Gestrandet im Himalaya

von Klemens Ludwig

(Frankfurter Rundschau, 11.01.2005)

Hunderte von Tibetern bleiben auf ihrem beschwerlichen Weg nach Indien in einem überfüllten Lager in den Bergen Nepals hängen - im Winter kommen besonders viele

Den Mann scheint nichts aus der Fassung zu bringen. "Nein, nein, kein Grund zur Sorge, es gab schon schwierigere Zeiten", wehrt Londrup Dorjee ab, wenn westliche Besucher mit wachsendem Unbehagen das "Tibetan Reception Centre" (TRC) in Kathmandu besichtigen. Die Auffangstelle für tibetische Flüchtlinge in Nepal ist Hoffnung für Tausende, doch auf den ersten Blick erscheint sie nur hoffnungslos überfüllt.

"Wir wollen uns nicht beklagen. Die Kooperation mit den Behörden klappt, wir werden unsere Herausforderungen meistern." So unprätentiös wie der Leiter des TRC klingt, so erscheint er auch, ein untersetzter Mann mit kräftigen Händen. An einen vergeistigten Buddhisten denkt man nicht, wenn man Londrup Dorjee trifft. Lange ist er noch nicht in diesem Amt, doch da er bereits andere Positionen in der tibetischen Exilverwaltung innehatte und auch für das Büro des Dalai Lama in Nepal tätig war, wusste er, was auf ihn zukam.

Dabei liegt das Lager ausgesprochen idyllisch. Um es zu erreichen, führt der Weg aus dem Lärm und Gestank von Kathmandu hinaus in die Berge. 1991 wurde dort ein geräumiges Gebäude errichtet, das der Endpunkt der Flucht für all die Tibeter werden sollte, die der chinesischen Besetzung ihrer Heimat entrinnen wollen. 150 Personen umfasst seine normale Kapazität - viel zu wenig, wie sich bald herausstellen sollte.

Von einem Bett in einem der Schlafsäle können die Neuankömmlinge nur träumen. Die meisten müssen sich mit einen Matratzenplatz im großen Versammlungssaal begnügen; von Rückzugsraum keine Spur. Mit 750 Flüchtlingen ist das Gebäude fünffach überbelegt, doch Londrup Dorjee bringt das nicht aus der Fassung. "Besonders schwierig wird es, wenn der Winter zu Ende geht. Zu der Zeit beherbergen wir bis zu 1300 Flüchtlinge, denn der Winter ist aufgrund der festen Schneedecke die beste Zeit für die Flucht. Sogar der Speisesaal und die Garagen werden dann zu Schlafsälen umfunktioniert", meint er lachend. Da hilft tatsächlich nur die buddhistische Gelassenheit, verbunden mit praktischem Geschick.

"Im Moment ist es etwas schwierig", räumt er ein, "weil Indien die Einreiseformalitäten geändert hat, aber das meistern wir", fügt er sogleich hinzu. Tatsächlich trägt letztlich Indien die Verantwortung für die Flüchtlinge. Die meisten wollen weiter nach Dharamsala, dem Sitz des Dalai Lama. Da auch dort die Kapazitäten erschöpft sind, wird sich der Wunsch für die Wenigsten erfüllen. Die nächste Station ihrer Flucht ist Delhi. Dort bekommen sie eine neue Heimat zugewiesen. Damit in Indien weniger Formalien zu erledigen sind, stellen die indischen Behörden den Neuankömmlingen bereits in Kathmandu ihre Flüchtlingspapiere aus - nach eingehender Befragung. Einen einzigen Emigrationsbeamten hat die indische Botschaft für etwa 2500 Flüchtlinge im Jahr abgestellt; bis zu sechs Monaten dauert das Prozedere. Und solange sie keine Papiere haben, müssen die Flüchtlinge im TRC ausharren.

Repressionen im Alltag

In Nepal darf niemand von ihnen bleiben. Das kleine Himalaya-Königreich ist nur Durchgangsstation; noch dazu eine, die immer gefährlicher wird. In alltäglichen Dingen spüren die Tibeter den rauen Wind, der ihnen entgegenweht. Der junge Ngawang, der vor zwei Monaten im Reception Centre angekommen ist, hat seine Erfahrungen damit gemacht. "Wir waren so erleichtert, es endlich geschafft zu haben; die ständige Angst vor den chinesischen Truppen, die Entbehrungen auf den langen Nachtmärschen durch Eis und Schnee - all das lag hinter uns, und natürlich wollten wir Buddha und den Göttern danken." Was lag näher, als dafür einen der heiligsten Orte des Buddhismus in Nepal aufzusuchen, die Swayambhunath-Stupa?

