Im Dialog und über ihn hinaus

Zum 80. Geburtstag der Islamwissenschaftlerin
und Friedenspreisträgerin Annemarie Schimmel

von Hans-Peter Raddatz

(DIE WELT online, 6.4.2002)

Annemarie Schimmel hat die gesellschaftliche Diskussion über und den "Dialog" mit dem Islam erheblich beeinflusst, aber auch polarisiert. Das Epizentrum ihrer Langzeitwirkung liegt im Jahre 1995, als ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Diesem Akt war eine bundesweite Diskussion über ihr "Verständnis" für das Verdikt des iranischen Ayatollah Khomeini vorausgegangen, demzufolge jeder Muslim das Recht habe, den Schriftsteller Salman Rushdie zu töten. Auch die kritische Muslimin Taslima Nasrin, welche die Freiheitsrechte der Frau forderte und vor dem Zugriff puristischer Häscher nach Europa fliehen musste, wurde von Annemarie Schimmel harsch gerügt, die später indessen - unter dem Eindruck öffentlicher Proteste - ihre Parteinahme für die radikale Orthodoxie abschwächte.

Hingegen hieß es in der Begründung für die Vergabe des Friedenspreises: "Inmitten erschreckender Signale des religiösen Fanatismus versteht der Stiftungsrat die Auszeichnung Annemarie Schimmels als ein Zeichen für die Begegnung, nicht für die Konfrontation der Kulturen, als ein Zeichen für Duldung, Poesie und Denkkultur, welche die Formen des Andersseins achtet." In seiner Laudatio hob der damalige Bundespräsident Herzog Annemarie Schimmels Rolle als "Versöhnerin zwischen Feindbildern" und ihre immense Kenntnis der islamischen Mystik hervor, mit der sie den spirituellen Friedenswillen und kulturellen Reichtum der Religion des Islam einem breiteren Publikum näher gebracht habe.

Wie konnte es damals zu dieser Diskrepanz zwischen offizieller und öffentlicher Wahrnehmung kommen? Wer war Annemarie Schimmel eigentlich, warum wusste man bis dahin so wenig über sie? Wenn allerdings - wie vorliegend der Fall - ein ehemaliger Schüler eine solche Betrachtung anstellen soll, so ist er zu besonderer Sorgfalt aufgefordert, weil er zum einen der Lehrerin nicht wenig verdankt, zum anderen ihrer praktischen Wirkung nicht unkritisch gegenübersteht.

Annemarie Schimmel wird am 7. April 1922 in Erfurt als Tochter eines Beamten von erheblichem Einfluss geboren, der ihr - im Verein mit ihrer sprachlichen Hochbegabung - ein frühes Abitur 1938, eine schnelle Promotion 1941 und eine Anstellung im Außenamt der Nationalsozialisten ermöglicht. Uneinig sind sich die Chronisten über die Jahre nach dem Krieg, neigen jedoch einer Habilitation 1946 in Marburg zu, der Lehraufträge 1953 in Ankara, 1961 in Bonn und 1967 an der Harvard University in Cambridge/Mass. folgen.

Diese Jahre und die Folgezeit sind gekennzeichnet von einer immer länger werdenden Kette von Preisen, die auf einer ebenso anschwellenden Flut von Veröffentlichungen fußen. Mindestens 64 Publikationen beschäftigen sich fast ausschließlich mit islamischer Mystik und Dichtung und bestätigen die ganz außergewöhnliche Sprachgewalt "der Schimmel". Zwei auffallende Schwerpunkte schälen sich heraus: der türkische und persisch schreibende Liebesmystiker Djalal ad-Din Rumi (gest. 1273) und der indo-pakistanische Mystikphilosoph Muhammad Iqbal (gest. 1938). Beide kennzeichnet das für große Mystiker entscheidende Merkmal: das Streben nach der persönlichen Gotteserfahrung, der ultimativen Erleuchtung, die den Auserwählten, nicht der Masse, zuteil werden kann.

