismus des Westens und die amerikanische Paranoia sich verstärken, denn auf diese Weise fänden wir eine neue Ausrede, nicht in den Spiegel zu sehen. Auf diese Weise könnten wir erneut in die Wahnvorstellung von der kollektiven Unterdrückung eintauchen, um uns den Anblick eines fürchterlichen Gesichts zu ersparen, des Gesichts eines anderen Islams, des Islams der Isolation und der willkürlichen Gewalt, der nach und nach die Oberhand gewinnt, und bald, während wir auf den Höhepunkt unserer Verblendung zusteuern, unser tatsächliches Gesicht geworden sein wird. Zweifellos sind Araber und Muslime ungerechter Behandlung ausgesetzt. Wenn wir aber nur dies sehen, so bedeutet das, dass wir vom anderen noch gar nichts gelernt haben." Ja!

Alibiberufung

In diesem Text sehen sich die Ingredienzien komprimiert, die, bei aller sonstigen Heterogenität der arabisch-islamischen Welt, weite Teile von ihr zu einem gefährlichen Pulverfass machen. Hier macht ein Muslim Schluss mit dem System dahinter: der bequemen Delegierung der Verantwortlichkeit für die endogenen, die eigenen, selbstverursachten Übel und Missstände an den Westen, an Europa, an das Erbe des Kolonialismus, den grossen Satan USA und den kleinen Satan Israel - nur nicht an sich selbst. In diesem Text wird die Unfähigkeit vergangenheitserstarrter Gesellschaften zur Selbstreflexion und Anpassung an die Moderne vorgeführt, mehr aber noch die durch das Versagen der eigenen Eliten verursachte Rückständigkeit. Kurz - es werden die eigentlichen Wurzeln jenes spezifisch islamistischen Terrorismus rubrifiziert, dessen pathologische Fusionen von Hass, Neid, Rache, Missgunst und Minderwertigkeitsgefühlen mit dem 11. September 2001 die destruktivste aller Schreckensformeln gefunden haben: Zerstörung als blosser Selbstzweck.

Die Mittel, die ihm in der modernen Welt bei geradezu unerschöpflichem Angebot zur Verfügung stehen, brauchen nicht nur zur einzigen, wohl aber zur äusserst wirksamen Bedrohung einer stabilen Weltordnung zu werden. Ich bestreite nicht die Verantwortung des Westens für viele Übel, Missstände und Schlimmeres jenseits der entwickelteren Regionen des Erdballs, käme aber dennoch keine Sekunde auf den Gedanken, dem blossen Selbstzweckterrorismus eines Osama bin Laden und seiner Anhängerschaft auch nur eine Silbe ihrer hehren Alibiberufungen abzunehmen.

Wenn es denn stimmen sollte, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen Islam und Islamismus gibt, dann sollte der Islam versuchen, möglichst bald die Oberhand zu gewinnen - und das gemeinsam mit dem "Westen". Wenn das nicht geschieht, könnte die Welt schon in naher Zukunft konfrontiert sein mit einer dem Islam entwachsenen Bewegung, die zum Totalitarismus des 21. Jahrhunderts werden könnte. Die Merkmale anhand historischer Vergleichsmöglichkeiten sind alarmierend genug: absolute Entgrenzung der Gewalt und ihre ebenso absolute Rechtfertigung; Ausrufung von Mord und Massenmord als revolutionäre Notwendigkeit (auch hier, wie stets, das "gute Gewissen" der Mörder gegenüber ihren Opfern); ein Feinbild von Menschen als Schädlingen auf Grund ihrer Rassen-, Klassen- und Religionszugehörigkeit. Kurz: die Instrumentalisierung und Politisierung des Islam für das offen erklärte Ergebnis, die Weltherrschaft des Islams durch "Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens und ihre Ersetzung durch islamische Herrschaft". Die entscheidende Frage ist: Welchen Anhang werden die Totalitarismusbestrebungen in der islamischen Welt finden? Ich glaube nicht daran, dass diese wahnsinnigen Fiktionen Wirklichkeit werden könnten. Aber auch über ihren Versuch schon könnte die Menschheit zuschanden werden, und nicht nur die islamische.

Integrationsbereitschaft

Keine Missverständnisse: dieser Artikel wird geschrieben in der Überzeugung des Autors, dass terroristische Gesinnungen und fundamentalistische Lebensweise auf die überwältigende Mehrheit der hier lebenden Muslime nicht zutreffen, sondern es sich bei ihnen, ob nun mit deutscher Nationalität oder nicht, um friedliebende Menschen handelt. Auch die mich in ihrem elementaren Befund durchaus beruhigende Tatsache, dass diese Mehrheit allen demoskopischen Erhebungen nach den Koran mit dem Grundgesetz für unvereinbar hält, bedeutet noch keinen Sturm auf die Bastionen der offenen demokratischen Gesellschaft. Nur muss klar sein - einzig akzeptierbares Ziel des islamischen Diaspora ist, bei Beibehaltung des religiösen Glaubens und der kulturellen Eigenart: Die Integration! Womit es bis dato nicht gut aussieht. Erreicht werden kann das Ziel nur durch die Bereitschaft der Islam-Diaspora selbst dazu, einerseits, und anderseits durch eine humangeprägte, aber dennoch prinzipientreue Zuwanderungs-, Migrations- und Asylgesetzgebung, die das Mögliche nicht unmöglich macht, den Primat der Eingliederung fördert und dem militanten Islamismus mit jener zivilen und legalistischen Energie entgegentritt, wie die Gefahr es erfordert. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

Epilog

Mein türkischer Freund an der Strassenecke Köln-Süd, Obst- und Gemüsehändler, der allmorgendlich wieder mit unverbrauchter Freude seine farbprallen Auslagen zelebriert, braucht keine falsche Toleranz. Und die immer noch vom Schatten Hitlers befallene Generation der Enkelinnen und Enkel braucht nicht zu fürchten, dass sie sich der Verantwortungskette nationaler Geschichte entzöge, wenn sie zu selbstbewusster Kritik gegenüber jedermann fände. Ohne seine Ursachen zu vergessen, sollte die Enkelgeneration den Schulddruck im Dienste der eigenen Identitätsfindung zu verarbeiten suchen. Die Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Islamismus wird dabei gewiss nicht die einzige, aber auch nicht die geringste sein. Das Geheimnis zwischenmenschlichen Verstehens wird ohnehin immer nur einen Namen tragen: Ehrlichkeit.


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heim zu Lügen haben schöne Beine