65 Jahre Hiroshima: Ein Gedenken ohne viele Gedanken

von ANGELA KÖHLER (Die Presse, 05.08.2010)

(mit Ergänzungen und Anmerkungen von N. Dikigoros)

In der nuklearen Höllenglut von Hiroshima hat Japan die Erinnerung an seinen eigenen Aggressionskrieg verbrannt. In Hiroshima ist die Trauer einer seltsamen Friedensvermarktung gewichen.

Tokio. An Hiroshima klebt das Etikett "Frieden". Schon in normalen Zeiten heißt in dieser westjapanischen Stadt fast alles, was Bedeutung hat, so: der Friedenspark, das Friedensmuseum und die Friedenskathedrale, zu der man über Friedensallee und Friedensbrücke gelangt. Sie schlagen die Friedensglocke, erfrischen sich am Friedensbrunnen und legen bunte Ketten aus Papierkranichen am Friedensmonument der Kinder ab.

Zum 65.Jahrestag des ersten Atombombenabwurfs der Geschichte - am 6. August 1945, 08.15 Uhr japanischer Zeit - wirkt die lebendige City noch mehr und eigentlich omnipräsent mit Frieden übergossen. Plakate, Leuchtschriften, Sprechchöre – schon am Vorabend des Gedenkens ist „Heiwa“ (Frieden) das Wort der Stunde.

Warum jedoch heißt ein Warenhaus „Frieden“, in dem es auch nichts anderes zu kaufen gibt als anderswo, v.a. keinen Frieden? Hiroshima hat ein Problem, wenn die weltbekannte Millionenmetropole nicht höllisch aufpasst, wird hier der Frieden zur Ware wie die Friedenskekse am Bahnhofskiosk.

Hilflose Appelle an Regierungen

Im Jahre 65 nach dem „grellen Blitz“ kommen wieder Heerscharen von klugen Köpfen nach Hiroshima, sagen dasselbe, weil es zum Thema Frieden nicht viel zu streiten gibt, schreiben hilflose Appelle an die Regierungen atomwaffenbesitzender Länder, wobei in diesem Jahr die notorisch renitente Führung Nordkoreas hinzukommt. Ärzte, Bürgermeister, Physiker und Historiker mahnen. Aber es wächst auch die Erkenntnis: Friedenstourismus schafft nicht eine einzige Atomrakete ab.

Die Opfer sterben langsam als Zeitzeugen aus. Sadae Kasaoka war 13 Jahre alt, als die Bombe detonierte. Heute steht sie oft einsam im „Peace Memorial Park“ und weiß selbst nicht genau, ob das der richtige Ort zum Erinnern ist. „Früher sah hier alles anders aus, keine Hochhäuser oder Autobahnen.“ Frau Kasaoka sucht verloren nach einem Symbol aus der Vergangenheit und findet die Moderne. Vielleicht merkt sie gar nicht, dass es eigentlich ein gutes Zeichen ist, dass sich ihre Heimatstadt und ganz Japan von diesem Stigma gelöst hat und – außer am 6.August – den Rest des Jahres dem Alltag nachgeht.

Vielleicht gibt es noch 30.000 Menschen, die diese atomare Katastrophe überlebt haben, vielleicht auch nur noch 20.000. Die meisten von ihnen reden nie oder selten über ihr Schicksal, berichten kaum von den Krebsleiden, den Albträumen oder den regelmäßigen Kopfschmerzanfällen. Die klare Mehrheit lebt zwar mit diesem harten Schicksal, aber sie will nach 65 Jahren kein saisonales Antikriegsdenkmal mehr sein.

Es ist nicht viel, was man heute noch in den Schulen von Hiroshima über die Tragödie vom 6.August weiß, wie sie zustande kam, dass Japan mit seinem Aggressionskrieg gegen einige Nachbarn und die USA selbst einen Teil der historischen Verantwortung trägt, und warum der Kampf gegen Atomwaffen auch jetzt noch wichtig ist. „Das Verständnis wird immer geringer“, konstatiert Setsuko Iwamoto, die seit 18 Jahren ehrenamtlich vor den Klassen über ihr persönliches Schicksal spricht. „Noch vor ein paar Jahren hatten wenigstens die meisten Lehrer direkte Erinnerungen an den Krieg“, sagt die 76-Jährige, im Gesicht und an den Armen von den Spuren der heißen Atomasche gezeichnet. „Heute lehren sie Zeitgeschichte so unpersönlich wie ein Computerprogramm.“

Anm. Dikigoros: An dieser Stelle hat Die Presse einen Absatz weg gelassen, der offenbar gegen ihr Verständnis von politischer Korrektheit verstößt, enthält er doch einen Hinweis auf die tatsächlichen Opferzahlen, von denen heute auf Betreiben der USA überall im Westen eine Null weg gestrichen wird; die Verfasserin hat Dikigoros diesen Absatz freundlicherweise zur Verfügung gestellt:

Natürlich gibt es an diesem Gedenktag auch bewegende persönliche Worte, die die Herrschenden aufrütteln und zur Vernunft bringen sollen. Es wird mit Sicherheit ein rührender Moment, wenn Hiroshimas Stadtoberhaupt Tadatoshi Akiba die Schriftrollen mit den Namen der Toten versenkt, die seit dem letzten Jahrestag hinzu kamen, etwa 4.000 sind es jedes Mal, über 250.000 insgesamt. Der Bürgermeister, gewählt auch, weil er ein bekennender Friedenskämpfer ist, wird mit Ban Ki Moon erstmals einen UN-Generalsekretär zum Jahrestag begrüßen. US-Präsident Obama will auch "eines Tages" nach Hiroshima kommen, aber, wie bisher jedes US-Staatoberhaupt, nicht am Atombombentag; in dieser Entscheidung liegt auch eine Symbolik.

Mission hat an Zugkraft verloren

Wie an jedem Jubiläum des Schreckens stellt sich auch 2010 die bange Frage: Ist Hiroshima wirklich eine Stadt des Friedens oder doch eher das weltweit anerkannte Zentrum für die Erkenntnis, wie schlimm Krieg sein kann? Trauer, Empörung und Pazifismus sollten eine neue Identität bilden – eine Mission, die aber über die Jahre an Zugkraft verloren hat. Die Antiatom- oder Friedenskonferenzen der Einheimischen finden auch 65 Jahre danach strikt getrennt in politischen Lagern statt. In Blöcken, die nicht einmal miteinander reden, weil sie kommunistische oder sozialdemokratische, grüne oder pazifistische Wurzeln haben.

Deshalb ist die japanische Friedensbewegung trotz Hiroshima und des zweiten Nuklearschlags am 9.August 1945 in Nagasaki immer schwach geblieben. Sie schwächelt im Jahr 65 nach den Bombenabwürfen sogar so sehr, dass über eine Änderung der Nachkriegsverfassung spekuliert werden darf, die im Artikel 9 Japan zum Verzicht auf Gewalt als politisches Mittel zur internationalen Konfliktlösung ultimativ verpflichtet.

Auch sonst hat sich in den vergangenen Jahren einiges im offiziell pazifistischen Selbstverständnis verändert: Japan hat - weitgehend passiv - am Irak-Krieg teilgenommen. Und es rüstet auf, weil China und Nordkorea dasselbe tun.


zurück zu Welchen Frieden bringt das Meer?

heim zu Reisen durch die Vergangenheit