Ähnlich dem Goethe'schen "Stirb und Werde" sind es gerade die absolute und darum gelassene Erniedrigung, welche die Rückkehr zu Gott, und der "bewusste" Zerfall zu Staub, welcher das pantheistische Weiterleben in der Natur ermöglichen. So wird die fundamentale Dialektik zwischen weltlichen und himmlischen Bildern, zwischen sakralen und profanen Gedanken, zu einer "Leiter", die von der Liebe zum Menschen in die Liebe zu Gott führt, zur eigentlichen Existenzform des Mystikers.

So eindrucksvoll dieses Gedankengut und viele andere, reiche Denkfiguren der islamischen Mystik sind, so wenig repräsentativ sind sie für "den Islam", zu dem Annemarie Schimmel nach Aussage der westlichen Dialogeliten der Brückenschlag umfassend gelungen ist. Denn es ist gerade nicht die individuelle Gottsuche, die den Islam historisch formt, sondern die kollektive Bindung der Muslime an das Gesetz Allahs - Koran, Prophetentradition und das Modell von Medina, der Urgemeinde Muhammads. Sie setzen die Norm der umma, der Gemeinschaft des Islam, in unveränderbarer Härte, die den djihad gegen den Unglauben - nicht selten auch gegen die mystischen "Abweichler" - mit Verfolgung und Vernichtung führt.

In ihrem Hauptwerk, den "Mystischen Dimensionen des Islam", hebt die Professorin hervor, dass Friedrich Rückert, der begabte Dichter und Übersetzer, in seiner Teilübertragung des berühmten mathnawi von Rumi die letzte Zeile überging: "O lass mich nicht sein! Denn das Nichtsein ruft mit Orgeltönen aus: ?Zu ihm kehr'n wir zurück!'" Als Christ wusste Rückert um die Problematik dieses Satzes, er hatte Vorbehalte gegen die unbeschwerte Betrachtung des Nichtseins durch den Islam. Ebenso aber sah später auch Muhammad Iqbal im Teufel nicht nur den Geist des Bösen, sondern auch den Monotheisten, Intellektuellen und sogar den liebenden Gottsucher selbst, der sich in der mystischen Ambivalenz des Seins und Nichtseins und damit in der Gefahr der Ideologie verlor: "Diese Selbstmystifikation, dieser Nihilismus, die Suche nach Realität, wo keine ist, erscheint mir als physiologisches Symptom, als Zeichen der Dekadenz der muslimischen Welt." Bekanntlich mussten die Mystiker - ohnehin eine kleine Minderheit von vielleicht fünf Prozent im Gesamtislam - zurückweichen und neuen, politischen Kräften Platz machen, die auf Basis einer unverfälschten Religiosität nach dem Gesetz Allahs, den djihad, den Kampfgeist des Islam, wiederbeleben wollen, so wie einst schon Rumi die Verdienste des Kampfes "auf dem Wege Allahs" zu schätzen wusste: "Ich töte und ich lache!"

Nach eigenem Bekunden ist der Jubilarin Pakistan längst zur zweiten Heimat geworden, aber auch die Kontakte zu den Muslimbrüdern gestalten sich traditionell gut - wobei Annemarie Schimmels Mitgliedschaft im Zentralrat der Muslime eine hilfreiche Rolle spielt. Mit umso herzlicheren Wünschen ist Annemarie Schimmels Geburtstag am Sonntag zu begleiten, damit eine gute Gesundheit und die Erinnerung an den Realismus eines Mohammad Iqbal sie im Dialog mit den muslimischen Freunden stärken - im Sinne einer Integration, welche allen Muslimen in Deutschland demokratische Grundrechte wie die Religionsfreiheit und die Gleichstellung der Frauen glaubwürdig sichert.

Hans-Peter Raddatz ist Orientalist und Volkswirt. Er ist Ko-Autor der "Encyclopaedia of Islam". Zuletzt erschien sein Buch "Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft" (Herbig)


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