Der für Buddhisten wie Hindus gleichermaßen wichtige Komplex überragt mit seiner goldenen Spitze nicht nur die nepalesische Hauptstadt; er liegt auch unmittelbar oberhalb des TRC. Ngawang war gewarnt worden, dass der Besuch des Heiligtums für Flüchtlinge verboten sei, weil sie sich nur in unmittelbarer Umgebung des TRC aufhalten dürfen. "Wir dachten uns aber, was soll schlimm daran sein, eine Stupa zu besuchen? Außerdem konnten wir uns gar nicht vorstellen, wie sie uns unter all den Pilgern identifizieren wollen. Wir waren eben sehr unbedarft", erinnert er sich heute.

Das wurde ihm zum Verhängnis. Ein nepalesischer Polizist sprach Ngawang und anderen an, mit denen er unterwegs war - und als niemand etwas verstand, wusste er sofort, dass er Flüchtlinge vor sich hatte. "Das ist die Strategie der Polizei. Sie erkennen die Flüchtlinge an ihrem Auftreten in der Gruppe und ihrem unsicheren Verhalten. Wenn sie kein Wort Nepali können, sind sie überführt", ergänzt Londup Dorjee.

Eine Nacht mussten Ngawang und seine Freunde im Gefängnis verbringen, dann kaufte das Reception Center sie frei. Die Geldstrafen, die für einen "illegalen Aufenthalt außerhalb des Reception Centers" verhängt werden, halten sich mit umgerechnet etwa vier Euro in Grenzen. Doch auch das ist für Menschen mit sehr wenig Geld teuer genug. Ärger dieser Art ist Londup Dorjee gewohnt und er nimmt ihn einmal mehr gelassen hin, denn er mag seine Schützlinge nicht dafür tadeln, dass sie eine große Sehnsucht danach spüren, die zum Greifen nahe Swayambhunath-Stupa aufzusuchen.

Pekings langer Arm

Weniger Anlass zur Gelassenheit gibt die geopolitische Situation, die sich zusehends gegen die Flüchtlingen wendet. Um sich aus der Abhängigkeit des übermächtigen indischen Nachbarn zu lösen, bemüht sich Nepal um eine Annäherung an die Volksrepublik China. Den Herrschern in Peking kommen derartige Avancen sehr gelegen; sehen sie darin doch eine Möglichkeit, ihren Einfluss nach Süden auszudehnen und vielleicht sogar den Zulauf an tibetischen Flüchtlingen zu stoppen. Diese Bewegung ist Peking schon lange ein Dorn im Auge, denn jeder, der die gefährliche Flucht über das Himalaya-Zentralmassiv schafft, ist eine lebende Anklage gegen die chinesische Tibet-Politik. Korrupte nepalesische Grenzpolizisten, die von ihren chinesischen Kollegen ein stattliches Kopfgeld für gefangene und ausgelieferte Tibeter bekommen, tun ihr übriges, um den Flüchtlingen selbst nach Verlassen des chinesischen Hoheitsgebietes das Leben schwer zu machen. Für internationales Aufsehen sorgte die Auslieferung von 18 Flüchtlingen im Frühsommer 2003, die bereits Kathmandu erreicht hatten. Unverblümt arbeiteten die nepalesische Behörden dabei mit der chinesischen Botschaft zusammen. Die Aktion hatte heftige Proteste westlicher Staaten zur Folge, die sogar mit einer Kürzung der Finanzhilfe drohten; es blieb deshalb - vorerst - bei diesem Einzelfall.

Dennoch weiß niemand so recht wie es weitergeht, denn China erhöht den Druck auf Nepal ganz unverblümt. Der chinesische Botschafter in Nepal, Sun Heping, bezeichnet die tibetischen Flüchtlinge als "Kriminelle, die im Namen der Religion anti-chinesische Aktivitäten in Nepal durchführen". Zudem hat er Nepals Regierung offen zu einer weiteren Beschränkung von deren Freiheiten aufgerufen. Londup Dorjee möchte das nicht kommentieren. Aber an diesem Punkt ist auch seine Gelassenheit einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt.


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heim zu Lügen haben schöne Beine