Der "Kampf um Berlin" beginnt am 9. November 1926. An diesem Tag trifft der 29jährige Germanist und Parteifunktionär Joseph Goebbels, aus Elberfeld im Bergischen kommend, in der Reichshauptstadt ein. Der schmächtige junge Mann mit dem verwachsenen rechten Fuß hat eigens eine neue Kladde für seine täglichen Notizen angeschafft: "Mit dem alten Buch begann ich den eigentlichen Kampf im Gau Ruhr und beendete ihn damit. Mit diesem Buch beginne ich den Kampf um Berlin - wie wird das Ende sein?"
Das Ende kommt erst knapp 19 Jahre später: Am 1. Mai 1945 erschießt sich Goebbels, immer noch Gauleiter der NSDAP in Berlin, inzwischen aber zusätzlich Reichspropagandaminister, einer der mächtigsten Politiker des "Dritten Reiches" und für immerhin knapp 24 Stunden Reichskanzler, im Garten der Reichskanzlei. Bis fast zuletzt hielt er an seiner Gewohnheit fest, täglich Notizen zu machen oder (seit Sommer 1941) zu diktieren. Die letzten überlieferten Aufzeichnungen stammen vom 9. April 1945, der Rest dürfte im Führerbunker verloren gegangen sein.
Jetzt hat der K. G. Saur-Verlag, ohne jedes öffentliche Aufheben, die beiden letzten Textbände der gewaltigen Edition der Goebbels-Notizen ausgeliefert. Schon seit Anfang der achtziger Jahre hat Elke Fröhlich vom Münchner Institut für Zeitgeschichte an dieser Gesamtausgabe gearbeitet. Erstes Ergebnis war 1987 eine zu Recht scharf kritisierte Ausgabe "Sämtlicher Fragmente" aus den Jahren 1924 bis 1941, dann folgte 1993 bis 1996 mit Unterstützung des Staatlichen Russischen Archivdienstes eine weitgehend vollständige Ausgabe der getippten Diktate. Seit 1997 folgte eine Neuedition der handschriftlichen Aufzeichnungen in insgesamt 14 Teilen. Mit den Bänden für die Zeit Dezember 1925 bis Mai 1928 und Oktober 1932 bis März 1934 ist nun die zweite, nun wirklich praktisch komplette Edition von Goebbels handschriftlichen Aufzeichnungen vollendet.
Gerade der Band Dezember 1925 bis Mai 1928 ist für die Zeitgeschichte von großer Bedeutung, denn er umfaßt den Beginn seiner Tätigkeit als Berliner NSDAP-Chef - und just für diese Zeit lag bisher kein authentisches Material vor, sondern nur die propagandistisch gefärbte Version in Buchform, die Goebbels 1932 unter dem Titel "Der Kampf um Berlin. Der Anfang 1926/27" hatte erscheinen lassen.
Auch für die Zeit des zweiten neuen Bandes, die Phase der sogenannten Machtergreifung 1933/34, hatte er seine Aufzeichnungen überarbeitet als Buch vorgelegt, unter dem Titel "Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei". Aus
diesem Zeitraum waren aber immer schon einige Parallelüberlieferungen
bekannt, wenn auch längst nicht so viele wie jetzt.
Auch die nun abgeschlossene Textedition der Goebbels-Aufzeichnungen ist
nicht perfekt, wie Fröhlichs Konkurrent, der Berliner Historiker Bernd
Sösemann, betont. So gibt es, wahrscheinlich unvermeidlich angesichts
der schwer lesbaren Handschrift, immer wieder Transkriptionsfehler; ein
textkritischer Apparat fehlt zudem völlig. Vor allem aber sucht man in
den insgesamt 29 Bänden jeden Kommentar vergeblich.
Demnächst sollen zwei Bände Gesamtregister erscheinen, für die
angekündigten Erläuterungsbände aber gibt es noch keinen Termin, ebenso
fehlt eine wissenschaftlich fundierte Einleitung zum Gesamtwerk. Das
ist um so bedauerlicher, weil die Bearbeiter der einzelnen Bände ja
bereits während der Editionsarbeiten zwangsläufig Material für den
Kommentar gesammelt haben müssen. Davon ist jedoch bislang kein
einziges Wort publiziert worden, nicht einmal vorab als
Werkstattversion.
Ein weiterer, grundsätzlicher Fehler liegt in der Bezeichnung der
Goebbels-Notizen als "Tagebücher". Denn dieser Begriff suggeriert, es
handele sich um mindestens subjektiv ehrliche Aufzeichnungen. Schon auf
den ersten Blick aber wird deutlich, daß Goebbels von Beginn an
propagandistische Ziele mit den Notizen verband - allerdings mit
wechselnden Adressaten: Bis etwa 1929/30 dienen ihm die täglichen
Notizen offenbar zur Selbstvergewisserung und zur Stärkung seines
Selbstbewußtseins. Anders sind seine (die eigene Bedeutung völlig
überhöhenden) Aufzeichnungen beispielsweise vom Weimarer
NSDAP-Parteitag Anfang Juli 1926 oder vom Frühjahr 1928 nicht zu
deuten. Auch notiert er stets viel zu hohe Zahlen seiner Zuhörerschaft
und übertreibt die Wahrnehmung seiner Aktionen durch liberale
Zeitungen, in Goebbels' Worten die "Juden-Presse".
Als die NSDAP 1929 mit großen Stimmenzuwächsen bei mehreren
Landtagswahlen ihren Aufstieg zur stärksten Partei Deutschlands
beginnt, ändert sich zuerst unmerklich, dann immer deutlicher die
Stoßrichtung von Goebbels' Aufzeichnungen: Sie werden nun zu
Materialsammlungen für künftige Propagandatexte. Wahrscheinlich
geschieht das im Zusammenhang mit der Bearbeitung der frühen
Aufzeichnungen für sein Buch "Kampf um Berlin"; eine genaue Analyse
steht aber noch aus.
Auf jeden Fall hatte Goebbels selbst vor, seine Aufzeichnungen postum
publizieren zu lassen. 1936 notiert er: "Ich verkaufe Amann meine
Tagebücher. 20 Jahre nach meinem Tode zu veröffentlichen." Ausgerechnet
mit dem NSDAP-Verlagschef Max Amann, seinem Konkurrenten in der
Pressepolitik, schließt der Propagandaminister einen mit sofort 250 000
Reichsmark und danach jährlich 100 000 Reichsmark äußerst üppig
dotierten Vertrag.
Bis weit ins Jahr 1944 bleiben Goebbels' tägliche Diktate überwiegend
Vorarbeiten zu propagandistischen Zwecken. Erst in den letzten Monaten
des Krieges rückt in den häufig mehrere Dutzend Seiten langen
Transkripten wieder ein anderer Adressat in den Mittelpunkt: Goebbels
selbst, der sich angesichts der verheerenden Lage an allen Fronten
offenkundig selbst Mut zuspricht. "Tagebücher" im klassischen Sinne
waren diese Texte niemals.
Verworren wie die Textgestalt ist auch die Überlieferungsgeschichte der
Goebbels-Aufzeichnungen. So gibt es einerseits Papieroriginale, die
entweder im Sommer 1945 im zerstörten Regierungsviertel in Berlin
gefunden oder 1973 aus dem überschwemmten Inneren des Führerbunkers
geborgen wurden. Andererseits existieren Sicherheitskopien dieser
Aufzeichnungen aus der NS-Zeit auf Glasplatten; sie liegen in Moskau
und als Mikrofilme im Bundesarchiv. Vor allem die Moskauer Materialien
bildeten die Grundlage für die jetzt abgeschlossene Edition.
Trotz des noch fehlenden Kommentars, trotz der irreführenden Benennung
und mancher anderer Mängel ist die Bedeutung dieser Edition kaum zu
überschätzen. Elke Fröhlich hat ihr Projekt einmal großspurig das
"Urmeter" der NS-Forschung genannt; das trifft zwar nicht zu. Aber für
Zeithistoriker, die sich der Problematik der mehr als 15 000 Seiten
Text bewußt sind, ergeben sich große Möglichkeiten, Lücken zu
schließen.
So fehlt überraschenderweise auch 61 Jahre nach dem Untergang des
"Dritten Reiches" eine Organisationsgeschichte der NSDAP, gibt es keine
große wissenschaftliche Darstellung der Reichshauptstadt unter dem
Nationalsozialismus, wurden die vielen hundert Hitler-Paraphrasen, die
Goebbels überliefert, bisher nicht ausgewertet.
Die Goebbels-"Tagebücher", die weltweit in jeder ernstzunehmenden
Fachbibliothek stehen, sind eine ständige Herausforderung. Hier spricht
der Meisterpropagandist, der haßerfüllte Antisemit und der
Hitler-Bewunderer. Man kann und sollte die 29 Bände der Edition daher
nicht als Steinbruch für eindrucksvolle Zitate mißbrauchen. Wer aber
ihren diffizilen Charakter als Quelle im Hinterkopf behält, dem
eröffnen die täglichen Aufzeichnungen des Doktor Joseph G. neue
Horizonte der zeitgeschichtlichen Forschung.
Elke
Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. K. G. Saur Verlag
Teil 1: Aufzeichnungen 1923-1941. München 1997-2006. 14 Bde., 5591
Seiten, 1050 Euro. Teil 2: Diktate 1941-1945. München 1993-1996. 15
Bde. 9337 Seiten, 1020 Euro.
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